Erwerbsarmut in Österreich und Deutschland – Hartz IV ist kein Vorbild

04. September 2017

Die deutschen Arbeitsmarktreformen der 2000er-Jahre sind zu einem Exportschlager geworden. Viele BeobachterInnen sehen in den sogenannten Hartz-Reformen den Grund für die gute wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands. Seit Deutschland, im Gegensatz zu vielen anderen europäischen Ländern, die Wirtschaftskrise bemerkenswert schnell überwunden und in eine positive Entwicklung überführt hat, gilt das deutsche Modell als Vorbild – auch für Österreich. Von einer Nachahmung des deutschen Reformweges ist aber nicht zuletzt aus sozialpolitischer Perspektive abzuraten.

HARTZ IV FÜR ÖSTERREICH?

Es ist stark umstritten, ob die Hartz-Reformen wirklich für den vergleichsweise glimpflichen Verlauf der Krise und den anschließenden wirtschaftlichen Aufschwung in Deutschland verantwortlich gemacht werden können (siehe z. B. ausführlich hier und kürzer hier). In jedem Fall aber hat das reformierte deutsche Arbeitsmarktregime seine Schattenseiten, zu denen neben vielen weiteren Problemen – wie zum Beispiel einem großen Niedriglohnsektor – auch die Erwerbsarmut zählt. Es gibt also triftige Gründe, warum das deutsche Modell nicht als Vorbild taugt.

Dennoch scheinen in Österreich politische Kräfte in diese Richtung zu denken. Im Mai dieses Jahres ist eine Studie des österreichischen Finanzministeriums mit dem vielsagenden Titel „Simulation der Umlegung der Hartz-IV-Reform auf Österreich“ publik geworden. Darin wird geprüft, welche Auswirkungen eine Abschaffung der österreichischen Notstandshilfe haben würde. Diese Maßnahme würde der Abschaffung der deutschen Arbeitslosenhilfe entsprechen.

In diesem Beitrag soll mit Blick auf eine der Schattenseiten des deutschen Reformweges, der Erwerbsarmut, diskutiert werden, welche Folgen „Hartz IV für Österreich“ haben könnte.

ERWERBSARMUT IN ÖSTERREICH UND DEUTSCHLAND

Erwerbsarmut ist ein weit verbreitetes Problem in Europa. Als erwerbsarm gelten erwerbstätige Personen, die in einem Haushalt leben, dessen Einkommen unterhalb der Armutsschwelle liegt (60 Prozent des mittleren bedarfsgewichteten Einkommens). Erwerbsarmut ist nicht nur im Hinblick auf soziale Gerechtigkeit problematisch, sondern überdies auch im Hinblick auf das Prinzip der Leistungsgerechtigkeit. Denn bei Erwerbsarmen handelt es sich um Personen, die arm sind, obwohl sie einer Erwerbstätigkeit nachgehen.

Erwerbsarmut in der EU in Prozent (2014)

Quelle: Spannagel, Dorothee/Seikel, Daniel/Schulze Buschoff, Karin/ Baumann, Helge, 2017, Aktivierungspolitik und Erwerbsarmut. WSI Report Nr. 36, 07/2017, Düsseldorf

Spitzenreiter in Sachen Erwerbsarmut ist Rumänien. Dort sind 18,6 Prozent der Beschäftigten im Alter zwischen 18 und 64 Jahren erwerbsarm. Den niedrigsten Wert verzeichnet Finnland. Hier sind nur 3,5 Prozent der Beschäftigten erwerbsarm. Auch in Deutschland (9,8 Prozent) und Österreich (7,8 Prozent) ist Erwerbsarmut ein durchaus weit verbreitetes Phänomen. Im europäischen Vergleich liegen beide Länder im Mittelfeld.

Jedoch gibt es einen signifikanten Unterschied zwischen den Ländern. Während es in beiden Ländern zwischen 2004 und 2014 einen im europäischen Vergleich vergleichsweise starken Beschäftigungsanstieg gab, verdoppelte sich in Deutschland die Erwerbsarmutsquote, während die Erwerbsarmut in Österreich moderater um 14,7 Prozent wuchs. Dies entspricht einem Anstieg der Erwerbsarmutsquote von 6,8 Prozent auf 7,8 Prozent.

Veränderung der Erwerbsarmutsrate 2004–2014 in Prozent (2004=100)

Dekoratives Bild © A&W Blog
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Quelle: Spannagel, Dorothee/Seikel, Daniel/Schulze Buschoff, Karin/ Baumann, Helge, 2017, Aktivierungspolitik und Erwerbsarmut. WSI Report Nr. 36, 07/2017, Düsseldorf; Daten: Eurostat Variable ilc_iw01, in Prozent der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter zwischen 18 und 64, eigene Berechnung; Eurostat Variable lfsi_emp_a. Erklärung: violette Länder: Steigerung der Erwerbstätigenquote zwischen 2004–2014 um 3–8 Prozentpunkte; türkisfarbene Länder: Steigerung der Erwerbstätigenquote zwischen 2004–2014 um 0–3 Prozentpunkte; pinke Länder: Veränderung der Erwerbstätigenquote zwischen 2004–2014 um 0 bis -4 Prozentpunkt, braune Länder: Veränderung der Erwerbstätigenquote zwischen 2004–2014 um -4 bis -13 Prozentpunkte.

Demgegenüber stehen Finnland, die Niederlande, Irland und die Slowakei, die ebenfalls Beschäftigungszuwächse verzeichnen, dabei aber die Erwerbsarmut senken konnten. Steigende Erwerbsarmut ist also mitnichten eine zwangsläufige Begleiterscheinung einer positiven Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt.

Daraus lassen sich zwei Schlussfolgerungen ziehen. Erstens schneidet die Arbeitsmarktpolitik beider Länder im europäischen Vergleich nicht besonders gut ab. Zweitens ist Österreich erfolgreicher als Deutschland darin, Menschen so in den Arbeitsmarkt zu integrieren, dass ihr Einkommen dazu ausreicht, Armut zu verhindern. Wie lassen sich diese Unterschiede erklären?

AKTIVIERUNGSPOLITIK UND ERWERBSARMUT

Wie eine neue Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung zeigt, stehen der Politik zwei Wege zur Verfügung, die Erwerbsarmut zu beeinflussen – im Guten wie im Schlechten: Die Arbeitsmarktpolitik im engeren Sinne und die klassische Sozialpolitik. Die Studie untersucht auf Grundlage eines systematischen Vergleichs zwischen 18 EU-Mitgliedstaaten, welchen Einfluss Aktivierungspolitik auf Erwerbsarmut hat.

Was ist mit Aktivierungspolitik gemeint? Der Begriff Aktivierungspolitik beschreibt einen arbeitsmarktpolitischen Reformansatz, der seit den 1990er-Jahren zum Leitbild der europäischen und vielerorts auch der nationalen Arbeitsmarktpolitik avanciert ist. In Deutschland ist der Ansatz unter dem Slogan „Fordern und Fördern“ mit den Hartz-Reformen und der Agenda 2010 verknüpft. Ziel von Aktivierungspolitik ist es, Arbeitslose zu „aktivieren“, um sie in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Dazu sollen negative Arbeitsanreize beseitigt, der Druck auf Arbeitslose erhöht und Arbeitslose besser qualifiziert werden.

Dieser Ansatz beruht auf drei Instrumenten:

(1) Investive aktive Arbeitsmarktpolitik, die unter anderem auf eine Verbesserung der Vermittlung und Qualifikation von Arbeitslosen zielt;

 (2) Zwangselemente, wie etwa die Kürzung bis Streichung von Transferleistungen bei zu passiver Arbeitssuche oder Ablehnung von Arbeitsangeboten unter dem bisherigen Qualifikations- und Lohnniveau;

(3) Re-Kommodifizierung der Arbeitskraft, also etwa geringere Höhe und Dauer von Transferleistungen oder höhere Voraussetzungen für den Bezug von Transferleistungen (z. B. Beitragszeiten).

Die Studie des WSI untersucht den Einfluss der verschiedenen Aktivierungsinstrumente auf Erwerbsarmut. Die Befunde der Untersuchung zeigen, dass höhere Ausgaben für aktive Arbeitsmarktpolitik das Erwerbsarmutsrisiko senken. Hoher Druck auf Arbeitslose, z. B. was die Annahme von Arbeitsangeboten unterhalb des Qualifikations- und letzten Lohnniveaus anbelangt, erhöht das Erwerbsarmutsrisiko ebenso wie ein hoher Grad an Re-Kommodifizierung von Arbeitskraft. Mit anderen Worten, je stärker Arbeitslose gezwungen werden, auch schlecht bezahlte Tätigkeiten anzunehmen und je geringer staatliche Transfers ausfallen, desto höher ist das durchschnittliche Risiko, arm trotz Arbeit zu sein.

Die Ergebnisse der Studie legen also nahe, dass eine Politik, die im Kampf gegen Arbeitslosigkeit auf Zwangselemente und Leistungskürzungen setzt, dazu führen kann, dass aus armen arbeitslosen Personen und Haushalten arme berufstätige Personen und Haushalte werden. Im Umkehrschluss ist eine Kombination aus gut finanzierten aktiven arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen und auskömmlichen Transfereinkommen die beste Strategie, um Erwerbsarmut zu verringern.

WARUM IST DIE ERWERBSARMUT IN ÖSTERREICH NIEDRIGER ALS IN DEUTSCHLAND?

Was die in der Studie untersuchten Indikatoren anbelangt, zeigen OECD-Daten, dass die Höhe der Arbeitslosenversicherungsbezüge in der ersten Phase der Arbeitslosigkeit in beiden Ländern ungefähr auf dem gleichen Niveau liegt. Anders sieht es allerdings bei Langzeitarbeitslosigkeit aus. Die entsprechenden Netto-Lohnersatzraten fallen in Österreich deutlich höher aus als in Deutschland, was auf die im Vergleich großzügigeren österreichischen Regelungen zurückzuführen ist.

Ein weiterer struktureller Unterschied zwischen den beiden Ländern ist, dass Österreich deutlich mehr in die aktive Arbeitsmarktpolitik investiert und die Ausgaben in diesem Bereich in den letzten Jahren sogar noch erhöht hat. Anders sieht es in Deutschland aus. Hier ist der Anteil der Ausgaben für die aktive Arbeitsmarktpolitik am BIP gesunken. Dies trifft auch auf den Weiterbildungsbereich zu. Während in Deutschland die anteilsmäßigen Ausgaben für Weiterbildungsprogramme sinken, steigen sie in Österreich kontinuierlich an. Ein aktuelles Beispiel ist die „Aktion 20.000“, in deren Rahmen rund 780 Mio. Euro zur Verfügung gestellt werden, um Langzeitarbeitslosigkeit von älteren ArbeitnehmerInnen zu bekämpfen. Im Zuge des Programms sollen jährlich 20.000 Jobs in Gemeinden und gemeinnützigen Organisationen geschaffen und vom Bund finanziert werden, um ältere Langzeitarbeitslose zurück ins Berufsleben zu führen und ihnen ein Anstellungsverhältnis mit kollektivvertraglichen Standards zu bieten.

Überdies zeigen die in der Studie ausgewerteten Daten, dass Zumutbarkeitskriterien und Sanktionen in Österreich weniger streng ausfallen als in Deutschland. Mit anderen Worten, bei allen in der Studie identifizierten Einflussgrößen schneidet Österreich besser ab als Deutschland. Vor diesem Hintergrund ist die niedrigere Erwerbsarmut in Österreich nicht weiter verwunderlich.

HARTZ IV KEIN VORBILD FÜR ÖSTERREICH

Deutschland und Österreich sind unterschiedlich erfolgreich darin, Menschen so in den Arbeitsmarkt zu integrieren, dass ihr Einkommen ausreicht, um Armut zu verhindern. Als Grund für das bessere Abschneiden Österreichs kann eine im Vergleich zu Deutschland effektivere Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik ausgemacht werden.

Die Hartz-Reform hat in Deutschland die Faktoren gestärkt, die das Erwerbsarmutsrisiko erhöhen. Sowohl aus sozialpolitischer Perspektive als auch unter Gerechtigkeitsaspekten sind die Hartz-Reformen also negativ zu beurteilen. Von einer Nachahmung der Hartz-Reformen, wie jüngst in Österreich angedacht, kann daher nur abgeraten werden. Eine Abschaffung der Notstandshilfe würde voraussichtlich zu einem Anstieg der Erwerbsarmut führen. Vielmehr sollte der bisherige Ansatz einer expansiven aktiven Arbeitsmarktpolitik konsequent weiterentwickelt werden.