In den letzten Wochen war immer wieder von den „vorbildhaften“ deutschen Arbeitsmarktreformen die Rede und da ja Österreich jetzt bei der Arbeitslosenquote im europäischen Vergleich den Spitzenplatz abgeben musste, sei es doch naheliegend, ähnliche Reformen auch in Österreich umzusetzen. Dabei wird aber gerne übersehen, dass die Hartz-Reformen nicht in Zusammenhang mit der sinkenden Arbeitslosenquote in Deutschland stehen und entsprechende Reformen nicht an den grundlegenden Problemen des österreichischen Arbeitsmarktes ansetzen könnten: dem schwachen Wirtschaftswachstum auf der einen Seite und dem steigendem Arbeitskräfteangebot auf der anderen Seite.
Die Situation am Arbeitsmarkt ist nicht rosig… … das zeigt auch die neueste Analyse der Arbeitsmarktdaten des ersten Halbjahres 2015. Die Arbeitslosigkeit nimmt zu, da das Arbeitskräfteangebot – durch den längeren Verbleib älterer ArbeitnehmerInnen im Erwerbsleben, die steigende Frauenerwerbsbeteiligung, Zuwanderung und aufgrund der demografischen Entwicklung – stärker steigt als die Beschäftigung. Diese nimmt zwar noch nach der Zahl der Beschäftigungsverhältnisse leicht zu, aber nicht mehr nach dem Arbeitsvolumen . Atypische Beschäftigung ist auf dem Vormarsch, während die Vollzeiterwerbstätigkeit in Österreich rückläufig ist.
Besorgniserregend ist auch, dass mit der zunehmenden Verweildauer in Arbeitslosigkeit auch immer mehr Menschen auf Notstandshilfe angewiesen sind. Die Zahl der BezieherInnen ist im Vorjahresvergleich um 17% bei den Frauen bzw. 19% bei den Männern angestiegen. Bei der Anzahl der weiblichen Bezieherinnen nähert sich die Zahl der Notstandshilfebezieherinnen (60.324) an jene der Arbeitslosengeldbezieherinnen (64.159) an (mehr dazu in der Analyse ab S. 11). Dabei werden hier Frauen, die aufgrund der Partnereinkommensanrechnung die Notstandshilfe verlieren, nicht mitgezählt.
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Quelle: AMS, eigene Darstellung
Die Arbeitslosenquote als Indikator für den Vergleich der Funktionsfähigkeit eines Arbeitsmarktes greift zu kurz Groß war die mediale Präsenz, als Österreich nicht mehr die Spitzenposition bei der Arbeitslosenquote im europäischen Vergleich innehatte. Hier muss man aber berücksichtigen, dass die Arbeitslosenquote (nach der EU-Methode) nur begrenzt Aufschluss über die Situation eines Arbeitsmarktes gibt. (siehe auch Blogbeitrag von Kai Biehl ).
Die EU-Quoten basieren auf Befragungsdaten: Wer in der jeweiligen Befragungswoche zumindest eine Stunde in Beschäftigung war, gilt als beschäftigt. Wer in der Referenzwoche nicht zumindest eine Stunde erwerbstätig war, aktiv nach Arbeit sucht und innerhalb von zwei Wochen für eine Arbeitsaufnahme zur Verfügung steht, wird als „arbeitslos“ gewertet. Damit wird Beschäftigung tendenziell übererfasst (alles, was über eine Wochenstunde hinausgeht = Erwerbstätigkeit!) und Arbeitslosigkeit auf der anderen Seite tendenziell untererfasst (da Arbeitslosigkeit ja ein soziales Stigma ist und die Tendenz besteht, dass arbeitslose Personen weniger auskunftsfreudig sind). Österreich und einige andere EU-Länder berücksichtigen diese Tendenz seit Kurzem in der Hochrechnung der Befragungsdaten, die meisten anderen EU-Länder (wie bspw. Deutschland) jedoch nicht; daher kam es auch zu einer negativeren Entwicklung im Zeitverlauf. Diese Aspekte muss man bei der Interpretation der Daten auch mitberücksichtigen.
Deutschland: Arbeitslosigkeit sinkt vor allem, weil das Arbeitskräfteangebot sinkt Die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter geht in Deutschland (bereits seit 1998) tendenziell zurück, während sie in Österreich noch weiter ansteigt. Von 2008 bis 2014 gingen die Bevölkerungszahlen in Deutschland um -2,5% zurück, während sie im selben Zeitraum in Österreich um +2,3% stiegen. Das führt in Deutschland zu einer Entlastung des Arbeitskräfteangebots. Zudem ist die Arbeitskräftemigration in Deutschland nicht in demselben Ausmaß wie in Österreich vorhanden. Das bedingt, dass die Arbeitslosigkeit in Deutschland zurückgeht, während sie in Österreich weiter steigt (mehr dazu im Blogbeitrag von Markus Marterbauer ).
Einige Auswirkungen der Hartz-Reformen … Die Hartz-Reformen waren – so sind sich viele einig – eine der radikalsten Reformen der Arbeitsmarktpolitik in einem EU-Land. Es wurde das System der sozialen Absicherung für Arbeitslose aber auch für Beschäftigte (mit geringem Einkommen) sowie das deutsche Arbeitsmarktservice – die Bundesagentur für Arbeit bzw. die kommunalen Jobcenter – komplett umgestellt (mehr dazu in den Beiträgen von Matthias Knuth und Peer Rosenthal ).
Hauptelement der Hartz-IV-Reformen war die Abschaffung der ehemaligen Arbeitslosenhilfe, deren Höhe vom vorhergehenden Einkommen abhängig war. Stattdessen wurde eine bedarfsgerechte Grundsicherung – das Arbeitslosengeld II („Hartz IV“) – eingeführt. Das bedeutet, dass die Menschen in Deutschland nach dem Bezug des Arbeitslosengeldes (in der Regel nach 12 Monaten, Ausnahme: 50+ nach längstens 24 Monaten) auf die Fürsorgeleistung „Hartz IV“ absacken und damit auch keine entsprechenden Zeiten in der Pensionsversicherung mehr erwerben. Die Höhe der Leistung setzt sich aus einer Unterstützung für Unterkunft und Heizung (sofern diese angemessen sind) und einem pauschalierten Betrag für den sogenannten Regelbedarf (2015: 399 Euro für Alleinstehende) zusammen.
… Segmentierung hat zugenommen Betrachtet man die arbeitslos vorgemerkten Personen in Deutschland nach den jeweiligen Rechtskreisen, also ob sie sich im Arbeitslosenversicherungssystem oder im Hartz-IV-System befinden, so kann man erkennen, dass etwas mehr als zwei Drittel der Arbeitsuchenden im Hartz-IV-System sind. Nur 32% befinden sich noch innerhalb der Arbeitslosenversicherung. Die folgende Abbildung veranschaulicht die Entwicklung der Arbeitslosigkeit in Deutschland nach den jeweiligen Rechtskreisen und weist auch den Anteil der arbeitslosen Personen im Hartz-IV-System aus. Dieser schwankte zwischen 57% im Jahr 2005 und 70% im Jahr 2011. Die Arbeitslosigkeit hat zwar abgenommen, aber die Segmentierung hat zugenommen.
Arbeitslose Personen in Deutschland nach Rechtskreisen, 2005 bis 2014
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Quelle: Bundesagentur für Arbeit,
Institut für Arbeit und Qualifikation (Abb. IV39) Die überwiegende Beschäftigungsdynamik spielt sich aber über das Arbeitslosenversicherungssystem ab: etwa 70% aller Zugänge und 63% aller Abgänge betreffen also nur das eine Drittel der Arbeitslosen nach dem Sozialgesetzbuch III (Arbeitslosenversicherung).
Zugespitzt kann man sagen: Der erhöhte Druck der Reformen wirkt sich vor allem auf die Arbeitslosen im Versicherungssystem aus, die schlechtere Konditionen am Arbeitsmarkt akzeptieren. Dagegen haben die Hartz-Reformen entgegen ihrem Versprechen nicht zu mehr Bewegung bei den Langzeitarbeitslosen geführt, wohl aber bei einem Großteil zu einem Abbau der sozialen Sicherung. Gerade in Bezug auf die Langzeitarbeitslosigkeit – in Deutschland sind 44,3% der Arbeitslosen von Langzeitarbeitslosigkeit betroffen (Ö: 27,2%) – müssen die Reformen als gescheitert betrachtet werden.
… die deutschen Arbeitslosen sind im EU-Vergleich stärker von Armut betroffen Die deutschen Hartz-IV-Reformen haben dazu geführt, dass arbeitslose Menschen in Deutschland die im EU-Vergleich höchste Armutsgefährdungsquote aufweisen (EU-SILC). Diese lag im Jahr 2013 in Deutschland bei 69%. Der EU-Schnitt lag bei 46,5% und Österreich wies eine Armutsgefährdungsquote von Arbeitslosen in der Höhe von 45,7% auf.
Armutsgefährdungsquoten von arbeitslosen Personen, 2008 bis 2013
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Quelle: Eurostat, EU-SILC
Gewinner und Verlierer der Hartz-Reformen Auf den ersten Blick wirken die deutschen Arbeitsmarktzahlen vorbildhaft und der Schluss, ähnliche Arbeitsmarktreformen durchzuführen, scheint nahezuliegen. Aber bei näherer Betrachtung von arbeitsmarktrelevanten Kennzahlen sind die deutschen Reformen – aus Perspektive der ArbeitnehmerInnen – ganz und gar nicht attraktiv und hatten auch wirtschaftspolitisch dämpfende Auswirkungen: eine Analyse des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung zu dem Ergebnis, dass höhere Lohnabschlüsse (die ohne die Arbeitsmarktreformen zu erreichen gewesen wären) die Wirtschafts- und Beschäftigungsentwicklung nachhaltig positiv beeinflusst hätten. Gerne wird in der Diskussion auch vergessen, dass die Sozialausgaben der Kommunen (für Unterkunft und Heizung) angestiegen sind, und auch das Problem der individuellen Überschuldung von Hartz-IV-BezieherInnen hat sich massiv vergrößert.
Die Gewinner der Hartz-IV-Reformen sind die Unternehmen–, die mit billigeren Lohnstückkosten produzieren konnten. Ausgenommen die vielen neuen Selbstständigen, die in höchst prekären Arbeitssituationen gefangen sind . ArbeitnehmerInnen wurden vermehrt unter Druck gesetzt, viele haben durch die Arbeitslosigkeit deutliche Einkommenseinbußen hinnehmen müssen bzw. immer mehr Menschen bleiben dauerhaft vom Regel-Erwerbssystem und der Möglichkeit des Schutzes der Arbeitslosenversicherung ausgeschlossen. Für diese Menschen wurde Hartz IV zur persönlichen Sackgasse.
Die Stoßrichtung vonseiten der WirtschaftsvertreterInnen in Österreich ist klar: Man soll Arbeitslose noch mehr unter Druck setzen, denn mit einem Hartz-IV-System könnten auch in Österreich die Lohnstückkosten gesenkt werden. Die in Diskussion stehende Überführung der Notstandshilfe in das Mindestsicherungssystem würde für die Unternehmen auch in Österreich die Möglichkeit bieten, wie in Deutschland die Arbeitslosenversicherungsbeiträge zu senken, da dann ja auch ein großer Teil der Arbeitslosen keine Ansprüche mehr auf Leistungen der Arbeitslosenversicherung hätte.
Notstandshilfe in das Mindestsicherungssystem überführen? Für die Betroffenen – und diese Zahl wird immer größer – würde das bedeuten, dass sie nach dem Arbeitslosengeldbezug (also derzeit nach 20 bis max. 52 Wochen) in das Mindestsicherungssystem übertreten müssten, was auch eine Verpflichtung zur Vermögensverwertung (also auch Eigentum, bspw. das Auto, sofern es beruflich nicht gebraucht wird etc.) miteinschließt. Zusätzlich würden mit dem Übertritt in das Mindestsicherungssystem auch keine Beiträge mehr in die Pensionsversicherung einbezahlt werden.
Dabei wird aber außer Acht gelassen, dass der private Konsum eine wesentliche Säule der österreichischen Wirtschaft ist. Mit Arbeitsmarktreformen nach dem Vorbild Hartz IV würde der private Konsum noch weiter zurückgehen, da das Leistungsniveau für viele Menschen sinken würde. Auch aus wirtschaftspolitischer Sicht ist eine Kürzung des Bezuges bei Arbeitslosigkeit also nicht sinnvoll. Auch die OECD empfiehlt Österreich mittlerweile eine Erhöhung der Leistungen bei Arbeitslosigkeit.
Entsprechende Reformen würden zu einer zusätzlichen Segmentierung am Arbeitsmarkt beitragen – Österreich braucht eine inklusive Arbeitslosenversicherung und Arbeitsmarktpolitik! Arbeitslosigkeit würde noch mehr, als es bereits jetzt schon der Fall ist, zur Bruchstelle in der individuellen Erwerbskarriere werden. Insbesondere im Hinblick darauf, dass sich die Erwerbsformen weiter ausdifferenzieren werden und Phasen der Arbeitslosigkeit künftig noch mehr zum Erwerbsverlauf dazugehören werden, ist ein besserer – und nicht ein schlechterer – Schutz bei Arbeitslosigkeit erforderlich.
Wie auch Josef Wallner in seinem Blogbeitrag schon aufwirft, geht es anscheinend auch darum, die ArbeitnehmerInnen und die Arbeitsuchenden gegeneinander auszuspielen: jene, die ihre Arbeit verloren haben, gegen jene, die eine haben, die aber niedrig entlohnt ist und für die vielleicht auch weite Anfahrtswege in Kauf genommen werden müssen. Es geht dabei um einen Abbau gesellschaftlicher Solidarität und in weiterer Folge um eine Aushöhlung des Sozialversicherungsprinzips (wiederum nach deutschem Vorbild).
Angesichts der derzeitigen Arbeitsmarktentwicklung braucht Österreich aber eine inklusive Arbeitslosenversicherung und eine ebenso auf Inklusion ausgerichtete Arbeitsmarktpolitik. Was Österreich nicht braucht sind Hartz-ähnliche-Arbeitsmarktreformen, die die negativen Entwicklungen am österreichischen Arbeitsmarkt weiter verstärken würden.
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Dieser Blogbeitrag beruht auf dem Spezialteil „Hartz IV – Warum Österreich keine deutschen Arbeitsmarktreformen braucht“ der neuesten Ausgabe von Arbeitsmarkt im Fokus .
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