Die äußerst robuste Entwicklung des deutschen Arbeitsmarktes im jüngsten Jahrzehnt wird in der öffentlichen Debatte oft als Beleg für den Erfolg der Hartz-Reformen gewertet. Diese Neugestaltung des Arbeitslosengeldes kann aber nicht erklären, warum es in der Großen Rezession von 2008–2009, als das BIP drastisch eingebrochen ist, nicht zu einem massiven Beschäftigungsabbau gekommen ist, der den Arbeitsmarkt jahrelang belastet hätte. Hierfür sind andere Reformen verantwortlich, die es erlaubt haben, die Arbeitszeit in der Rezession deutlich zu reduzieren, und dadurch Kündigungen zu vermeiden.
Die Langzeitfolgen von Rezessionen
Rezessionen führten in Deutschland in der Vergangenheit immer zu einem starken Anstieg der Arbeitslosigkeit, der sich in den darauffolgenden Jahren teilweise verfestigt hat (Rezessionsjahre sind grau hinterlegt).
Dieser konjunkturelle Anstieg der Arbeitslosigkeit, der in den Folgejahren nicht wieder vollständig abgebaut und somit strukturell wird, nennt die wissenschaftliche Literatur „Hysterese“. Klinger und Weber zeigen anhand einer neuen Methode, die es erlaubt, zyklische von strukturellen Faktoren zu unterscheiden, dass der Großteil des Anstiegs der deutschen Arbeitslosigkeit bis vor der Großen Rezession (2008–2009) durch Hysterese verursacht ist.
Im Unterschied zu früheren Rezessionen kam es aber in der Großen Rezession von 2008–2009 zu keinem nennenswerten Anstieg der Arbeitslosigkeit, weil kaum Beschäftigte gekündigt wurden, wodurch auch keine Hysterese-Effekte wirksam werden konnten. Dies, obwohl Deutschland sehr stark von der Krise betroffen war.
Reales BIP und Personen in Erwerbstätigkeit in der Großen Rezession (Index: 2008Q1=100)
Vom Höhepunkt vor der Großen Rezession bis zum tiefsten Punkt in der Rezession ist das reale BIP um mehr als sechs Prozent gefallen, deutlich stärker als in früheren Rezessionen und auch stärker als im Durchschnitt des Euroraums (-5,5 Prozent) oder in den USA (-4,2 Prozent). Während aber fast alle Industriestaaten in den Folgejahren der Krise eine deutlich höhere Arbeitslosenquote als 2007 aufweisen, ist das in Deutschland nicht so. Die ungewöhnlich robuste Entwicklung des deutschen Arbeitsmarktes wurde bereits 2009 von Paul Krugman als „Germany’s jobs miracle“ bezeichnet. Wie lässt sich dieses Beschäftigungswunder erklären?
Das Beschäftigungswunder
Hilfreich zum Verständnis ist folgender definitorischer Zusammenhang: Das BIP, also die Marktwerte der Güter und Dienstleistungen, die in einer Volkswirtschaft in einer Periode produziert werden, setzt sich zusammen aus dem Produkt aus der Anzahl der Erwerbstätigen, der durchschnittlichen Arbeitszeit in Stunden sowie dem Marktwert dessen, was die Erwerbstätigen durchschnittlich in einer Arbeitsstunde produzieren – also der Stundenproduktivität.
In der Großen Rezession von 2008 bis 2009 ist das deutsche BIP stark gesunken, während die Anzahl der Erwerbstätigen konstant geblieben ist. Somit müssen entweder die Arbeitszeit oder die Stundenproduktivität, oder beide, stark gefallen sein.
Im Artikel „The German employment miracle in the Great Recession: the significance and institutional foundations of temporary working time reductions“ (im Erscheinen in Oxford Economic Papers) zeigen Alexander Herzog-Stein, Fabian Lindner und ich, dass die starke zyklische Reduktion der Arbeitszeit – also die temporäre Abweichung der Arbeitszeit von ihrem mittelfristigen Trend – in der Krise der zentrale Grund für die ungewöhnliche Stabilität am deutschen Arbeitsmarkt war.
Tatsächliche Arbeitszeit und Trendarbeitszeit, 1992–2012
Während die zyklische Reduktion der Arbeitszeit in früheren Rezessionen wenig zur Vermeidung von Kündigungen beigetragen hat, spielte diese in der Rezession von 2008–2009 eine äußerst ausgeprägte Rolle. Auch die zyklische Reduktion der Stundenproduktivität trug massiv dazu bei, dass sich der Rückgang der Wirtschaftsleistung kaum in Arbeitsplatzverlusten niederschlug – dies allerdings nur im üblichen Ausmaß verglichen mit früheren Rezessionen.
Rezessionsvergleich: Anteil der zyklischen BIP-Reduktion, der abgefedert wurde durch die zyklische Reduktion der Stundenproduktivität oder Arbeitszeit
Rezession I
(1973–1975)
Rezession II
(1979–1982)
Rezession III
(2001–2005)
Rezession IV
(2008–2009)
Stundenproduktivität
33.1 %
49.9 %
55.1 %
45.2 %
Arbeitszeit
20.8 %
22.5 %
-3.9 %
42.7 %
Summe
53.9 %
72.4 %
51.1 %
88.0 %
Hinweis: Die Tabelle zeigt den Anteil der zyklischen Reduktion des realen BIP für die zentralen Rezessionen seit den 1970er-Jahren, der abgefedert wurde durch die zyklische Reduktion der realen Stundenproduktivität oder Arbeitszeit, und somit nicht zu Beschäftigungsverlusten geführt hat. Quelle: DESTATIS; Adaption von Tabelle 3 in Herzog-Stein et al. (Oxford Economic Papers, im Erscheinen)
Unseren Schätzungen zufolge hat die starke Reduktion der Arbeitszeit 660.000 Arbeitsplätze oder 1,6 Prozent der Gesamtbeschäftigung über die Krise gerettet. Aus der Makroperspektive betrachtet, wurde also der Arbeitsnachfrageschock durch die Arbeitszeitverkürzung auf viele Köpfe aufgeteilt und so Entlassungen im großen Stil vermieden.
Während die öffentlich finanzierte und zu Beginn der Krise generös erweiterte Kurzarbeiterregelung hierbei eine wichtige Rolle gespielt hat, zeigen unsere Ergebnisse, dass zwei neue, von den Sozialpartnern implementierte Instrumente sogar wichtiger waren – Arbeitszeitkonten und Änderungen in der Regelarbeitszeit. Das Beschäftigungswunder kann somit als Ergebnis des erfolgreichen Zusammenspiels von Sozialpartnern und Regierung gewertet werden.
Komponenten der Änderung in der zyklischen Arbeitszeit in Arbeitsstunden je Beschäftigter/m per Quartal, 2005–2012