Unfreiwillige Erwerbsarbeitslosigkeit (im Folgenden nur Arbeitslosigkeit) ist mit vielen Vorurteilen behaftet, die den Betroffenen eine angeblich fehlende Motivation und ein Nutznießen unterstellen. Obwohl diese Vorurteile leicht zu widerlegen sind, halten Politiker*innen und Vertreter*innen der Medien an der neoliberalen Vorstellung der Individualschuld an Arbeitslosigkeit fest. Dabei zeigt sich, dass Arbeitslosigkeit vor allem strukturelle Ursachen hat und damit der Übernahme politischer Verantwortung bedarf.
Wer sind „die Arbeitslosen“?
„Die Arbeitslosen“ gibt es nicht. Vielmehr sind Erfahrungen mit Arbeitslosigkeit stark voneinander verschieden und sehr individuell. Arbeitslose Personen unterscheiden sich unter anderem hinsichtlich ihrer Ausbildung, der Berufe, die sie in ihrem Leben ausgeübt haben, der Positionen, die sie bekleidet haben, der Branche, ihres Einkommens, aber auch ihrer Familiensituation oder ihres Alters. Sie haben unterschiedliche Interessen und politische Ansichten. Auch die konkreten Gründe für die Arbeitslosigkeit sind nicht immer gleich.
Leben Arbeitslose auf „unsere“ Kosten?
Ein häufiges Vorurteil gegenüber arbeitslosen Personen ist, dass sie auf Kosten der arbeitenden Bevölkerung leben würden. Grundsätzlich ist die Arbeitslosenversicherung jedoch eine Leistung für alle Versicherten. Die Betroffenen haben über einen längeren Zeitraum in die Arbeitslosenversicherung ihre Beiträge eingezahlt und somit einen Anspruch auf diese Leistungen erworben. Dass Personen im Falle von Arbeitslosigkeit auch mehr herausbekommen, als sie eingezahlt haben, entspricht der Logik einer Versicherungsleistung, bei der die individuellen Risiken der Arbeitslosigkeit auf die Gemeinschaft aufgeteilt werden. Ansonsten müsste jede und jeder Einzelne für sich allein vorsorgen. Dabei kommt eine gut ausgestaltete Arbeitslosenversicherung auch jenen zugute, die niemals arbeitslos werden. Denn eine gute Versicherungsleistung verhindert, dass Arbeit zu schlechten Konditionen und niedrigen Löhnen akzeptiert werden muss, und stärkt somit die Verhandlungsmacht der Arbeitnehmer*innen.
Ist Arbeitslosigkeit selbst verschuldet?
Im öffentlichen Diskurs wird gerne behauptet, dass Arbeitslose ihre Situation selbst verschuldet hätten. Arbeitslose würden demnach häufig freiwillig auf einen Arbeitsplatz verzichten, um ihre freie Zeit zu maximieren. Tatsächlich sind Ursachen des Arbeitsplatzverlustes meist nicht im Einflussbereich der einzelnen Person zu finden. Vielmehr gilt: Arbeitslosigkeit kann jede und jeden treffen. Das wird in der aktuellen Arbeitsmarktlage rund um die Corona-Pandemie sehr deutlich, galt jedoch auch schon davor. Innerhalb des Jahres 2019 waren fast 900.000 Menschen zumindest einen Tag von Arbeitslosigkeit betroffen. So liegen die Gründe für Arbeitslosigkeit vor allem bei Unternehmen oder in der wirtschaftlichen Lage. Ein häufiges Phänomen ist die saisonale Arbeitslosigkeit, bei der die Arbeitnehmer*innen für die Monate, in denen ihre Unternehmen sie nicht benötigen und nicht bezahlen wollen, in der Arbeitslosenversicherung zwischengeparkt und später neu eingestellt werden. Das ist beispielsweise im Tourismus oder im Bauwesen oft der Fall. Auch durch Diskriminierung aufgrund bestimmter persönlicher und unbeeinflussbarer Merkmale, wie des Alters, des Gesundheitszustands oder des Migrationshintergrunds, wird Arbeitslosen der Zugang zum Arbeitsmarkt erschwert. Besonders Personen, die eine längere Zeit arbeitslos sind, haben mit Stigmatisierung zu kämpfen.
Kann jede arbeitslose Person, die will, Arbeit finden?
Im Jänner 2021 waren in Österreich insgesamt 535.470 Personen als arbeitslos oder in Schulungen beim AMS gemeldet, während es aber nur 58.347 sofort verfügbare offene Stellen gab. Es gibt also im Vergleich zur Anzahl arbeitsloser Personen schlicht nicht genügend Jobs. Dieses Verhältnis hat sich im Zuge der Arbeitsmarktkrise rund um die Corona-Pandemie noch einmal beträchtlich verschärft. So zeigen die Zahlen vom Jänner 2020, dass 420.701 beim AMS gemeldeten arbeitslosen Personen 71.582 offene Stellen gegenüberstanden. Davon, dass jede oder jeder, der oder die will, eine Arbeit findet, kann längst nicht die Rede sein.
Leidet bei einem hohen Arbeitslosengeld die Motivation, zu arbeiten?
Einige Menschen sind der Ansicht, dass bei einem ausreichenden Arbeitslosengeld kein Anreiz für Arbeitslose besteht, eine Arbeit aufzunehmen. Das Gehalt ist jedoch nicht der einzige Grund für arbeitslose Personen, eine Stelle anzutreten. So erfahren Personen, die von Arbeitslosigkeit betroffen sind, weniger Wertschätzung von anderen, haben weniger soziale Kontakte, oft verschlechtert sich der physische und psychische Gesundheitszustand, und die Lebensqualität sinkt merklich. Wieder in Beschäftigung zu gelangen wird dadurch erschwert, denn besonders die sozialen Kontakte helfen bei der Suche nach einer neuen Anstellung.
Ein zu geringes Arbeitslosengeld kann außerdem dazu führen, dass Jobs angenommen werden müssen, die der Ausbildung oder Qualifikation der arbeitslosen Person nicht entsprechen. Denn bereits nach 150 Tagen müssen Arbeitslose einen Job, der ihnen vom AMS vermittelt wird, auch dann annehmen, wenn sie eigentlich höher qualifiziert sind. Unter diesen verschärften Bedingungen werden ihre Fähigkeiten und Berufserfahrungen abgewertet. So geht der österreichischen Wirtschaft Expertise verloren.
Sollte das Arbeitslosengeld zur Motivation für die Arbeitssuche mit der Zeit sinken?
Der Vorschlag, in Österreich ein degressives Arbeitslosengeld einzuführen, geistert schon seit einiger Zeit herum und hat Anfang des Jahres erneut für Diskussionen gesorgt. Ein degressives, also mit der Zeit geringer werdendes Arbeitslosengeld soll höhere Anreize schaffen, ein Arbeitsverhältnis aufzunehmen. Doch bereits im aktuellen System gibt es eine solche Degression. In Österreich beträgt das Arbeitslosengeld in der Regel lediglich 55 Prozent des zuvor bezogenen Einkommens. Die anschließende Notstandshilfe sinkt auf 92 bis 95 Prozent des Arbeitslosengeldes. Und schließlich wird die Notstandshilfe nach einer gewissen Zeit (abhängig von Alter und wie lange ALV-Beiträge gezahlt wurden) bis auf den Ausgleichszulagenrichtsatz in Höhe von 966,65 Euro pro Monat (im Jahr 2020) heruntergedeckelt.
Im internationalen Vergleich liegt die Arbeitslosenversicherung in Österreich damit klar unter den Standards vergleichbar ausgebauter Wohlfahrtsstaaten. Beim Arbeitslosengeld beträgt die durchschnittliche Höhe des Tagessatzes nur 32,81 Euro und bei der Notstandshilfe 27,01 Euro.
Eine Studie des WIFO zur österreichischen Arbeitslosenversicherung zeigt auch, dass eine kürzere Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes kaum nennenswerte Beschäftigungseffekte mit sich bringt. Wie lange eine arbeitslose Person braucht, um eine neue Beschäftigung zu finden, hängt vielmehr mit dem Gehalt, der Qualität der Arbeitsstelle und der Ausbildung zusammen und nicht damit, dass das Arbeitslosengeld weniger wird.
Was ist zu tun?
All diese weit verbreiteten Vorurteile gegenüber arbeitslosen Personen halten einer genaueren Prüfung nicht stand. Arbeitslosigkeit vereinfachend auf individuelle Persönlichkeitsmerkmale und auf Freiwilligkeit zurückzuführen, lenkt davon ab, dass es dringend politischer Handlungen bedarf. Anstatt den Druck auf Arbeitslose, beispielsweise durch ein degressives Arbeitslosengeld, zu erhöhen, was in der Konsequenz vor allem den Billiglohnsektor stärkt, muss die Regierung endlich Verantwortung übernehmen.
- Die Nettoersatzrate der Arbeitslosenversicherung muss erhöht werden, um der Verarmung von arbeitslosen Personen und deren Familien entgegenzuwirken. Arbeitslose müssten so keine Jobs mit schlechten Arbeitsbedingungen akzeptieren, ihre Beschäftigung wäre dauerhafter und ihre Qualifikationen blieben der österreichischen Wirtschaft erhalten.
- Es gibt schlicht zu wenige Jobs. Nötig ist daher die staatliche Schaffung von Arbeitsplätzen, etwa durch Jobgarantien. Die Idee dahinter ist, dass es besser ist, Arbeitsstellen im öffentlichen oder gemeinnützigen Sektor anstelle des Arbeitslosengeldes zu finanzieren. Ein weiterer Ansatzpunkt ist die Verkürzung der Arbeitszeit. Durch die frei gewordenen Stunden können neue Arbeitsplätze geschaffen werden. Zeitgleich werden Arbeitnehmer*innen entlastet, mit positiven Auswirkungen auf die Gesundheit und die Work-Life-Balance.