Niedrige Arbeitslosenquoten und hohe Erwerbstätigenquoten gelten im Allgemeinen als Zeichen für gut funktionierende Arbeitsmärkte. Sinkende Arbeitslosenquoten werden als Hinweise auf eine Arbeitsmarkterholung oder auch für eine erfolgreiche Wirtschaftspolitik gesehen. Das trifft in vielen Fällen auch zu, aber nicht immer bilden diese Kennzahlen die zu Grunde liegende Realität so ab, wie man auf den ersten Blick vermutet und es sich wünschen würde. Es gibt Situationen, in denen die vertrauten Konzepte falsche Eindrücke wecken können – dies ist vor allem in schweren Krisen und in schwach entwickelten Volkswirtschaften der Fall.
Nach dem Labour-Force-Konzept (welches z.B. der EU-Arbeitskräfteerhebung zu Grunde liegt) soll die erwerbsaktive Bevölkerung so vollständig wie möglich erfasst werden, unabhängig von der Art der Erwerbstätigkeit. Auch Tätigkeiten mit sehr geringem Stundenausmaß oder Gelegenheitsarbeiten sollen mitgezählt werden. Der sich daraus ergebende sehr umfassende Begriff von Erwerbstätigkeit zählt die Menschen ab einer Stunde Erwerbsarbeit pro Woche zu den Erwerbstätigen.
Da die Erwerbstätigen und die Arbeitslosen als überschneidungsfreie Personengruppen konzipiert sind, muss der Arbeitslosigkeitsbegriff im Gegenzug sehr restriktiv gefasst sein. Neben den üblichen Erfordernissen der kurzfristigen Verfügbarkeit und der aktiven Arbeitssuche ist durch die oben erwähnte Ein-Stunden-Regel für die Erwerbstätigkeit praktisch jede Nebentätigkeit ausgeschlossen. Für die Arbeitslosenquote nach dem Labour-Force-Konzept wird die Zahl der Arbeitslosen in Bezug zu allen Erwerbspersonen gesetzt – das sind die Erwerbstätigen einschließlich der Selbständigen sowie die Arbeitslosen selbst.
Ausschließende Arbeitslosigkeit
Wenn Vollzeitbeschäftigung oder Teilzeit im gewünschten Ausmaß die Regel sind und Mehrfachbeschäftigung sowie Gelegenheitsarbeiten unterschiedlichster Art in einem Land eher die Ausnahme darstellen und weiters ein Unterstützungssystem für die betroffenen Arbeitslosen die Existenzsicherung garantiert, dann mag die Annahme der ausschließlichen Arbeitsplatzsuche während der Zeit der Arbeitslosigkeit durchaus angemessen sein.
In vielen Ländern der Welt sind allerdings die Bedingungen für diese „ausschließliche Arbeitslosigkeit“ entweder zum Teil oder zur Gänze nicht erfüllt. Dies betrifft insbesondere Entwicklungs- und Schwellenländer aber auch Länder, die von einer schweren wirtschaftlichen Krise getroffen wurden. Wenn die Arbeitslosenunterstützung größere Personengruppen ausschließt und/oder die Ersatzleistungen nicht einmal das Existenzminimum erreichen, können sich die betroffenen Personen die „Erwerbsabstinenz“ nicht leisten. Sie müssen dann auch kleinste sich bietende Verdienstmöglichkeiten annehmen. Das gleiche gilt für Personen, deren Unterstützungsanspruch erschöpft ist.
Weltweit betrachtet ist die „ausschließliche Arbeitslosigkeit“ für die meisten Arbeitslosen schlicht keine Option. Wenn eine Einkommensquelle wegfällt, müssen sich die Menschen in der Regel nach einer Ersatzbeschäftigung umsehen, auch wenn die Verdienstmöglichkeiten noch so gering sein mögen. In Entwicklungs- und Schwellenländern sind diese Ersatzbeschäftigungen oft im Bereich prekärer Selbständigkeit zu finden. In einer solchen Situation beispielsweise sind rückläufige Arbeitslosenzahlen bei steigender Erwerbstätigkeit kein Zeichen für die Verbesserung der wirtschaftlichen Lage, ganz besonders nicht für die Betroffenen.
Ähnlich gelagert ist es, wenn Menschen, die ihren Arbeitsplatz verlieren danach in einem Familienunternehmen gelegentlich aushelfen (was zB. Im Mittelmeerraum durchaus üblich ist) oder sich in der Nachbarschaft etwas verdienen (was auch bei uns anzutreffen ist). Durch die Ein-Stunden-Regel ist der Status der Erwerbstätigkeit praktisch sofort erreicht. Dadurch werden Personen, deren Einkommenssituation nicht besser ist als die von Arbeitslosen (in vielen Fällen kann sie sogar schlechter sein) zu den Erwerbstätigen gezählt.
Begrenzte Aussagekraft
Die Sinnhaftigkeit der Ein-Stunden-Regel soll damit nicht generell in Frage gestellt werden – die vollständige Erfassung der Erwerbsarbeit erfüllt ihren Zweck insbesondere auch für die Verwendung dieser Daten in den Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen – aber es sollte immer klar sein, dass die Aussagekraft der zentralen Kennzahlen – Arbeitslosenquoten und Erwerbstätigenquoten – zur Erfassung der Arbeitsmarktlage beschränkt ist, und in einer Vielzahl von Situationen zu voreiligen Schlussfolgerungen verleiten kann. Als Maß für die Unterbeschäftigungsprobleme einer Volkswirtschaft sind die beiden Größen jedenfalls in den meisten Fällen wenig geeignet. Alternative oder ergänzende Arbeitsmarktindikatoren, welche diese Probleme abmildern sollen werden seit geraumer Zeit in der Fachwelt diskutiert und getestet.
Fazit
In Österreich gibt es seit Jahrzehnten zusätzlich zur sogenannten „EU-Quote“ der Arbeitslosigkeit weiterhin eine nationale Arbeitslosenquote. Hierfür werden die beim Arbeitsmarktservice registrierten Arbeitslosen in Relation zu den unselbständigen Erwerbspersonen gesetzt: Das sind die sozialversicherungspflichtig Beschäftigten und die Arbeitslosen. Ausschließlich geringfügige Beschäftigung bleibt hier unberücksichtigt. Die österreichische nationale Quote liegt in der Regel deutlich über der EU-Quote: Einerseits weil im Nenner des Quotienten nur die unselbständig Beschäftigten gezählt werden, aber auch weil eine geringfügige Beschäftigung einen parallel bestehenden Status der Arbeitslosigkeit bei der Berechnung nicht überdeckt. Die grundsätzliche Sinnhaftigkeit des Nebeneinanderbestehens von zwei inhaltlich verschiedenen Arbeitslosenquoten sollte eigentlich in Anbetracht der dargestellten Probleme außer Streit stehen.