Die Gegensätze könnten fast nicht größer sein. Die Eurozone insgesamt befindet sich in der schwersten Beschäftigungskrise seit Einführung der Gemeinschaftswährung. Gleichzeitig wurde in Deutschland im abgelaufenen Jahr 2012 erneut ein neuer Beschäftigungsrekord vermeldet. Die Arbeitslosenquote belief sich laut Eurostat in Deutschland im Jahresdurchschnitt 2012 auf 5,5 Prozent, dem niedrigsten Stand seit 1991, während sie in der Eurozone ein besorgniserregendes Niveau erreicht hat und insgesamt bei 11,4 Prozent lag. Und die aktuell vorliegenden Prognosen deuten darauf hin, dass sich diese gegensätzliche Entwicklung in diesem und im nächsten Jahr noch weiter zuspitzen wird.
Die Große Rezession infolge der globalen Finanzkrise und die Austeritätspolitik bewirkten in den Jahren 2007 bis 2012 einen Anstieg der Arbeitslosenquote in der Eurozone um 4,5 Prozentpunkte. Ein erheblicher Anteil der Arbeitslosigkeit in der Eurozone ist also nachfragebedingt und die Beschäftigungskrise damit hausgemacht. Dennoch wird propagiert, dass die inflexiblen Arbeitsmärkte in den von der Krise besonders betroffenen Volkswirtschaften für die Beschäftigungskrise verantwortlich zu machen sind. Deshalb seien Arbeitsmarktreformen mit der Absicht einer Deregulierung der Arbeitsmärkte und eine Dezentralisierung der Lohnfindung notwendig.
Hartz-Reformen als Vorbild für Europa?
Vor diesem Hintergrund ist es wenig überraschend, dass immer mehr Stimmen zu hören sind, die in den deutschen Arbeitsmarktreformen, den sogenannten Hartz-Reformen, eine Blaupause für die Bewältigung der europäischen Beschäftigungskrise sehen. Nichts desto trotz ist dies verwunderlich, denn in Deutschland ist die Wirksamkeit der Arbeitsmarktreformen nach wie vor wissenschaftlich umstritten und die Kausalität zwischen den Arbeitsmarktreformen und den Beschäftigungsrekorden bislang nicht belegt. Dies verdeutlicht eine kürzlich veröffentlichte Analyse von Gustav Horn und mir, die die Beschäftigungsentwicklung in Deutschland seit der deutschen Vereinigung etwas genauer untersucht. Unsere Ergebnisse ziehen die Bedeutung der Arbeitsmarktreformen für die Beschäftigungserfolge der letzten Jahre in Zweifel. Sie liefern damit gleichzeitig nützliche Hinweise für die richtige Strategie zur Bewältigung der Beschäftigungskrise in Europa.
Zwar gab es laut Statistischem Bundesamt 2012 rund 2,7 Millionen Erwerbstätige mehr in Deutschland als 2003, jedoch wies die Beschäftigung schon lange vor den Arbeitsmarktreformen einen positiven Wachstumstrend auf. Seit dem Tiefststand im Jahr 1994 ist die Zahl der Erwerbstätigen in Deutschland – abgesehen von konjunkturellen Schwankungen – nunmehr seit mehr als 18 Jahren trendmäßig nach oben gerichtet. Gleichzeitig aber hat sich die Struktur der Erwerbstätigkeit erheblich verändert. Die Vollzeitbeschäftigung nahm deutlich ab und die Zahl der Teilzeitbeschäftigten und die der Selbständigen nahmen spürbar zu.
Das Arbeitsvolumen, das ein besserer Indikator für die tatsächliche Entwicklung des Arbeitseinsatzes in einer Volkswirtschaft ist, war 2012 aber nicht höher als 1994. Die beachtlichen Beschäftigungszuwächse gingen also insgesamt mit einer erheblichen gesamtwirtschaftlichen Arbeitszeitverkürzung und damit einer Umverteilung der Arbeit auf deutlich mehr Köpfe einher. Und unter qualitativen Gesichtspunkten ist die Entwicklung durchwachsen, denn atypische und prekäre Beschäftigung haben erheblich zugenommen.
Die Beschäftigungsintensität misst die prozentuale Beschäftigungszunahme, die mit einem Anstieg des Bruttoinlandsprodukts in Höhe von einem Prozent einhergeht, Vergleicht man die Konjunkturzyklen seit dem Inkrafttreten der Arbeitsmarktreformen mit dem Zyklus unmittelbar davor, dann zeigt sich, dass sie in den letzten beiden Aufschwüngen, die in der zeitlichen Abfolge nach den Arbeitsmarktreformen in Deutschland folgten, niedriger war als in dem Aufschwung unmittelbar vor den Arbeitsmarktreformen. Das Wirtschaftswachstum ist in Deutschland nach den Arbeitsmarktreformen also nicht beschäftigungsintensiver geworden. Das heißt eine strukturelle Verbesserung über die konjunkturellen Effekte hinaus durch die Arbeitsmarktreformen ist nicht auszumachen.
Verkürzung der Arbeitszeit und Erhöhung der internen Flexibilität sichern Beschäftigung in der Krise
Aber erfreulicherweise waren die letzten beiden Aufschwungphasen um einige Quartale länger als der Vergleichsaufschwung vor den Hartz-Reformen. Ganz besonders sticht die Beschäftigungsentwicklung während der Großen Rezession 2008/09 ins Auge. Während in allen vorherigen Abschwungphasen die Beschäftigung zurückging, ist es während des schwersten Wirtschaftseinbruchs der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte gelungen, einen solchen Einbruch zu verhindern und gesamtwirtschaftlich die Beschäftigtenzahl zu stabilisieren. Ursächlich für die erfolgreiche Beschäftigungssicherung in der Krise war eine in sich schlüssige Beschäftigungspolitik durch das Zusammenspiel von Sozialpartnern und Politik im Rahmen des deutschen Systems der industriellen Beziehungen und insbesondere der Mitbestimmung.
Während der Großen Rezession wurde die Arbeitszeit stärker als in der Vergangenheit verkürzt und so das Arbeitsvolumen infolge des Nachfrageeinbruchs reduziert, ohne dass es gesamtwirtschaftlich zu einem Beschäftigungseinbruch kam. Die Sozialpartner haben dies durch die tarifvertragliche Schaffung und den betrieblichen Einsatz einer Vielzahl von arbeitszeitpolitischen Instrumenten wie beispielsweise Arbeitszeitkonten und Korridoren bei der Regelarbeitszeit möglich gemacht. So wurde die betriebsinterne Flexibilität stark erhöht. Die Politik stabilisierte die Wirtschaft darüber hinaus durch Konjunkturprogramme und leistete durch die großzügige Ausgestaltung des arbeitsmarktpolitischen Instruments der Kurzarbeit einen wichtigen Beitrag zur internen Flexibilität in der Krise. Es spricht einiges dafür, dass hier der Schlüssel für die Beschäftigungsrekorde der letzten Jahre liegt. Mit den Arbeitsmarktreformen hatte dies aber nichts zu tun. Wesentliche Teilaspekte der Arbeitsmarktreformen wie beispielsweise die Deregulierung der Leiharbeit und die Lockerung des Kündigungsschutzes zielten darauf ab, die externe Flexibilität zu erhöhen, das heißt die Möglichkeit den Arbeitseinsatz durch Einstellungen und Entlassungen zu variieren, und nicht die interne Flexibilität.
All dies verdeutlicht, dass eine auf Wachstum und Beschäftigungssicherung abzielende in sich schlüssige Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik im Rahmen etablierter korporatistischer Strukturen am besten geeignet erscheint, richtige Antworten auf wirtschaftspolitische Herausforderungen der europäischen Beschäftigungskrise zu finden. Im Zusammenspiel von Politik und Sozialpartnern auf nationaler und europäischer Ebene wäre so eine kurzfristige Stabilisierung der europäischen Volkswirtschaften möglich. Damit könnte auch eine längere Phase nachhaltigen Wirtschaftswachstums erreicht werden, in der neue Arbeitsplätze entstehen können und die Beschäftigungskrise erfolgreich bekämpft werden kann.
Umso bedauerlicher ist es, was derzeit innerhalb der Eurozone zu beobachten ist: Eine kurzsichtige Austeritätspolitik ignoriert alle makroökonomischen Zusammenhänge und hat das gemeinsame europäische Projekt in seine schwerste Vertrauenskrise gestürzt und eine Beschäftigungskrise verursacht, wie sie nach den Lehren und Erfahrungen der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre für unvorstellbar gehalten wurde. Gleichzeitig werden den Krisenstaaten umfassende Arbeitsmarktreformen im Zusammenhang mit den Finanzhilfen „verordnet“ und dabei leichtfertig bestehende Arbeitsmarktinstitutionen zerschlagen Wir sehen uns also mit wirtschaftspolitischen Maßnahmen konfrontiert, die einer Lösung der aktuellen Probleme diametral entgegenwirken. In Europa ist daher ein Umdenken dringend notwendig.