Die Reformen der Arbeitslosenversicherung unter dem Titel „Hartz IV“ haben die Absicherung bei Erwerbslosigkeit massiv verschlechtert und den Druck auf Löhne und Standards am Arbeitsmarkt erhöht. Eine tiefe soziale Verunsicherung hat sich bis weit in die Mittelschichten hinein ausgebreitet. Österreich sollte daher gewarnt sein, sich die Hartz-Reformen zum Vorbild zu nehmen und die Notstandshilfe abzuschaffen.
Der radikale Umbau der Arbeitslosenversicherung in Deutschland
Durch die vier „Gesetze für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ der rot-grünen Bundesregierung in den Jahren 2003-2006 wurde das deutsche System der Absicherung bei Erwerbslosigkeit radikal umgebaut. Die wesentlichen Elemente waren dabei:
- Abschaffung der Arbeitslosenhilfe:
Auf Empfehlung der vom damaligen VW-Personalvorstand Peter Hartz geleiteten Kommission für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt wurde mit dem vierten dieser Gesetze zum 1. Januar 2005 die – der österreichischen Notstandshilfe ähnliche – Arbeitslosenhilfe abgeschafft. Diese moderat einkommensgeprüfte und einkommensabhängige Versicherungsleistung wurde bis dahin im Anschluss an das vorgeschaltete Arbeitslosengeld dauerhaft gezahlt, wenn zuvor Anspruch auf Leistungen der Arbeitslosenversicherung bestanden hatte. Stattdessen wurde die „Grundsicherung für Arbeitssuchende“ – so die offizielle Bezeichnung von Hartz IV – eingeführt, eine streng bedürftigkeitsgeprüfte Fürsorgeleistung auf dem niedrigen pauschalen Niveau der Sozialhilfe.
- Schwächung der Versicherungsleistung Arbeitslosengeld:
Zu Beginn des Jahres 2006 wurde außerdem die Bezugsdauer des Arbeitslosengelds, das bis dahin in Abhängigkeit vom Alter für bis zu 32 Monate bezogen werden konnte, auf generell 12 Monate und 18 Monate für über 55-Jährige verkürzt. Die Rahmenfrist, innerhalb derer Anspruch auf Arbeitslosengeld erworben werden kann, wurde ebenfalls reduziert. Beschäftigte müssen nun die Vorversicherungszeiten innerhalb von zwei statt von drei Jahren erreichen.
Dadurch wurde die Sicherungsfunktion der Arbeitslosenversicherung massiv geschwächt. Erwerbslose wurden – auch wenn sie lange Jahre in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt hatten – in der Regel schon nach einem Jahr auf die Fürsorgeleistung Hartz IV mit ihren niedrigen Leistungen, strikten Bedürftigkeitskriterien und harschen Sanktionen verwiesen.
Dies führte zu großem gesellschaftlichem Unmut, der die folgende Bundesregierung aus Union und SPD dazu nötigte, die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes wieder zu verlängern. Seitdem beträgt sie maximal 24 Monate, vorausgesetzt, man ist älter als 58 Jahre, bleibt gleichwohl aber deutlich hinter den vormals geltenden 32 Monaten zurück. Kürzlich wurde nach jahrelanger Diskussion auch die Rahmenfrist wieder ausgeweitet auf nun 33 Monate (früher 36).
- Verschärfung der Zumutbarkeitskriterien und Einführung eines rigiden Sanktionsregimes:
Mit Hartz IV wurden das zur Verfügung stehende Sanktionsinstrumentarium flexibler und differenzierter gestaltet und neue Sperrzeiten wegen unzureichender Eigenbemühungen oder wegen Verstößen gegen die frühzeitige Meldepflicht eingeführt. Für die neue Grundsicherung für Arbeitssuchende wurde ein striktes Zumutbarkeits- und Sanktionsregime implementiert: Bis zur Einführung des gesetzlichen Mindestlohns 2015 galt hier jede Arbeit als zumutbar, zu der der bzw. die Erwerbslose körperlich und geistig in der Lage war. Lediglich (gerichtlich festzustellende) sittenwidrige Löhne bildeten eine allerletzte Schranke gegen die Vermittlung in prekäre Arbeit.
Bei Meldeversäumnissen, Verstößen gegen Auflagen oder Ablehnung eines zumutbaren Arbeitsangebots greifen bis heute strikte Sanktionen, die bei mehrmaliger Wiederholung zur kompletten Streichung der Geldleistungen sowie der Kosten für die Unterkunft führen können. Für Jugendliche und junge Erwachsene gilt eine verschärfte Regelung, die die Streichung von Leistungen bereits nach dem ersten Verstoß zeitigen kann.
Die diesem repressiven Ansatz zugrundeliegende Logik des „Förderns und Forderns“ sieht vor, dass der Staat Unterstützung, Beratung und Angebote bietet, die Erwerbslosen gleichzeitig aber auch drängen soll, zumutbare Arbeit und Angebote der Arbeitsförderung anzunehmen. Die Ursachen von Arbeitslosigkeit werden in dieser Logik individualisiert: Nicht strukturelle Probleme, sondern mangelnde Bereitschaft der Erwerbslosen und mangelnde staatliche Unterstützung bei deren Bemühungen um Arbeit werden als zentrale Ursachen gesehen.
Die langen Schatten der Reform
Die Hartz-Reformen hatten in mehrfacher Hinsicht harte soziale Folgen, die bis heute ihre Schatten auf die deutsche Gesellschaft werfen.
- Verlust von Leistungsansprüchen:
Durch die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe erfuhren viele Menschen finanzielle Verluste oder verloren den Anspruch auf staatliche Unterstützung gleich ganz: Laut Berechnungen von Richard Hauser und Irene Becker mussten ca. 60 Prozent aller Personen, die mit einem Arbeitslosenhilfeempfänger zusammenlebten, Einkommenseinbußen hinnehmen. Etwa ein Viertel von ihnen fiel komplett aus dem staatlichen Leistungsanspruch heraus. Dies war vor allem den im neuen Grundsicherungssystem weitaus strikteren Regelungen zur Anrechnung von Partnereinkommen, Vermögen und Wohneigentum geschuldet, die vor allem Frauen um ihren eigenständigen Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung brachten.
- Schwächung des Schutzes der Arbeitslosenversicherung:
Der Schutz der Arbeitslosenversicherung wurde durch die Abschaffung der einkommensabhängigen Arbeitslosenhilfe zugunsten einer pauschalen Fürsorgeleistung, die Verkürzung der Bezugsdauer des Arbeitslosengelds sowie der Rahmenfrist massiv geschwächt. Heute beziehen nur noch etwa ein Drittel aller Arbeitslosen Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung, knapp zwei Drittel befinden sich im Fürsorgesystem.