Arbeitslosigkeit in Deutschland und Österreich: Was steckt hinter den divergierenden Arbeitslosenquoten?

07. November 2017

Viele Jahre nach dem Ausbruch der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 verbessert sich die Arbeitsmarktsituation in Europa nur langsam. Österreich hat seine Spitzenposition mit der niedrigsten Arbeitslosigkeit verloren – diese hat Deutschland übernommen. Die österreichische Regierung erntete folglich viel Kritik. Gefordert werden Arbeitsmarktreformen nach deutschem Vorbild à la „Hartz IV“. Aber die Vergleiche hinken und hinter den Forderungen stecken beinharte Interessen.

Bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass sich die Entwicklung der Beschäftigung in den letzten Jahren in Deutschland kaum von jener in Österreich unterscheidet. Die Anzahl an Beschäftigten in Deutschland ist von 2008 bis 2016, ausgehend von einer ähnlichen Beschäftigungsquote, um 8,3 Prozent gewachsen – in Österreich hingegen ist die Zahl der Beschäftigten sogar um 8,7 Prozent gestiegen. Die Beschäftigungsquote, nach Eurostat ein Strukturindikator über den Zustand von Arbeitsmärkten und der Wirtschaft im Allgemeinen, zeigt, dass sich Deutschland in Bezug auf das Arbeitskräfteangebot und die Nachfrage in einer ähnlich schwierigen Lage wie Österreich befindet. Auch die Betrachtung der BIP-Entwicklung in den beiden Ländern unterstützt die Hypothese, dass der deutsche Erfolg in Bezug auf die fallende Arbeitslosenquote nicht auf die hohe Wettbewerbsfähigkeit und günstige makroökonomische Entwicklung zurückzuführen ist. Deutschland weist nämlich ähnliche Wachstumsraten des BIP wie Österreich auf. Wie kann es also sein, dass sich bei nahezu gleichem Beschäftigungswachstum und einem ähnlich gravierenden Wirtschaftseinbruch nach 2008 die deutsche Arbeitslosenquote besser entwickelt hat als die österreichische?

Demographische Entwicklung

Zum Teil ist die demographische Entwicklung in Deutschland für die niedrige Arbeitslosenquote verantwortlich. Bei einem Vergleich der Entwicklung der Anzahl an Personen im erwerbsfähigen Alter und der Arbeitslosenquote kann man klar erkennen, dass es einen Zusammenhang zwischen den beiden Variablen gibt. Ein geringeres Wachstum dieser Bevölkerungsgruppe wird mit einer geringeren Arbeitslosigkeit im jeweiligen Land in Verbindung gebracht. In Österreich ist die Personengruppe zwischen 20 und 64 Jahren von 2008–2016 um rund fünf Prozent gewachsen, während sie in Deutschland stagnierte. Wenn also die Erwerbsbevölkerung eines Landes steigt, so muss die Anzahl an Beschäftigten im gleichen Maße steigen, um die Arbeitslosenquote konstant zu halten. Wächst hingegen die Beschäftigung in Deutschland in ähnlichen Größenordnungen, sinkt die Arbeitslosenquote, da die Bevölkerungsentwicklung stagniert. Diese Entwicklung führte so zu günstigeren Bedingungen am Arbeitsmarkt in Deutschland. Diese demographische Entwicklung ist zum Teil auch durch eine größere Zuwanderung in Österreich als in Deutschland bedingt. Von 2004 bis 2015 stieg die Nettozuwanderung in Deutschland um 3,1 Mio. Menschen bzw. um 3,8 Prozent (im Verhältnis zur Bevölkerung im Jahr 2004). In Österreich war der Anstieg der Nettozuwanderung mit rund 490.000 Menschen bzw. mit sechs Prozent relativ betrachtet zur Bevölkerung stärker ausgeprägt.

Da die Anzahl an Personen im erwerbsfähigen Alter in Österreich stärker gestiegen ist, wird auch ein größerer Zuwachs bei der Erwerbsbevölkerung, also bei der Summe an Beschäftigten und Arbeitssuchenden, in Österreich beobachtet. Neben der Zuwanderung spielt hier auch die steigende Erwerbsbeteiligung von Frauen eine Rolle. Diese ist in den letzten zehn Jahren in Österreich um 14,8 Prozent gestiegen, im Gegensatz zu jener in Deutschland, die um nur 6,3 Prozent angestiegen ist. Mehr Frauen in Österreich als in Deutschland entschlossen sich in den letzten zehn Jahren, einer Erwerbsarbeit nachzugehen oder aktiv nach Erwerbsarbeit zu suchen und scheinen daher auch in den Arbeitsmarktstatistiken auf.

Krisenmaßnahme: Kurzarbeit

In Deutschland führte im Unterschied zu früheren Rezessionen die Große Rezession von 2008, trotz eines deutlichen Falls des BIPs um 5,6 Prozent, zu einem geringen Anstieg der Arbeitslosigkeit. Grund dafür ist die geringe Anzahl an Kündigungen. Die Einführung eines Kurzarbeit-Programms mit verbesserten Zugangsmöglichkeiten und erhöhter staatlicher Förderung stabilisierte den deutschen Arbeitsmarkt durch eine starke temporäre Reduktion der Arbeitszeit der einzelnen Arbeitenden. Eine Studie des WIFO zeigt die Wirkung der Kurzarbeit in Österreich und Deutschland. Der starke Nachfrageschock der Krise wurde durch die Kurzarbeit auf mehr Köpfe aufgeteilt, also nicht nur auf die Entlassenen und außerdem wurden mit finanziellen Leistungen die Arbeitsausfälle zumindest zum Teil kompensiert. Darüber hinaus wurden verstärkt auch andere Maßnahmen zur Regulierung der Arbeitszeit, nämlich Arbeitszeitkonten und Änderungen in der Regelarbeitszeit, implementiert, die sich als nützlich erwiesen, um die Arbeitslosenquote zu stabilisieren. Österreich förderte zwar auch Programme für Kurzarbeit, aber in Deutschland zeigte sich eine höhere und breitere Inanspruchnahme der Kurzarbeitsprogramme und eine größere Verteilung der Kurzarbeit auf verschiedene Branchen. Außerdem profitierten die deutschen Unternehmen von mehr Erfahrungswerten aus der Vergangenheit auf dem Gebiet der Kurzarbeit.

Dekoratives Bild © A&W Blog
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Trotz des drastischen Einschnitts im BIP kann gleichzeitig in Deutschland kaum eine Erhöhung der Arbeitslosenquote in diesem Zeitraum beobachtet werden. Für diese temporäre Stabilisierung kann zu einem großen Teil die Kurzarbeit verantwortlich gemacht werden. Der/Die durchschnittliche Beschäftigte in Deutschland arbeitete auch im Jahr 2016 noch 1,4 Stunden pro Woche weniger, als ein/e Beschäftigte/r in Österreich, was ein geringeres deutsches Arbeitsangebot bedeutet.

Langzeitarbeitslosigkeit und Erwerbsarmut

Zwar ist die Arbeitslosenquote in Deutschland geringer als in Österreich, jedoch weist Deutschland höhere Raten bei der Langzeitarbeitslosigkeit auf, was zeigt, dass die Arbeitsmarktreformen nur bedingt erfolgreich waren. So sind in Deutschland 40,8 Prozent aller Arbeitslosen schon länger als ein Jahr ohne Arbeit. Dieser Indikator ist zwar seit 2012 gefallen, aber trotzdem noch signifikant höher als in Österreich, wo 32,3 Prozent länger als ein Jahr arbeitslos sind. Langzeitarbeitslosigkeit erhöht das Risiko sozialer Ausgrenzung und Armut und bedeutet oft für Kinder, die in einem langfristig erwerbslosen Haushalt leben, Armut in der Zukunft. Langzeitarbeitslosigkeit verursacht also auch langfristige Problematiken. Höhere österreichische Investitionen in aktive Arbeitsmarktpolitik sind zumindest teilweise für die niedrigeren Langzeitarbeitslosenquoten verantwortlich. Weiters können die sehr geringe Unterstützung und die Ausgliederung von Langzeitarbeitslosen aus der Arbeitslosenversicherung infolge der Hartz-IV-Reform aus dem Jahr 2004 als Ursachen für die hohe Langzeitarbeitslosigkeit ausgemacht werden.

Außerdem weisen Deutschland und Österreich Unterschiede hinsichtlich der Erwerbsarmut auf, wobei jene Erwerbstätigen, die ein Einkommen von unter 60 Prozent des Medianeinkommens verdienen, als erwerbsarm gelten. In Deutschland leben 9,7 Prozent der Erwerbstätigen über 18 Jahre in Armut, während dies in Österreich auf 7,9 Prozent dieser Gruppe zutrifft. Dies zeigt, dass viele, die in Deutschland einen Job haben, keinen existenzsichernden Lohn verdienen und unter der Armutsgrenze leben. Bei einer Betrachtung von mehr Indikatoren als nur der Arbeitslosenquote scheint also der Erfolg am deutschen Arbeitsmarkt im Vergleich zu jenem am österreichischen geringer, als bisher öffentlich propagiert.

Fazit

In Deutschland – und in geringerem Ausmaß auch in Österreich – war Kurzarbeit ein wichtiges Instrument, um Arbeitslosigkeit in Krisenzeiten einzudämmen. Im Vergleich zu Österreich spielte auch die unterschiedliche Entwicklung der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter eine große Rolle, deren Stagnation in Deutschland einen großen Teil zur Reduktion der Arbeitslosenquote beitrug. Deutschland konnte durch diese Faktoren eine sinkende Arbeitslosenquote erzielen, steht dafür aber im Gegensatz zu Österreich stärker vor den Problemen der Langzeitarbeitslosigkeit und Erwerbsarmut als Folge der Hartz-IV-Reformen. Wer Hartz IV propagiert, nimmt bewusst diese negativen Konsequenzen in Kauf und verfolgt das Ziel einer Ausweitung des Niedriglohnsektors. Die Erfahrungen in Deutschland zeigen, dass existenzsichernde Löhne und eine angemessene Nettoersatzrate bei Arbeitslosigkeit unabdingbar bleiben, um Armut unter den Arbeitslosen und Pensionisten als auch unter den Erwerbstätigen zu verhindern. Außerdem erscheint eine aktive Arbeitsmarktpolitik als sinnvolles Instrument, um Langzeitarbeitslose wieder in den Arbeitsmarkt zu integrieren.

Quellen:

Eurostat (2017): Eurostat Database. Online: http://ec.europa.eu/eurostat/data/database  (am:  14.9.2017).

Marterbauer, M. (2015): German Economic Success: Luck and Neglected Problems. In: B. Unger (Hrsg.): The German Model – Seen by its Neighbours (349–358). Online: http://www.iaq.uni-due.de/aktuell/veroeff/2015/knuth_German_Model.pdf (am: 15.9.2017)