Die türkis-blaue Bundesregierung trat im Dezember 2017 mit dem Vorhaben an, Österreich tiefgreifend zu verändern. Nach nicht einmal zwei Jahren ist die Regierung bereits Geschichte, die türkis-blaue Politik hat jedoch bleibende Schäden hinterlassen. Eine Bilanz.
Der vor allem seitens des Bundeskanzlers großspurig proklamierte „neue Stil“ in der Politik entpuppte sich im politischen Alltag vor allem als Aufkündigung des sozialpartnerschaftlichen Dialogs. Nicht zu streiten bedeutete für die Regierung Kurz/Strache, sich Änderungen im Arbeits- und Sozialrecht, die zuvor immer mit den Gewerkschaften ausverhandelt wurden, einseitig von der Industrie diktieren zu lassen.
12-Stunden-Tag und 60-Stunden-Woche
Besonders augenscheinlich wurde der „neue Stil“ bei der Einführung des 12-Stunden-Tags und der 60-Stunden-Woche, die ohne Begutachtung und trotz massiver Proteste der Gewerkschaften umgesetzt wurden. Entgegen den Behauptungen von Türkis-Blau brachten die neuen Arbeitszeitregelungen keinerlei Verbesserung für die ArbeitnehmerInnen. Als großes Plus wurde etwa die vermeintliche Ermöglichung der 4-Tage-Woche betont, die freilich bereits zuvor gesetzlich verankert war und auf deren Durchsetzbarkeit ArbeitnehmerInnen auch weiterhin keinen Anspruch haben. Hinsichtlich der Überstundenausweitung wurde auf die im Gesetz angeführte Freiwilligkeit verwiesen. Eine solche Bestimmung ist in der Praxis jedoch erfahrungsgemäß nicht viel wert. Der Druck des Arbeitgebers und die Angst vor einem Arbeitsplatzverlust spielen bei der Leistung von Überstunden oftmals eine entscheidende Rolle, und es ist daher scheinheilig, von Freiwilligkeit zu sprechen.
Besonders folgenreich sind die neuen Bestimmungen für alle Beschäftigten mit Gleitzeit. Bei Gleitzeit kann nun fünfmal pro Woche bis zu zwölf Stunden gearbeitet werden. Im Gleitzeitkontext handelt es sich dabei im Regelfall um Normalarbeitszeit – auch bei der elften und zwölften Stunde. Es gibt also keine Zuschläge. Sehr lange Durchrechnungszeiträume können die ArbeitnehmerInnen hier um viel Geld bringen.
Die Änderungen im Arbeitszeit- und Arbeitsruhegesetz bedeuten in der Gesamtheit steigende Belastungen für die Gesundheit von ArbeitnehmerInnen. Es kann nun noch länger gearbeitet werden, Ruhezeiten können verkürzt werden, und Arbeit an Wochenenden und Feiertagen ist nun leichter möglich.
Erfolgreiche Selbstinszenierung
Die Wunschliste der Unternehmenslobbys, die ihren Weg in das Programm der türkis-blauen Regierung fand, ist lang: Senkung der Unternehmenssteuern (KöSt), Senkung der Mehrwertsteuer in der Hotellerie, Abbau von ArbeitnehmerInnenschutzbestimmungen, Verkürzung der Altersteilzeit, Kürzungen bei der Arbeitsmarktpolitik, Änderungen im Mietrecht zugunsten der ImmobilieninvestorInnen, Zurückdrängung des Staates, Senkung der Arbeitgeberbeiträge und weniger effektive Kontrolle bei Lohndumping.
Von Beginn an legte die Koalition größtmögliches Augenmerk auf die Außendarstellung ihrer Arbeit: Die Inangriffnahme eines angeblich immensen Reformstaus sowie die Beendigung des behaupteten Stillstandes und der Abbau des „Schuldenberges“ in Verbindung mit dem Kampf gegen illegale Migration wurden dabei zu ihrem Mantra. Als die grundlegenden Probleme identifizierte die Regierung die hohen Staatsausgaben sowie ein überbordendes Maß an Regulierung und falsche Anreize des Sozialstaates. Dahinter steht die neoliberale Erzählung, die als Ursache aller Probleme den (Sozial-)Staat sieht.
Bezeichnend ist auch, was alles nicht im Fokus der Regierung stand: Die Schere zwischen Arm und Reich, die unfaire Verteilung des Steueraufkommens, Kinderarmut, die Einkommensunterschiede zwischen Männern und Frauen oder die Verbesserung der Arbeitsmarktchancen für ältere Arbeitslose waren kein Thema für Türkis und Blau. Im Gegenteil: Eine der ersten konkreten Maßnahmen der Bundesregierung war die handstreichartige Beendigung der „Aktion 20.000“, mit der ältere und schon länger arbeitsuchende Menschen Unterstützung bei der Jobsuche erhalten und Tätigkeiten bei Ländern und Gemeinden vermittelt bekommen haben.
Kürzungen bei benachteiligten Gruppen der Gesellschaft
Auch wenn es bei vielen Vorhaben aufgrund des abrupten Endes der Koalition bei Ankündigungen blieb, so zeigt sich unter dem Strich, dass bestimmte Gruppen, vor allem Besserverdienende und Großunternehmen, gut bedient wurden, während für andere massive Härten beschlossen bzw. vorbereitet wurden. Zu den VerliererInnen zählen neben MigrantInnen und AsylwerberInnen armutsgefährdete Menschen mit schlechteren Chancen am Arbeitsmarkt, ältere ArbeitnehmerInnen sowie junge Menschen, die eine Lehrausbildung in einer überbetrieblichen Ausbildungsstelle machten. Den dortigen Lehrlingen über 18 wurde nämlich das Lehrgeld von 753 Euro auf 325 Euro monatlich gekürzt.
Die zugunsten der Sozialhilfe neu beseitigte Mindestsicherung brachte für diese Gruppen, aber auch ganz generell für Familien mit mehreren Kindern gravierende Kürzungen. Das erste Kind erhält nun maximal 25 Prozent der Basisleistung, das zweite Kind 15 Prozent, das dritte und jedes weitere Kind erhält bloß noch 5 Prozent der Basisleistung, das sind nur rund 44 Euro pro Kind und Monat! Das zuvor geltende System der Mindestsicherung wurde durch die Sozialhilfe neu umgekehrt: Den Ländern sind nun Obergrenzen für die Höhe der Sozialhilfe vorgegeben, welche von diesen bloß unter-, nicht jedoch überschritten werden dürfen. Die Mindestsicherung ist damit faktisch zur „Maximalsicherung“ geworden.
Die im Regierungsprogramm geplante Integration der Notstandshilfe in die Sozialhilfe neu wurde dagegen nicht mehr umgesetzt. De facto hätte diese Maßnahme die Einführung von Hartz IV in Österreich bedeutet.
Während Unterstützungsleistungen für benachteiligte Personengruppen gekürzt und Anspruchsvoraussetzungen verschärft wurden, brachte der Familienbonus eine Verbesserung vor allem für Gutverdienende. Belohnt wird die Erwerbstätigkeit der Eltern; Kinder aus Familien, deren Eltern arbeitslos sind oder nur wenig verdienen, werden gar nicht bzw. nur wenig gefördert. Im Unterschied zur Familienbeihilfe, die dem Grundsatz „Jedes Kind ist gleich viel (an Förderung) wert“ folgt, gilt beim Familienbonus: Ein Kind ist umso mehr wert, je mehr die Eltern verdienen. Im Extremfall macht der Unterschied pro Kind 27.000 Euro (1.500 Euro mal 18, d. h. ein Unterschied von 1.500 Euro jährlich bis zum 18. Lebensjahr) aus! Das ist aus sozialpolitischer Sicht inakzeptabel, denn familienpolitische Leistungen sollen die Startchancen der Kinder verbessern bzw. den Mehraufwand kompensieren, den Eltern durch die Kinder haben.
Bewusste Spaltung der Gesellschaft
Bei ihren Attacken auf den Sozialstaat agierte die Regierung äußerst zielgenau und forcierte eine Neiddebatte gegen die untere Hälfte der Bevölkerung. Offen problematisiert wurden daher nur jene Sozialschutzbereiche, die nicht den Großteil der Bevölkerung absichern. Daher waren Pensionen kein Thema, sehr wohl aber Notstandshilfe und Mindestsicherung. Die Regierung kürzte bei jenen, die Hilfe am meisten benötigen, auch wenn der Einspareffekt für das Budget dabei vernachlässigbar blieb. Bestraft wurden jene, die schon benachteiligt sind. So eine Politik beruht auf der bewusst herbeigeführten Spaltung der Gesellschaft.
Reform der Sozialversicherung
Die Reform der österreichischen Sozialversicherung stellte für die türkis-blaue Regierung eines ihrer zentralen Projekte dar. In Verbindung mit der Zusammenlegung der Versicherungsträger wurden mehr Effizienz und bessere und gerechtere Leistungen für die Versicherten versprochen. Wie sie das Ziel erreichen wollte, eine Milliarde Euro an Einsparungen zu lukrieren – bei gleichzeitig besseren Leistungen und ohne Kündigungen –, konnte die Bundesregierung freilich nicht genauer erläutern. Bereits Realität ist die vollzogene politische Umfärbung in den Gremien der Sozialversicherung und die Entmachtung der ArbeitnehmerInnenvertreterInnen zugunsten der ArbeitgeberInnen. Außerdem werden dem Gesundheitssystem massiv Mittel entzogen.
2020 wird die Anzahl der Sozialversicherungen auf fünf reduziert. Die Gebietskrankenkassen werden zu einer Österreichischen Gesundheitskasse (ÖGK) zusammengelegt. In dieser haben die VertreterInnen der Versicherten keinen entscheidenden Einfluss mehr. Die ArbeitgeberInnen entsenden die Hälfte der VertreterInnen. Im neuen Dachverband aller Sozialversicherungsträger haben die ArbeitgeberInnen mit sechs zu vier Stimmen die Mehrheit.
Die Regierung hat angedroht, die AUVA gänzlich abzuschaffen. Durch Proteste der AUVA-BetriebsrätInnen und der Gewerkschaften konnte dies zwar verhindert werden. Die AUVA verliert jedoch durch eine Beitragssenkung 120 Millionen Euro. Diese gehen als Geschenk an die ArbeitgeberInnen, die nun weniger zahlen müssen.
Gefährdung effektiver Prüfung von Unterentlohnung
Die Prüfung der korrekten Beitragszahlung durch die ArbeitgeberInnen wird der Österreichischen Gesundheitskasse weggenommen und den Finanzämtern übertragen. Den Unternehmen ging es hier darum, eine effektive Kontrolle von Unterentlohnung und Scheinselbstständigkeit zu beseitigen. Die Sozialversicherung prüft nämlich nicht nur, ob für die bezahlten Löhne und Gehälter die Sozialversicherungsbeiträge entrichtet wurden. Es wird auch geprüft, ob man korrekt bezahlt wurde. Wenn ein Unternehmen seinen ArbeitnehmerInnen weniger zahlt, als ihnen laut Kollektivvertrag zusteht, muss es Beiträge nachzahlen. Wenn man dieses System ändert, kann dem Sozialstaat viel Geld entgehen.
Steuerreform
Die Steuerreform als weiteres Prestigeprojekt konnte von der Bundesregierung nicht mehr zum Abschluss gebracht werden. Der erste Teil dieses auf mehrere Jahre angelegten Maßnahmenpaketes ist erst in Begutachtung. Von der Steuerreform hätten die Großunternehmen überproportional profitiert, die auf Kosten der Allgemeinheit eine Steuersenkung von 1,5 Milliarden Euro bekommen hätten. Die Entlastung von ArbeitnehmerInnen und PensionistInnen wäre hingegen geringer ausgefallen als bei der letzten Steuerreform. Sowohl seitens der ÖVP wie auch der FPÖ wurde nach der Beendigung der Koalition wiederholt auf die „Erfolge“ der gemeinsamen Regierungsarbeit verwiesen und Bedauern darüber ausgedrückt, dass die eingeschlagenen Reformvorhaben und -projekte beendet werden mussten.
Weitere Pläne und Maßnahmen
Neben der Sozialversicherung wurde auch die Nationalbank politisch umgefärbt. Außerdem wollte die Regierung die Arbeiterkammer finanziell und politisch schwächen und die Betriebsratskörperschaften von ArbeiterInnen und Angestellten zusammenlegen, was zu einem Verlust an Mandaten und Freistellungen und damit auch einem Verlust an Qualität in der Belegschaftsvertretung geführt hätte. Vom Ansinnen, die Jugendvertrauensräte abzuschaffen, rückte die Regierung nach Protesten wieder ab.
Verschlechterungen gab es bei der Altersteilzeit. 2018 hat die Bundesregierung durch eine kurzfristige Anhebung des Mindestalters den Zugang zur Altersteilzeit abrupt eingeschränkt. Während zuvor eine Altersteilzeitvereinbarung sieben Jahre vor Erreichung des Regelpensionsalters abgeschlossen werden konnte, wurde dieser Zeitraum schon ab 2019 zunächst auf sechs Jahre verkürzt, ab 2020 wird eine Altersteilzeitvereinbarung maximal fünf Jahre andauern können.
Bei der Pflege konnte sich die Regierung auf keine konkreten Maßnahmen einigen. Bis 2021 besteht noch der aus Steuermitteln finanzierte Pflegefonds, aus welchem die stark steigenden Kosten der Länder und Gemeinden zur Finanzierung der Pflege kompensiert werden sollen. Es blieb lediglich bei einem vagen „Masterplan“, der allerdings ein Bekenntnis zur Steuerfinanzierung enthielt. Mittlerweile hat die ÖVP einen Vorstoß für die Einführung einer Pflegeversicherung als weitere Säule innerhalb der Sozialversicherung unternommen und in Verbindung damit eine Finanzierung aus Mitteln der AUVA in den Raum gestellt. Wie sich das bei einem Gesamtbudget der AUVA von 1,45 Milliarden Euro und dem gleichzeitig bestehenden öffentlichen Aufwand für den Pflegebereich von jährlich 5 Milliarden Euro ausgehen soll, kann wohl niemand nachvollziehen.
Die kurze Regierungsperiode fiel in eine wirtschaftlich äußerst gute Situation: Das Wirtschaftswachstum erreichte 2018 seinen Höhepunkt im Rahmen des derzeitigen Konjunkturzyklus, die Arbeitslosigkeit ging zurück, die Steuereinnahmen stiegen an, und die Zinsen für die Staatsschulden waren sehr gering. Dieses Umfeld unterstützte die öffentlichen Finanzen, sodass trotz einiger Steuersenkungen im Jahr 2018 kein Defizit gemacht wurde. Die Regierung behauptete zwar unablässig, dass sie es gewesen sei, die erstmals mit der Politik des Schuldenmachens aufgehört habe. Die Budgetentwicklung ist aber auf die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen zurückzuführen. Um die gute Konjunktur bereinigt, also in einer „normalen Konjunktursituation“, ergäbe sich ein Budgetdefizit.
Fazit
Die Regierung Kurz/Strache hat ein Programm verfolgt, das auf einen neoliberalen Umbau der Gesellschaft abzielte. So haben Wirtschaftskammer, Industriellenvereinigung und Immobilienwirtschaft nicht nur ihre Forderungen im Regierungsprogramm verankern, sondern auch ihren Einflussbereich ausweiten können. Demgegenüber wurden etwa im Bereich der Arbeitszeiten Rechte der ArbeitnehmerInnen abgebaut, und die Regierung zielte auf eine Schwächung von Arbeiterkammern und BetriebsrätInnen. Sozialer Schutz und Unterstützung wurde denen entzogen, die dies am dringendsten benötigen: Armutsgefährdete, AsylwerberInnen und -berechtigte, ältere Arbeitssuchende und Jugendliche ohne betriebliche Lehrstelle. Das vorzeitige Ende der Regierung ist auch eine Chance für eine Kurskorrektur.
Dieser Artikel ist eine leicht überarbeitete Fassung eines Beitrags, der am 5.7.2019 auf „Kompetenz Online“ erschienen ist.