Journalist Günther Wallraff berichtet im Interview von Menschen, die für miserable Bezahlung unter frühkapitalistisch anmutenden Arbeitsbedingungen ihren Lebensunterhalt verdienen. Darüber wohin das System aus Werkvertrag, Zeitarbeit, Tagelöhner, Sub-sub-Unternehmer oder Honorarkräften führt, warum es immer weiter in die Mitte der Gesellschaft reicht, welche Rolle die Logistikbranche und der Internethandel dabei spielen und welche Reaktionen seine Recherchen auslösen.
blog.arbeit-wirtschaft.at: Sie beschreiben in ihrem neuen Buch „Die Lastenträger“ den Arbeitsalltag von Millionen Menschen, die unter erniedrigenden Bedingungen für miserable Bezahlung arbeiten. Sie sprechen in diesem Zusammenhang von einer gewaltigen Umverteilung durch Unterbezahlung, davon dass ganze Branchen zurückfallen in frühkapitalistische Zustände. Was spielt sich hier ab?
Diese Umverteilung hat sich in den letzten 10 bis 15 Jahren verschärft. Immer mehr Menschen können heute am gesellschaftlichen und sozialen Leben überhaupt nicht mehr teilhaben. Die kehren der Demokratie den Rücken und gehen auch nicht mehr wählen. Ein Grund ist die ungleiche Verteilung der Einkommen. Die untere Hälfte der Pyramide – 40 Millionen Menschen – besitzt gerade mal ein Hundertstel des wirtschaftlichen Gesamtvermögens. Das unterste Viertel besitzt gar nichts oder hat Schulden. Die obersten 10 Prozent halten allein zwei Drittel des Vermögens in ihren Händen, Tendenz steigend. Diejenigen, die von den miserablen Arbeitsbedingungen und der Unterbezahlung profitieren, verlagern dann ihre Gewinne noch in Nachbarländer, um Steuern zu sparen.
Wenn das deutsche „Jobwunder“ gerühmt wird, wird unterschlagen, dass es dabei zum Teil um elendige Jobs geht, die unter frühkapitalistischen Arbeitsbedingungen verrichtet werden. Wenn sich Nachbarländer Deutschland als Vorbild nehmen, blenden sie diesen Teil der Realität aus.
Ein Problem ist auch, dass in Deutschland vergleichsweise wenige Menschen gewerkschaftlich organisiert sind, gerade 23% der arbeitenden Bevölkerung. In Nachbarländern wie Dänemark oder Österreich, gibt es eine größere gewerkschaftliche Gegenmacht. Wir haben, insbesondere in Ostdeutschland, nahezu gewerkschaftsfreie Zonen, in denen die Leute solche Angst vor Konsequenzen haben, dass sie sich fast wie in Geheimbünden verhalten und sich nicht trauen, mit ihren Kollegen über die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft auch nur zu sprechen.
Es gibt heute ein Dreiklassen-System in der Belegschaft. Die Stammarbeiter, die um ihre tariflich abgesicherten Löhne noch kämpfen und auch standhalten; die Leiharbeiter, die manchmal die gleiche Arbeit machen und nur die Hälfte oder sogar noch weniger bekommen. Und den ganzen Bereich der Scheinselbstständigkeit und Werkverträge. Im Buch schildert Jürgen Rose, der verdeckt bei Daimler gearbeitet hat, wie er die gleiche Arbeit am Fließband wie seine festangestellte Kollegen ausführt, aber um 40% weniger Lohn bekommt. Das ist auch bei VW oder bei BMW so.
Das Buch beschäftigt sich auch mit zwei Großen des Internethandels: Amazon und Zalando. Sie schreiben, das Prinzip des Internethandels ist überhaupt nicht so revolutionär, wie oft behauptet wird: Es geht darum, dass Händler Ware verkaufen und durch den Aufschlag für den Kunden Profit machen. Was der Internethandel aber revolutioniert, sind die Bestell- und Auslieferungswege. Was haben diese für Auswirkungen auf die Beschäftigten?
Es ist eine boomende Branche, die pro Jahr um sechs Prozent anschwillt. In der die Auslieferer, die diese Paketschwemme an den Verbraucher bringen, mit Dumpinglöhnen abgespeist werden. Diese Menschen jagen für drei, vier Euro in der Stunde herum. Gerade im Weihnachtsgeschäft sind die zum Teil bis zu 16 Stunden unterwegs und haben so gut wie kein Privatleben mehr.
Zalando kopiert Amazon auf schwindelerregende Weise. Dabei wette ich: in spätestens zwei Jahren platzt die Blase. Die fahren ja seit Jahren eine extrem aggressive Wachstumsstrategie, ohne Gewinne zu machen. Die Zustände bei Zalando, die ähnlich wie bei Amazon sind, zeigt eine Kollegin im Buch, die es dort drei Monate ausgehalten und verdeckt recherchiert hat. Trotz Klage ist die Reportage unzensiert im Buch. Wenn sie vor diesem Hintergrund Amazon Chef Jeff Bezos hören, der mit einer Mischung aus Größenwahn, Allmachtsphantasien und aggressivstem unternehmerischen Vorgehen öffentlich tönt, die Verlage seien für ihn wie Gazellen, die es zu jagen und zur Strecke zu bringen gelte, erkennt man seine Absicht. Ich selbst habe meinen Verlag angewiesen, meine Bücher nicht mehr an Amazon zu liefern. Leider kann ich es nicht verhindern, dass Amazon meine Bücher nun über zwischengeschaltete Buchhändler bezieht und anbietet. Allerdings kann Amazon auf diesem Weg nicht so hohe Rabatte erzwingen, wie es sonst von den Verlagen verlangt, sondern muss für die Bücher schlussendlich einen marktüblicheren Preis an die Zwischenbuchhändler bezahlen.
Zudem habe ich bei meinem Verlag durchgesetzt, dass meine Bücher nicht mehr über das Amazon-eigene Kindle E-Book vertrieben werden. Die meisten wissen nicht, dass sie sich damit abhängig machen. Wer ein Amazon Kindle hat, sitzt in der Falle, ist an Amazon gebunden und kann nicht zu den Formaten anderer Betreiber wechseln. Über Algorithmen kann zudem genau registriert werden, was und bis zu welcher Seitenzahl dort gelesen wird. Man wird zum gläsernen Leser, Huxley’s Brave New World ist da längst keine Fiktion mehr.
Ein übles Beispiel in der Branche ist auch Hermes. Vor kurzem erfuhr ich von Schleppern, die für Hermes Menschen aus Rumänien holen, die dann – der deutschen Sprache nicht mächtig – Verträge unterschreiben, deren Inhalt sie nicht kennen und mit ihrer Unterschrift plötzlich eine GBR gegründet haben (Anm: Gesellschaft bürgerlichen Rechts), ohne überhaupt zu wissen, für was sie damit haften. Männer und Frauen, die sich nicht kennen, werden zu acht in Unterkünfte gepfercht. Denen verspricht man 1000 Euro im Monat. Wenn sie einen Unfall haben, wird ihnen noch Geld abgezogen. Diese Zustände greifen um sich.
Was hat sich hier verändert, damit so etwas in der Breite möglich ist. Agieren die Konzerne heute aggressiver? Sind sie überlegener, weil sie global handeln? Ist der Druck am Arbeitsmarkt zu hoch?
Die Hartz-Reformen haben einiges in die falsche Richtung bewegt. Das geben ja heute auch einige zu, die das damals mitverantwortet haben und jetzt sehen, was sie angerichtet haben. Zum Beispiel die Möglichkeit, ohne Begründung befristete Arbeitsverträge abzuschließen, von der rege Gebrauch gemacht wird. Oder solche unterhalb der Armutsschwelle. Der Staat finanziert das noch, weil die Menschen durch staatliche Aufstockung mit dem Lebensnotwendigen versorgt werden.
Die Großen heuern Personal an wie im Durchlauferhitzer. Lange behalten die meisten ihren Arbeitsplatz nicht. Im statistischen Durchschnitt liegt die Verweildauer der Beschäftigten bei Zalando bei 12 Monaten. Bei Amazon zum Beispiel erfahren die Leute oft erst am letzten Beschäftigungstag, dass ihr Vertrag nicht verlängert wird. Der Begriff in der Unternehmensprache fürderartige Massen-Entlassungen lautet „ramp down“, das bedeutet, „die Rampe runter treiben“, wie auf dem Viehmarkt. Auf der anderen Seite verstärken die Arbeitsagenturen den Druck mit Androhung von Sperrzeiten und zahlen auch tatsächlich keine Arbeitslosenunterstützung, weil die Mitarbeiter drei Monate zuvor die Beendigung des Arbeitsverhältnisses hätten melden müssen. Die Arbeitsagentur aber versorgt Amazon dann mit neuen Arbeitern, sorgt also für den Nachschub.
Den Gekündigten werden z.B. bei Amazon auch gleich die Arbeitsschuhe weggenommen und es ist vorgekommen, dass die, die keine eigenen Schuhe dabei hatten, am 31. Dezember barfuß nach Hause laufen mussten. Man muss allerdings auch sagen, dass der Verbraucher ein Mitverantwortung hat: Wenn man alles immer nur billigst und schnellstens haben will, sollte wissen, wer das ausbaden muss.
Sie recherchieren seit vielen Jahren teils selbst in Betrieben und haben dabei viel Unrecht ans Licht gebracht. Gibt es etwas, das sie heute noch überrascht, wo sie sich zum Beispiel in der Recherche für das aktuelle Buch gedacht haben, das darf doch nicht war sein? Oder nimmt man irgendwann zu Kenntnis: Man muss immer wieder dieselben Probleme ins Bewusstsein bringen.
Die Unsicherheit franst aus – weg von den klassischen Industriebetrieben bis weit in die sogenannte Mittelschicht hinein. 25% des Mittelstandes sind in den letzten 15 Jahren nach unten abgerutscht. Die Reichsten profitieren. Wir sprechen hier nicht von Millionären, sondern von Multi-Milliardären. Das alleroberste Tausendstel der Bundesbürger, 80 000 Menschen, verfügt bereits über knapp ein Viertel des Vermögens. Die 10 reichsten Deutschen haben sich über 100 Milliarden Euro, das sind sechs Prozent, an Vermögenswerten gesichert. Die Kluft zwischen arm und reich ist soweit auseinander gegangen, dass sie zu einer Zerreißprobe für die Demokratie geworden ist. Die OECD sagt, es gebe nur 2 Länder, in denen sich die Kluft zwischen hohen und niederen Einkommen noch schneller auseinanderdividiert habe, als in Deutschland – Bulgarien und Rumänen.
Ich spreche deshalb nicht mehr von Klassen- sondern von Kastengesellschaft. Es gibt bereits die Kaste der Parier, der Unberührbaren, die die Gesellschaft ausgegrenzt und ausrangiert hat. Es gibt einen soziologischen Begriff für sie, die A-Gruppe: Arbeitslose, Alte, Arme, Alleinerziehende und Ausländer. Jedes zweite Kind von Alleinerziehenden lebt in Deutschland unter der Armutsgrenze. Dann braucht man sich nicht wundern, wenn Deutschland neben Japan weltweit die zweitniedrigste Kinderquote hat. Wo solche Beschleunigung und Auspressen von Arbeitskraft stattfindet, ist es kein Wunder, dass Kinder nicht mehr möglich sind und stabile Beziehungen nicht mehr entstehen.
Wie waren die Reaktionen der Unternehmen auf das Buch?
Früher wurden meine Bücher immer von Prozessen begleitet. Ich habe sie alle gewonnen. Daraus haben die Konzerne offenbar gelernt. Sie gehen nicht mehr juristisch dagegen vor, sondern versuchen sogar in Einzelfällen durch finanzielle Zugeständnisse ihr Gesicht zu wahren. Das nutze ich und wenn es dann gelingt, jemandem zu seinem Recht zu verhelfen, ist das eine größere Genugtuung, als wenn ich erneut veröffentliche. So konnte in etlichen Fällen hinter den Kulissen etwas erreicht werden. Im übrigen gehen alle Einnahmen des Buches in das Projekt Work Watch, eine Initiative, die antigewerkschaftliche Angriffe von Unternehmen und besonders eklatante Ausbeutungsformen thematisiert. Alle Spenden, die bis Ende 2015 an dieses Projekt gehen, verdopple ich außerdem, um weitere Recherchen von jungen Kollegen und Kolleginnen zu ermöglichen. Dabei geht es explizit nicht darum, der Gewerkschaft Konkurrenz zu machen, sondern begleitend zu wirken.
Und es gibt merkbare Reaktionen auf die RTL-Sendung „Team Wallraff“. Jede Sendung sehen bis zu 4,5 Millionen Menschen, hauptsächlich die Zielgruppe der 15-49 Jährigen, da merkt man tatsächlich, dass sich etwas tut und auch kritische oder soziale Themen langsam wieder ins Blickfeld geraten.
Das Interview führte Sylvia Kuba.
Das neue Buch, beziehbar zB. über: http://www.besserewelt.at/die-lastentraeger