Den Sozialstaat 2022 progressiv weiterentwickeln: 7 Wegweiser für eine Sozialpolitik des gesellschaftlichen Fortschritts

08. Februar 2022

Österreich steht am Scheideweg in der Frage, wie der Sozialstaat weiterentwickelt wird. Die Pandemie hat sich längst zu einer sozialen Krise ausgeweitet, in der gesellschaftliche Ungleichheiten stärker sichtbar wurden. Österreichs Sozialstaat hat die Krise teils merklich abgefedert, doch er muss progressiv weiterentwickelt werden und sich von neokonservativen Rückschritten vergangener Jahre entschieden emanzipieren. 2022 gilt es also, akute soziale Probleme anzugehen und die Weichen in Richtung gesellschaftlichen Fortschritts zu stellen.

Weichenstellungen in Richtung gesellschaftlichen Fortschritts notwendig

Die gute Nachricht vorweg: Der Sozialstaat hat mit einer historisch hohen Sozialquote viele der sozialen Verwerfungen der Pandemie spürbar eingedämmt. Gleichzeitig wurden aber auch Lücken in der sozialstaatlichen Absicherung stärker sichtbar, und die neu eingeführten Ad-hoc-Maßnahmen im Rahmen der Bekämpfung der Folgen der Corona-Krise, waren teils nur Einmalzahlungen und bedeuten keine langfristigen Weichenstellungen.

Diese sind aber vor dem Hintergrund massiver sozialpolitischer Herausforderungen dringend notwendig. Es stehen umfassende Weichenstellungen an, wie etwa die Notwendigkeit einer sozial-ökologischen Transformation. In vielen elementaren Lebensbereichen gibt es eine Neuakzentuierung der sozialen Frage – von Bildungsvererbung über Wohnen bis hin zu drastischen Unterschieden in der Lebenserwartung. Und es gilt, Fehlentscheidungen neokonservativer und neoliberaler Sozialpolitik zu revidieren, die ebenso wie Nicht-Handeln hohe gesellschaftliche Kosten erzeugen.

Anhand welcher Kriterien lässt sich erkennen, ob sich Österreichs Sozialpolitik fortan strukturell in Richtung gesellschaftlichen Fortschritts ausrichtet? Welche Optionen gibt es, die kurz- und langfristig den sozialen Zusammenhalt in Österreich fördern? Im Folgenden wollen wir aus unserer Sicht erfolgversprechende und kohärente Leitlinien skizzieren und damit einen Beitrag für eine Debatte leisten, die dringend an Fahrt aufnehmen sollte.

2022 startet mit akuten sozialpolitischen Handlungsnotwendigkeiten

Das Jahr 2022 beginnt mit vielfältigen sozialen Problemlagen, die dringend wirksame Antworten erfordern, wie mehrere Indikatoren deutlich zeigen:

  • Die Arbeitsmarktchancen sind und bleiben insgesamt nach wie vor sehr ungleich verteilt: Beschäftigte mit Migrationshintergrund arbeiten oft in systemrelevanten Berufen, erfahren aber zu wenig Respekt und Anerkennung dafür. Frauen leisten noch immer den Löwinnenanteil der unbezahlten Arbeit, im Erwerbsleben sind sie mit einem extrem hohen Gender-Pay-Gap von knapp 20 Prozent konfrontiert. Die Langzeitarbeitslosigkeit ist in den letzten beiden Jahren stark gestiegen, und ältere Arbeitnehmer:innen finden äußerst schwierige Rahmenbedingungen vor.
  • Trotz des Rückgangs der Arbeitslosigkeit lag die Zahl der Arbeitsuchenden 2021 um rund 40.000 über dem Vorkrisenniveau 2019 und damit auch um etwa 140.000 höher als vor Ausbruch der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008. Falsche politische Prioritäten – in Österreich und Europa – wirken demnach bis heute negativ nach.
  • Die psychische Belastung durch die Corona-Krise ist ein breites gesellschaftliches Phänomen geworden: Während es laut dem SORA-Demokratiemonitor 2021 im oberen Einkommensdrittel 23 Prozent sind, so geben im untersten Einkommensdrittel 59 Prozent an, dass sich ihre psychische Gesundheit während der Pandemie verschlechtert habe.
  • Auch „Erben“ macht – pandemieunabhängig – oft noch einen erheblichen Unterschied im Leben – von der Ausbildung bis zu den Wohnmöglichkeiten sind die Lebensrealitäten noch sehr stark vom verfügbaren (Human-/Sozial-/Finanz-)Kapital in der Familie abhängig.

Diese Liste sozialer Schieflagen ließe sich wohl beliebig fortsetzen und ist zudem auch Ausdruck von verpassten ambitionierten Weichenstellungen in der Vergangenheit – also bereits vor Ausbruch der Pandemie. Nichtsdestotrotz: Wir sollten die „Krisenbewältigung“ als ein neuerliches wesentliches Zeitfenster sehen, das es zu nutzen gilt. Neben effektiven Lösungen für akute soziale Probleme sind nun langfristige Denkhorizonte und zukunftsgerichtete soziale Weichenstellungen gefragt.

Abfedernde Wirkungen durch Sozialstaat in der Krise – darauf kann aufgebaut werden

Der Sozialstaat in Österreich ist im Wesentlichen breit ausgebaut. Seine umfassenden Leistungen tragen viel zur Umverteilung der Markteinkommen und zur Armutsvermeidung bei. Mehrere Kriseninstrumente – vor allem die Corona-Kurzarbeit und andere sozialpartnerschaftliche Lösungen – haben sich erneut bewährt, da auf Erfahrung und funktionierende Strukturen aufgebaut werden konnte.

Insgesamt liegt aber bei der sozialen Absicherung hierzulande der Fokus nach wie vor auf – oft vom aktiven Erwerbseinkommen abgeleiteten – Geldleistungen, Ausbaupotenziale gibt es unter anderem im Bereich der sozialen Infrastruktur (von der Elementarbildung bis zur Pflege). Dass die Mittelaufbringung für die soziale Absicherung in Österreich mehr Fairness und Gerechtigkeit braucht, ist angesichts des niedrigen Beitrags aus vermögensbezogenen Abgaben augenscheinlich.

Auch die Lücken im bestehenden System sollten nicht beschönigt werden: Diese reichen von der zu geringen Absicherung durch ein im europäischen Vergleich niedriges Arbeitslosengeld über die hohe Belastung von Alleinerzieherinnen, Versorgungslücken bei der medizinischen und beruflichen Rehabilitation bis hin zu mangelnder Unterstützung für Solo-Selbstständige.

Von der sozial-ökologischen Transformation bis zur Neuverteilung der Arbeit: Weitreichende Konzepte gefragt

Während es also notwendig ist, den Sozialstaat progressiv weiterzuentwickeln, steuerte Österreichs Sozialpolitik in der jüngeren Vergangenheit oftmals in die rückwärtsgewandte Gegenrichtung: So wurden negative Vorurteile gegenüber Armutsbetroffenen, Arbeitsuchenden und Schutzsuchenden bewusst geschürt, die Höchstarbeitszeit auf 12 Stunden erhöht und eine höhere Bildungsmobilität verhindert. Selbst in den Sozialversicherungen, in denen nur Arbeitnehmer:innen versichert sind, haben nunmehr Arbeitgebervertreter:innen das Sagen. Die Kürzungen bei der Sozialhilfe treffen Familien mit mehreren Kindern besonders hart. Frauenpolitisch sind die letzten Jahre wohl als besonders „bittere Jahre“ zu bewerten. Anstatt auf den gleichstellungsfördernden Ausbau des Angebots an Kinderbetreuung und professionellen Pflegeeinrichtungen zu setzen, wurden mit dem Familienbonus besser verdienende Haushalte begünstigt. In vielen Bereichen ist sozialpolitischer Fortschritt also schlichtweg nicht gegeben – im Gegenteil: Es wurde vielfach „Sackgassen“-Politik zulasten breiter Teile der Gesellschaft betrieben!

Dieser umgesetzte Neokonservatismus ist aber alles andere als alternativlos. So könnte jede Bundesregierung bereits auf international etablierte Konzepte und progressive Debattenstränge aufbauen: Schließlich fordern immer mehr Stimmen in der wissenschaftlichen und politischen Debatte dazu auf, „bei der Gestaltung der Politik die Menschen und ihr Wohlergehen in den Mittelpunkt zu stellen“, wie es etwa ein Dokument des Rats der EU ausdrückt. Dazu zählt auch die OECD, die in einem aktuellen Bericht über die Auswirkungen der Pandemie auf gesellschaftliches Wohlergehen vor einer Rückkehr der Regierungen zum „business as usual“ von vor der Krise warnt. Unter den Begriffen „Just Transition“ und „sozial-ökologische Transformation“ wird zudem seit Jahren intensiv darüber diskutiert, dass der dringend notwendige Übergang in eine klimaneutrale Wirtschaft in einer sozial gerechten Weise erfolgen muss. Vor dem Hintergrund der Corona-Krise wurden darüber hinaus die Debatten darüber, welche negativen Auswirkungen gesellschaftliche Ungleichheit hat und wie bezahlte und unbezahlte Arbeit neu bewertet und verteilt werden kann, zu noch drängenderen Fragen.

7 Kriterien als Wegweiser für einen sozialpolitischen „Kompass für gesellschaftlichen Fortschritt“

Die österreichische Bundesregierung sollte dringend wieder einen substanziellen Sozialbericht vorlegen – eine auf fundierten Daten aufbauende Analyse der sozialen Problem- und Schieflagen. Und: Es gilt, rasch eine fortschrittliche Sozialpolitik in den Mittelpunkt zu rücken und in partizipativen Prozessen Gesamtkonzepte zu entwerfen, die die richtigen Weichen einschlagen.

Dekoratives Bild © A&W Blog
© A&W Blog

Als Beitrag für diese notwendige Debatte schlagen wir unmittelbar sieben Kriterien vor, denen eine Neuausrichtung der Sozialpolitik in Österreich gerecht werden sollte. In jedem dieser Felder sind sowohl akute Problemlösungen als auch mittel- bis langfristige Zukunftskonzepte dringend notwendig. Anhand dieses sozialpolitischen „Kompasses für gesellschaftlichen Fortschritt“ gehen Maßnahmen und Entwicklungen dann in die richtige Richtung, wenn sie zu einem Sozialstaat beitragen, der …

  • … die sozial-ökologische Transformation des Wirtschaftsmodells unterstützt

Der Sozialstaat muss zu einem zentralen Eckpfeiler des Übergangs zu einer klimaneutralen und sozial gerechten Wirtschaftsweise werden. Als unmittelbare Schritte in Richtung dieses Ziels gilt es in Arbeitsplätze mit guten Arbeitsbedingungen in der sozialen (Bildung, Gesundheit, Pflege etc.) und ökologischen (erneuerbare Energien etc.) Infrastruktur zu investieren. Angebote an Qualifizierung und Weiterbildung müssen ausgeweitet werden, und es gilt, Rechtsansprüche für Beschäftigte und Arbeitsuchende auf Aus- und Weiterbildung und ein Qualifizierungsgeld einzuführen, damit diese Angebote auch effektiv genutzt werden können. Für Langzeitarbeitslose muss eine Jobgarantie umgesetzt werden.

  • … die gesellschaftliche Ungleichheit abbaut

Ein progressiv weiterentwickelter Sozialstaat muss die gesellschaftliche Ungleichheit massiv verringern, was nicht nur Vermögen und Einkommen, sondern auch Machtressourcen einschließt. Als erste Maßnahmen in diese Richtung müssen nun akut Arbeitslosengeld und Notstandshilfe deutlich erhöht werden und vermögensbezogene Steuern viel stärker zur Finanzierung des Gemeinwohls beitragen. Starke kollektivvertragliche Lohnabschlüsse müssen die Realeinkommen der Beschäftigten – insbesondere mit niedrigen Einkommen – erhöhen.

  • … die Gleichstellung zwischen den Geschlechtern sicherstellt

Eine fortschrittliche Sozialpolitik muss sicherstellen, dass effektive Gleichstellung zwischen den Geschlechtern endlich zur Realität wird. Als unmittelbar anstehende Schritte gilt es zu erreichen, dass deutlich mehr Väter in Karenz gehen, Kinderbetreuungsplätze und Ganztagsschulen massiv ausgebaut werden und Einkommenstransparenz effektiv verstärkt wird. Österreichs Bundesregierung sollte sich bei den Verhandlungen innerhalb der EU um die Lohntransparenz-Richtlinie für einen fortschrittlichen Gesetzestext einsetzen.

  • … Arbeitnehmer:innen Druck nimmt und Gestaltungsmöglichkeiten gibt

Ein Sozialstaat des gesellschaftlichen Fortschritts muss den immensen Druck in der Arbeitswelt reduzieren und die Voraussetzungen für gute Arbeitsbedingungen schaffen – auch durch mehr Rechte für die Beschäftigten, ihre Arbeitsrealitäten mitzugestalten. Perspektivisch sollte das Modell einer „,kurze[n] Vollzeit‘ für alle mit Ausgleich beim Lohn und beim Personal“ angesteuert werden. Bereits 2022 sollte das 12-Stunden-Tag-Gesetz zurückgenommen, die Solidaritätsprämie für betriebliche Arbeitszeitverkürzung erweitert und die 6. Urlaubswoche leichter erreichbar gemacht werden. Zudem gilt es unmittelbar, prekäre Beschäftigung zu bekämpfen, belastende Arbeitsbedingungen zu verbessern sowie Lohn- und Sozialdumping wirksam einzudämmen.

  • … in prekären Lebenslagen hilft und Unsicherheit nimmt

Österreichs Sozialstaat muss wirksame Unterstützung leisten, wenn prekäre Lebenslagen eintreten. Und das als Schutzanker in Form starker sozialer Rechte, ohne Menschen durch schikanösen Disziplinierungsdruck zu entmutigen. Unmittelbar muss die Sozialhilfe auf ein Niveau aufgestockt werden, das wirksam vor Armut schützt, und ein umfassendes Maßnahmenpaket zur Bekämpfung von Kinderarmut beschlossen werden. Prekär Beschäftigte und viele Solo-Selbstständige brauchen rasch bessere soziale Absicherung.

  • … Teilhabe in der Gesellschaft fördert

Ein fortschrittlicher Sozialstaat muss eine Vielfalt öffentlicher Güter und Dienstleistungen bereitstellen, die es allen ermöglichen, am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Barrieren für Menschen mit Behinderung müssen beseitigt und sämtliche Formen von Diskriminierung wirksam bekämpft werden. Bereits in diesem Jahr sollten in mindestens zehn österreichischen Pilotgemeinden über Bürger:innenbeteiligung wichtige soziale, kulturelle, öffentliche Dienstleistungsbedarfe identifiziert werden, die im Rahmen des arbeitsmarktpolitischen Ansatzes der „Arbeitsplatzgarantie“ (Vorbild: Projekt MAGMA) bereitgestellt werden sollen.

  • … gesellschaftliche Ressourcen und Resilienz stärkt und Solidarität fördert

Der Sozialstaat der Zukunft muss die Ressourcen für ein solidarisches Miteinander und für sozialen Zusammenhalt stärken – das schafft gesellschaftliche Resilienz in einer Krise. Als akut notwendige Schritte muss der Arbeitsdruck in systemrelevanten Berufen reduziert und beispielsweise das Gesundheits- und Pflegepersonal massiv aufgestockt werden. Öffentliche Daseinsvorsorge – von leistbarer Energie bis hin zu Kultureinrichtungen – muss gestärkt werden. In der Debatte um die Änderung der EU-Fiskalregeln muss sich die österreichische Regierung konsequenterweise für weitreichende Reformen einsetzen, die Budgetspielräume für Zukunftsinvestitionen ermöglichen.

Eines ist klar: Es gilt, keine Zeit zu verlieren. Österreichs Sozialpolitik muss rasch neue Wege einschlagen – bei der Lösung der vielen sozialen Probleme heute und beim Ansteuern von gesellschaftlichem Fortschritt in der Zukunft.

Creative-Commons-Lizenz CC BY-SA 4.0: Dieser Beitrag ist unter einer Creative-Commons-Lizenz vom Typ Namensnennung - Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International zugänglich. Um eine Kopie dieser Lizenz einzusehen, konsultieren Sie http://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/. Weitere Informationen https://awblog.at/ueberdiesenblog/open-access-zielsetzung-und-verwendung