Die 2002 in Deutschland eingeleiteten „Hartz-Reformen“ gipfelten 2005 in der Abschaffung der Arbeitslosenhilfe – dem Pendant zur österreichischen Notstandshilfe. Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe wurden „zusammengeführt“ in eine Leistung, die irreführend „Arbeitslosengeld II“ (ALG II) genannt wird. Aufgrund der dramatischen gesellschaftlichen Folgen in Deutschland ist vor der Abschaffung der Notstandshilfe – wie von der ausgeschiedenen ÖVP-FPÖ-Regierung angedacht – eindringlich zu warnen. Es wäre eine schlechte Kopie des deutschen Fehlers.
Wer bis zu diesem vierten Schritt der „Hartz-Reformen“ (daher „Hartz IV“ genannt) Arbeitslosenhilfe bezogen hatte, erhielt nur noch die neue, in den meisten Fällen niedrigere Leistung – oder wegen verschärfter Anrechnung von Partnereinkommen und Vermögen auch gar nichts. Die Bundestagswahlergebnisse der SPD, die von 1998 bis 2005 die Regierung anführte, halbierten sich zwischen 1998 und 2017, wobei der größte Abwärtssprung um mehr als zehn Prozentpunkte von 2005 auf 2009 erfolgte, also unmittelbar nach der Reform.
Jetzt denkt die SPD darüber nach, wie man wieder eine „Pufferzone“ zwischen Arbeitslosenversicherung und „Hartz IV“ einrichten könnte: Durch Verlängerung des Arbeitslosengeldbezugs in Abhängigkeit von der Summe der Beitragsjahre und durch eine „Schonfrist“ für Vermögen und Wohnungsgröße in den ersten zwei Jahren des Bezugs von ALG II.
Zwei oder drei Systeme sozialer Sicherung bei Erwerbslosigkeit?
Bei aller Verschiedenheit im Detail kann man grundsätzlich zwei, in manchen Ländern (wie früher Deutschland und die Niederlande, derzeit u. a. noch Frankreich und Österreich) drei Systeme unterscheiden, die Arbeitslosen finanzielle Unterstützung sichern:
- Versicherung: Ansprüche in einer Arbeitslosenversicherung werden erworben durch Zahlung von Beiträgen, deren Höhe vom Verdienst abhängig ist. Die Höhe der Leistung steht dann ebenfalls in einem definierten Verhältnis zum Verdienst, sodass der Lebensstandard zu einem Teil gesichert bleibt. Da es sich um eine Lohnersatzleistung handelt, werden Beiträge an die anderen Zweige der Sozialversicherung entrichtet und somit Pensionsansprüche erworben. Aufgrund der Verbindung zwischen Verdienst, Beiträgen und Leistungsniveau wird das Arbeitslosengeld als Anerkennung für erbrachte Leistung verstanden.
- „Anschlusshilfe“: Hilfesysteme, die nach Erschöpfung der maximalen Anspruchsdauer von Arbeitslosengeld ansetzen, verlängern die teilweise Absicherung des früheren Verdienstes mit Beitragszahlung an Kranken‑ und Pensionsversicherung auf einem niedrigeren Niveau. Die Anrechnung von etwaigem Einkommen ist i. d. R. großzügiger als in der Mindestsicherung, Vermögen wird i. d. R. nicht angetastet. Die Anschlusshilfe bildet gewissermaßen eine steuerfinanzierte Verlängerung des Systems der Arbeitslosenversicherung und wird deshalb ebenfalls als Anerkennung für erbrachte Lebensleistung verstanden.
- Mindestsicherung/Sozialhilfe: Der Anspruch entsteht aufgrund von Bedürftigkeit, die Leistung richtet sich nach einem politisch definierten Existenzminimum mit mehr oder weniger überzeugender statistischer Rechtfertigung. Einkommen und Vermögen werden mit Freigrenzen auf die Regelleistung angerechnet und verringern diese. Frühere Leistung und der frühere berufliche Status spielen keine Rolle; deshalb ist in vielen Fällen jede Arbeit zumutbar. Die Finanzierung erfolgt aus Steuermitteln.
Wie gravierend die sozialen Folgen bei Abschaffung eines Anschlusssystems vom Typ 2 sind, hängt davon ab, wie weit die Absicherung durch die Arbeitslosenversicherung reicht, wie viele Arbeitslose sich üblicherweise im Anschlusssystem befinden und wie die Mindestsicherung ausgestaltet ist, in die sie dann fallen.
Absicherung bei Erwerbslosigkeit in Deutschland und Österreich
Vor wie nach „Hartz“ muss man in Deutschland im jüngeren und mittleren Alter 24 Monate sozialversicherungspflichtig beschäftigt gewesen sein, um das Maximum von 12 Monaten Arbeitslosengeld beziehen zu können. Eine Beschäftigungszeit von 12 Monaten berechtigt zu einem Bezug von sechs Monaten; kürzere Beschäftigungszeiten begründen nur in Ausnahmefällen einen Anspruch. – In Österreich bekommt man nach 52 Wochen Beschäftigung bei erstmaliger Inanspruchnahme AMS-Leistungen für maximal 20 (statt in Deutschland 26) Wochen, und selbst nach drei Jahren Beschäftigung sind es in Österreich maximal 30 (statt in Deutschland 52) Wochen. Für Personen unter 50 Jahren und bei Ausklammerung der Sonderregelungen im Rahmen von Arbeitsstiftungen bietet die österreichische Arbeitslosenversicherung also eine Absicherung von deutlich kürzerer Dauer. Allerdings ist die Leistungshöhe bei Familienzuschlag deutlich höher als in Deutschland (bis zu 80 % vom Netto statt 67 % in Deutschland).
Sozialhilfe Neu für ausländische Familien geringer als Hartz IV
Der aktuelle „Hartz-IV“-Regelsatz beträgt für Alleinstehende bundesweit einheitlich 424 Euro pro Monat, der Satz der Sozialhilfe neu in Österreich dagegen rd. 664 Euro. Dazu kommen noch rd. 221 Euro Wohnkostenanteil, zusammen also rd. 885 Euro. Bei Hartz IV betrugen die Zahlungsansprüche von Alleinstehenden einschließlich Wohnkosten im Februar 2019 durchschnittlich 744 Euro. Ein Paar mit zwei Kindern zwischen 6 und 14 Jahren erhielt in Deutschland in der Höhe von 569 Euro Wohnkosten (durchschnittlicher Zahlungsanspruch für 4-Personen-Haushalt) sowie 1.368 Euro Regelleistung, zusammen also 1.937 Euro. In Österreich wären es im Rahmen der Sozialhilfe neu für diesen Haushaltstyp nur 1.593,85 Euro (zuzüglich der Familienbeihilfe 277,6 Euro und des Kinderabsetzbetrages 116,8 Euro), für Zuwanderer mit schlechten Deutschkenntnissen seit diesem Jahr nur 1.159,97 Euro (zuzüglich der Familienbeihilfe 277,6 Euro und des Kinderabsetzbetrages 116,8 Euro). Zu berücksichtigen ist, dass im Rahmen des Sozialhilfe-Grundsatzgesetzes Maximalwerte festgelegt werden, die die einzelnen Bundesländer in Österreich nicht überschreiten dürfen, jedoch unterschreiten können. Darüber hinaus erscheint das allgemeine Preisniveau in Österreich höher zu sein als in Deutschland. Auf der anderen Seite dürfte in Österreich der Zugang zu bezahlbarem Wohnraum etwas leichter sein als in Deutschland, wo der öffentlich kontrollierte Wohnungsmarkt kleiner ist. Die Krankenversicherung ist für EmpfängerInnen der Mindestsicherung/Sozialhilfe in beiden Ländern noch gesichert; Ansprüche auf Alterssicherung, also Pensionsversicherungszeiten, werden in beiden Ländern beim Bezug von Mindestsicherung/Sozialhilfe nicht erworben.
Abbildung 1: Vergleich Hartz IV und Sozialhilfe Neu in Österreich
Hartz IV (DE) | Sozialhilfe neu (AT) | |
Alleinlebend | 744 | 885 |
Paar mit 2 Kindern 6–14 J. | 1.937 | 1.988,25 (inkl. Familienbeihilfe + Kinderabsetzbetrag) |
Paar mit 2 Kindern 6–14 J.; Zuwanderer mit schlechten Deutschkenntnissen | 1.937 | 1.554,37 (inkl. Familienbeihilfe + Kinderabsetzbetrag) |
Quellen: https://www.hartziv.org/regelbedarf.html; https://statistik.arbeitsagentur.de/Statistikdaten/Detail/201902/iiia7/geldleistungen-bedarf-rev/geldleistungen-bedarf-rev-d-0-201902-xlsx.xlsx (Tabelle 5); https://wien.arbeiterkammer.at/beratung/arbeitundrecht/arbeitslosigkeit/Mindestsicherung.html; https://familienbeihilfe.arbeiterkammer.at/
Risiko von Altersarmut
Der Wegfall der Notstandshilfe würde also in Österreich für langzeitig Arbeitslose das Risiko von genereller Armut, also auch von Altersarmut, erhöhen, so wie es in Deutschland nach dem Wegfall der Arbeitslosenhilfe geschehen ist. Die „Fallhöhe“ vom Arbeitslosengeld in die Mindestsicherung/Sozialhilfe wäre in Österreich zwar für Alleinstehende geringer als in Deutschland, für ausländische Familien dagegen höher. Das liegt an dem festen Wohnkostenanteil, den daraus folgenden erheblich stärkeren Abschlägen beim Regelsatz für Paare und der Berücksichtigung von Deutschkenntnissen, dem geringeren und altersunabhängigen Satz für Kinder und dem höheren Familienzuschlag beim österreichischen Arbeitslosengeld.
Abschaffung der Notstandshilfe würde viele treffen
Der Verlust der derzeit Notstandshilfe Beziehenden wäre beim Übergang in Sozialhilfe höher als seinerzeit beim Wegfall der deutschen Arbeitslosenhilfe, weil die Notstandshilfe in ihrer Höhe näher beim Arbeitslosengeld liegt und weil Partnereinkommen seit Juli 2018 nicht mehr angerechnet wird. In Deutschland betrug das Zahlenverhältnis der Beziehenden von Arbeitslosenhilfe zu Arbeitslosengeld Beziehenden im Jahr vor der Reform (2004) etwa 1,2 : 1, in Österreich war das entsprechende Verhältnis in 2018 mit 1,1 : 1 nahezu das gleiche. Es geht oder ging also in beiden Fällen nicht um eine vernachlässigbare Restgruppe, sondern um eine knappe Mehrheit der Beziehenden von versicherungsförmigen Leistungen bei Arbeitslosigkeit. Zieht man dazu noch in Betracht, dass der gesetzliche Kündigungsschutz in Österreich erheblich schwächer ausgeprägt ist, dass die jährliche Übergangsrate aus unselbständiger Beschäftigung in Arbeitslosigkeit in Österreich 2018 fast doppelt so hoch war wie in Deutschland (13,6 gegenüber 7,3 %) und dass die im Normalfall erreichbare Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes in Österreich kürzer ist, dann ergibt sich die Schlussfolgerung, dass der Wegfall der Notstandshilfe in Österreich einen noch gravierenderen Einschnitt bedeuten würde als seinerzeit die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe in Deutschland.
Zuständigkeiten für die Arbeitsmarktförderung
Der ursprüngliche Plan der Hartz-Kommission, dass die Arbeitsagenturen (das „deutsche AMS“) unmittelbar auch für die Förderung der ALG II Beziehenden zuständig sein sollten („Leistungen aus einer Hand“), ließ sich nicht durchsetzen. Im Ergebnis politischer und verfassungsgerichtlicher Auseinandersetzungen in den Jahren 2005–2010 blieb die Zuständigkeit in einem Viertel der Gebiete bei den Landkreisen oder kreisfreien Städten, die für die Sozialhilfe zuständig gewesen waren. In den übrigen drei Vierteln mussten die regionale Arbeitsagentur und die jeweilige Gemeinde eine „gemeinsame Einrichtung“ bilden. Die Verantwortlichkeiten von Bundesregierung, Bundesagentur für Arbeit, Kommunen und Ländern (bei denen die Kommunalaufsicht liegt) für das „Hartz-IV-System“ sind in höchst komplexer und für die BürgerInnen nicht nachvollziehbarer Weise miteinander verflochten. Die für die Betreuung der ALG II Beziehenden zuständigen Stellen – egal ob rein kommunal oder als gemeinsame Einrichtung mit der Arbeitsagentur – heißen „Jobcenter“. Sie können die meisten Instrumente der Arbeitsmarktförderung einsetzen, die auch den Arbeitsagenturen zur Verfügung stehen, plus einige weitere für Hartz IV spezifische. Pro Kopf der jeweils betreuten Arbeitslosen stehen den Jobcentern aber sehr viel weniger Fördermittel zur Verfügung – knapp 2.000 Euro gegenüber 3.900 Euro pro Jahr (tatsächliche Ausgaben in 2017).
Es gibt jetzt also in Deutschland ein Arbeitsmarktservice erster Klasse für die Arbeitslosengeld Beziehenden und eines zweiter Klasse für die „hilfebedürftigen“ Armen. Immerhin ist auch die zweite Klasse bundeseinheitlich mit Instrumenten und finanziellen Mitteln der Arbeitsmarktförderung ausgestattet und in ein System von Zielvereinbarungen mit der Bundesregierung und das Statistik-System der Bundesagentur für Arbeit eingebunden. Sollte in Österreich die Organisation der Mindestsicherung bei Wegfall der Notstandshilfe unverändert bleiben, so wäre wohl nicht einmal das gesichert.
Arbeitsmarktentwicklung in Deutschland
Die Arbeitslosenzahl wurde durch die Reform 2005 zunächst noch nach oben getrieben, weil ehemalige BezieherInnen von Sozialhilfe konsequenter als arbeitslos erfasst wurden. In 2018 betrug die Arbeitslosenquote nur noch die Hälfte von 2004, weil die Zahl der Erwerbstätigen seitdem um 6 Mio. zunahm, während die Bevölkerung im Alter von 20–65 Jahren bis 2014 um 1,3 Mio. zurückging, inzwischen aber durch Zuwanderung wieder gewachsen ist. Mit den Reformen hat die Abnahme der Arbeitslosigkeit höchstens insoweit etwas zu tun, als Arbeitslose sich unter der Drohung, in „Hartz-IV“ zu fallen, etwas mehr beeilt haben, neue – und u. U. schlechtere – Jobs anzunehmen. Der Anteil der Langzeitarbeitslosen an allen Arbeitslosen ging von 2008 bis 2018 gerade einmal von 40 % auf 35 % zurück (vergleichbare Daten für 2004 sind nicht verfügbar). Der Anteil der ALG-II-Langzeitbeziehenden, die jeweils in den vergangenen 24 Monaten mindestens 21 Monate Leistungen bezogen haben, bleibt weitgehend stabil zwischen 63 und 67 %; im Dezember 2018 waren 1,7 Mio. Personen seit vier und mehr Jahren ununterbrochen im Leistungsbezug. Das Versprechen, man könne in einem System der „aktivierenden Mindestsicherung“ durch bessere „Anreize“ solche Menschen in Arbeit bringen, bei denen das unter den Bedingungen der Arbeitslosenhilfe nicht gelang, hat sich trotz steigender Nachfrage nach Arbeitskräften nicht erfüllt. So oder so gibt es in jeder Gesellschaft einen Anteil von Menschen, die für die Aufnahme einer Arbeit nach Einschätzung potenzieller Arbeitgeber zu leistungsschwach, für eine Alterspension zu jung und für eine Invalidenpension nicht krank genug sind. Deshalb wurde nach jahrelangen Modellversuchen und Diskussionen für die Jahre 2019 bis 2024 unter der Bezeichnung „Teilhabe am Arbeitsmarkt“ ein Instrument hochgradig subventionierter Beschäftigung eingerichtet, mit dem bis zu 150.000 sehr arbeitsmarktferne Personen jeweils bis zu fünf Jahre lang beschäftigt werden können. Bis Februar 2019 (aktuellste Daten) wurde aber erst ein Bestand von 4.600 Beschäftigten erreicht.