Leben und Tod hängen an einem Faden der Solidarität: Reichen die Kapazitäten des Gesundheitssystems, um alle COVID-19-Erkrankten medizinisch zu versorgen? Bleiben dabei auch noch genug Ressourcen für die Behandlung anderer Erkrankungen? Können Pflegeheime geschützt werden? Werden Pflegebedürftige nicht vernachlässigt? In der Pandemie erfährt unser Land einen ungewollten Stresstest für den Sozialstaat.
Sparen bei der Gesundheit wäre grob fahrlässig
So rückt ein Wirtschaftsbereich in den Fokus, der für einige über Jahre als zu teuer, zu aufgebläht und als zu wenig effizient verurteilt wurde: unser Spitalswesen. Die Definition von Effizienz ist ein Kind der Zeit. Die Zahl der Intensiv- und Spitalsbetten gilt heute als wichtiger Wert eines Landes. Natürlich spricht nichts gegen Effizienzanalysen im Gesundheitssektor – im Gegenteil: Sie sind wichtig, denn die Länder können voneinander lernen. Doch die Pandemie zeigt deutlich, dass unser Gesundheitssystem nicht allein nach betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten beurteilt werden darf. Kurzfristig Kosten zu senken ist kein zukunftsfähiges Konzept. Intensivbetten, Beatmungsgeräte oder auch nur Schutzmasken müssen jederzeit ausreichend vorhanden sein. Österreich hat mit 29 Intensivbetten je 100.000 EinwohnerInnen mehr als dreimal so viele wie Italien. Was vor Corona als teures Überangebot gescholten wurde, erweist sich im Ernstfall als Segen.
Unser wichtigster Vorteil in der COVID-19-Pandemie ist der sozialstaatliche, solidarische Charakter des Gesundheitssystems: Alle sind krankenversichert, die Beiträge sind anteilig entsprechend dem Einkommen zu zahlen, und alle bekommen im Wesentlichen gute Leistungen. Kein Vergleich etwa mit den USA, die pro Kopf doppelt so viel für Gesundheit ausgeben wie Österreich. Trotzdem werden dort sehr viele Menschen ohne Krankenversicherung und entsprechende Versorgung zurückgelassen, während sich andere sündteure Behandlungen in Privatkliniken leisten. Hier wird offensichtlich: Der „Markt“ ist nicht in der Lage, allen Menschen den gleichen Zugang zu guter Gesundheitsversorgung zu ermöglichen.
Pflege: Privat oder gemeinschaftlich?
Das gilt genauso für die Pflege. Hier müssen öffentlich finanzierte mobile Dienste und Pflegeheime stärker ausgebaut sowie Arbeitsbedingungen und Anerkennung für Pflegekräfte verbessert werden.
- Die Arbeitsbelastung muss dringend reduziert und verbindliche Mindest-Personalschlüssel müssen festgelegt werden.
- Die Gehälter müssen der anspruchsvollen Tätigkeit entsprechen.
- Die von ÖVP und FPÖ durchgeführte Kürzung der Familienbeihilfe für die 24-Stunden-Pflegerinnen muss zurückgenommen werden.
Die Diskussion um die „Heldinnen und Helden der Arbeit der COVID-19-Krise“ hat vor Augen geführt, dass deren Bezahlung bei Weitem nicht ihrer Leistung entspricht.
Sozialstaat: wieder starker Auftritt
In der COVID-19-Krise sind die eingefleischten Neoliberalen, die sonst stets den Sozialstaat für überteuert und veraltet erklären, auffällig still. Einleuchtend, denn die Vorteile des Sozialstaates sind zu offensichtlich:
- Er bietet Unterstützung für jene, die Hilfe brauchen – Kranke, Arbeitslose, Kinder, Alte und Pflegebedürftige.
- Zweitens wird er von jenen finanziert, die gerade gesund und erwerbstätig sind.
- Die Verwaltungskosten sind im Vergleich zu privaten Systemen viel niedriger.
- Nicht zuletzt funktioniert der Sozialstaat auch dann, wenn er von sehr vielen gleichzeitig dringend gebraucht wird.
- Und das Wichtigste: Wir haben alle in unterschiedlichen Lebensphasen etwas davon.
Spaltung als gefährliche Strategie
Der Bedarf an mehr und umfassender Solidarität besteht zweifelsohne: In den letzten Jahren haben Tendenzen zur sprachlichen und auch tatsächlichen gesellschaftlichen Ausgrenzung stark zugenommen. Geflüchtete Menschen, von Armut Betroffene und Arbeitslose bekommen das besonders zu spüren. Bereits vor der Krise verschärfte sich das Ungleichgewicht zwischen Arm und Reich. Viele Menschen leben am Limit. Die Risse in der Gesellschaft zwischen den Gruppen werden größer, und die politische Sprache befeuert das zusätzlich.
Nicht alle profitieren
Der Rückgang der Wirtschaftsleistung in Österreich um sieben Prozent, wie ihn das Wirtschaftsforschungsinstitut für 2020 erwartet, wäre verkraftbar, wären die wirtschaftlichen Lasten des Lockdowns nicht derart ungleich verteilt. Sie treffen unmittelbar vor allem
- Arbeitslose, die fast die Hälfte ihres Einkommens verlieren,
- Frauen, die unverhältnismäßig viele Aufgaben und Entbehrungen schultern, und
- viele kleine Selbstständige, denen die Existenzgrundlage entzogen wird.
Die Kurzarbeit, durch die mehr als eine Million Menschen ihren Arbeitsplatz erhalten konnten, wie auch andere staatliche Hilfestellungen, sind vor allem eines: gemeinschaftlich finanziert! Doch nicht alle erhalten die notwendige Hilfe.
Einerseits müssen von Arbeitgebern vorschnell gekündigte Menschen nun mit 55 Prozent ihres letzten Lohnes auskommen und davon Miete, Strom, Essen, Schule, Kindergarten usw. bezahlen.
Andererseits wollen einige mit Staatsgeld noch schnell ein Schnäppchen machen. Der KTM-Chef und Parteispender Stefan Pierer, der seine Beschäftigten auf staatlich geförderte Kurzarbeit senden und sich selbst zugleich eine Dividende in Höhe von 3,5 Millionen Euro ausschütten wollte, wird dafür in ewiger Erinnerung bleiben. Wer kann das für gerecht halten?
Strenge Bedingungen für Hilfsgelder (z. B. Verbot von Ausschüttungen oder Boni für das Management) sind ebenso notwendig wie volle Transparenz in Bezug darauf, an welche Unternehmen Steuermittel in welcher Höhe fließen.
Aus Krisenarbeitslosigkeit keine Langzeitarbeitslosigkeit machen
Die Zahl der Arbeitslosen liegt heuer wohl um mehr als 100.000 Personen höher als im Vorjahr. Damit dem wirtschaftlichen nicht unmittelbar auch ein sozialer Lockdown folgt, sollen den Arbeitssuchenden so rasch wie möglich wieder gute Jobs und passende Ausbildungswege offenstehen. Diese Angebote sollten sich an den sogenannten drei D – Demografie, Digitalisierung und Dekarbonisierung – orientieren:
- von Umschulungen für den Gesundheits- und Pflegebereich und in andere Zukunftsbranchen bis hin zu
- gemeinnütziger Beschäftigung nach dem Vorbild der „Aktion 20.000“. Um die Zahl der Krisengeschädigten – insbesondere unter Älteren und Jugendlichen – zu verkleinern, wird es
- mehr Personal und ein höheres Budget für das Arbeitsmarktservice (AMS) brauchen.
Letztlich noch viel teurer – für Betroffene, Familien und Staatshaushalt – wäre es aber, wenn aus der Krisenarbeitslosigkeit eine Langzeitarbeitslosigkeit wird.
In Kinder und Klimaschutz investieren
Neben Arbeitslosen, Frauen und kleinen Selbstständigen tragen auch Schülerinnen und Schüler aus benachteiligten Haushalten die „Kosten“ der Krise – möglicherweise über viele Jahre und Jahrzehnte. Monatelanges Fehlen ausreichender schulischer Betreuung lässt ihre Bildungsleistung ebenso wie ihre Berufschancen drastisch sinken. Die Schulen, die hier besonderen Bedarf haben, sind bekannt. Dort müssen unmittelbar auf Dauer angelegte Förderprogramme starten.
Es muss rasch in öffentlichen Verkehr, in erneuerbare Energien, Gebäudesanierung und Wohnbau investiert werden, um gegen die Klimakrise vorzugehen. Ein Segen, dass auch infolge der von konservativer Seite gerne kritisierten Politik der Europäischen Zentralbank die Zinskosten staatlicher Verschuldung negativ sind. Das entlastet den Staatshaushalt gewaltig.
Welche Gesellschaft wollen wir?
Wir stehen aber vor heftigen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen um die Verteilung der Lasten der COVID-19-Krise. Sollen tatsächlich Arbeitslose, kleine Selbstständige, Frauen, Kinder und Jugendliche die Hauptlast tragen, oder gelingt es der Gesellschaft, soziale Gruppen mit größeren finanziellen Möglichkeiten in steuerliche Verantwortung zu bringen?
Progressive Abgaben auf Vermögen und Erbschaften, Spitzeneinkommen und Dividenden mit einem Milliardenaufkommen können die notwendigen Zusatzleistungen für Gesundheit, Pflege, Armutsbekämpfung und Bildung finanzieren.
Ein effektiver Krisenlastenausgleich durch Vermögensabgaben ist umso erfolgreicher, je mehr Staaten zusammenarbeiten und das Ausweichen in Steuersümpfe verhindern. Das benötigt europäische Solidarität. Daran mangelt es jedoch bisher: Das kleinkarierte Gezerre um EU-Budget und EU-Krisenfonds, die populistische Trotzigkeit gegenüber den eindringlichen Hilferufen aus Rom und Madrid zeigt, wie stark es auch in Österreich mittlerweile an Kenntnis wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhänge mangelt.
Wir brauchen für die Bewältigung der COVID-19-Pandemie umfassende Solidarität: zwischen Gesunden und Kranken, Beschäftigten und Arbeitslosen, Jungen und Alten, Frauen und Männern, wirtschaftlich Starken und Schwachen, im Sozialstaat, aber auch über die nationalen Grenzen hinaus, mit den gesundheitlich am schwersten betroffenen Regionen der Welt ebenso wie mit den vergessenen Geflüchteten.
Dieser Beitrag ist eine leicht aktualisierte Version des Artikels „Wer soll das bezahlen? Wer hat so viel Geld?“, der in der Falterbeilage „Corona und wir. Die Pandemie und der Sozialstaat“, Nr. 40a/20, erschienen ist.