Die Reichen werden reicher, die Armen ärmer – Verteilungsgerechtigkeit in Österreich und Deutschland

13. Oktober 2017

Das Thema der Einkommens- und Vermögensungleichheit hat Konjunktur. Spätestens seit der Finanzmarktkrise ist es mit Wucht ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Es ist noch nicht lange her, da blieben Beobachtungen zur Reichtumskonzentration, zur Armutszunahme oder zur materiellen Spreizung zwischen oben und unten unbeachtet. Während in der Gesellschaft und Wissenschaft verteilungspolitische Missstände weitestgehend erkannt wurden, zeigte sich die Politik wenig beeindruckt. Insbesondere die Forderung nach höherer und gerechterer Besteuerung von hohen Vermögen und Erbschaften lief bisher weitgehend ins Leere.

Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) legt im „Verteilungsbericht 2017: Jetzt handeln – Ungleichheit bekämpfen“ aktuelle Entwicklungen der funktionalen und personellen Einkommens- und Vermögensverteilung dar und zeigt politische Handlungsoptionen auf, um der stetig wachsenden Ungleichheit zu begegnen.

Der Bericht belegt die bittere Realität, dass unsere Gesellschaften immer ungleicher werden. Die Zahl der Superreichen und ihr Vermögen nehmen stetig zu, die Zahl der von Armut bedrohten Personen wächst. Trotz guter wirtschaftlicher Lage und eines robusten Arbeitsmarkts sind Annäherungen nicht in Sicht.

Die Ungleichheit in Deutschland und Österreich

Sowohl in Deutschland als auch in Österreich ist im langfristigen Trend der Anteil der Löhne am Volkseinkommen rückläufig (Lohnquoten), während das Unternehmens- und Vermögenseinkommen in den vergangenen Jahren zunahm.

Die realen, also preisbereinigten Löhne und Gehälter haben sich in Deutschland und Österreich in den vergangenen Jahren im internationalen Vergleich unterdurchschnittlich entwickelt. Sie stiegen seit der Jahrtausendwende in beiden Ländern durchschnittlich um nur 0,2 % pro Jahr. Etwas anders sieht die Entwicklung seit dem Jahr 2010 aus. Während die realen Einkommen in Deutschland immerhin moderat um 1,3 % jährlich anstiegen, mussten die ArbeitnehmerInnen in Österreich gar reale Einkommensverluste (–0,2 %) verkraften.

Die personelle Verteilung der Einkommen ist in Deutschland und Österreich sehr ungleich. Gründe hierfür sind u. a. im politischen Umgang mit atypischen und prekären Beschäftigungsformen, im Ausbau des Niedriglohnsektors sowie in einem Steuer- und Abgabensystem, das auch kleine und mittlere Einkommen stark belastet, zu finden. In Deutschland sind die Einkommen innerhalb der Gesellschaft sowohl vor als auch nach Steuern und staatlichen Transfers ungleicher verteilt als in Österreich. Zumindest in Deutschland nimmt der Staat heute die Rolle eines ausgleichenden, verteilungsgerechten Akteurs weniger wahr als noch zwei Dekaden zuvor.

Neben der direkten Verteilungswirkung ist aber noch seine indirekte Rolle als Gesetzgeber zu berücksichtigen. So kann auch durch Stärkung der Mitbestimmungsrechte von Belegschaften, betrieblichen Interessenvertretungen und der Gewerkschaften die Ungleichheit der primären Verteilung abgefedert werden. Hier konnten in der vergangenen Legislaturperiode in Deutschland wieder Fortschritte verzeichnet werden, nicht zuletzt durch die Einführung des gesetzlichen Mindestlohnes im Jahr 2015.

In beiden Ländern gibt es gravierende Einkommensunterschiede auch zwischen den Geschlechtern. Der Gender-Pay-Gap beschreibt die Differenz der Löhne zwischen abhängig beschäftigten Männern und Frauen über alle Branchen, Berufe und Beschäftigungsformen hinweg. Diese Verdienstlücke beträgt in Deutschland und Österreich rund 22 %, während sie europaweit durchschnittlich 16,3 % ausmacht. Damit rangieren beide Staaten im internationalen Vergleich in der Schlussgruppe. Die Verdienstunterschiede zwischen Frauen und Männern haben aber auch Auswirkungen auf die Zukunft der Betroffenen, da sie geringere Rentenansprüche im Laufe ihres Arbeitslebens erwerben. Besonders Frauen sind somit dem Risiko der Altersarmut ausgesetzt.

Entsolidarisierung der Gesellschaft

Noch eklatant ungleicher als die Einkommen sind die Vermögen verteilt. So besitzt in Deutschland das vermögendste 1 % mehr Nettovermögen als 87,6 % der erwachsenen Bevölkerung. Oder anders gesagt: 67.000 Menschen haben mehr als knapp 59 Millionen BundesbürgerInnen. In Österreich verhält es sich ähnlich: Das reichste 1 % verfügt über mehr Vermögen als 86 % der erwachsenen Bevölkerung zusammen. Lediglich in den USA (95,8 %), in Schweden (93,2 %), in der Tschechischen Republik (92,5 %) sowie in Israel (90,3 %) ist das Vermögen noch stärker konzentriert.

Von einer übermäßigen steuerlichen Belastung der Reichen, Vermögenden und BezieherInnen großer Erbschaften kann hingegen keine Rede sein. Vielmehr hat sich diese Personengruppe im Laufe der Zeit sukzessive von der Finanzierung des Allgemeinwohls verabschiedet. In Deutschland machen vermögensbezogene Steuern, also Vermögensteuer, Erbschaft- und Schenkungsteuern, Grundsteuer, Steuern auf Übertragungen und Steuern auf Finanz- und Kapitaltransaktionen lediglich 2,6 % des Gesamtsteueraufkommens aus, in Österreich gar nur 1,4 %. Zum Vergleich: Der OECD-Durchschnitt liegt bei 5,6 %.

Die zahlreichen Steuergeschenke der letzten Jahre für Reiche, Vermögende und ErbInnen belasteten den Haushalt um mehrere Milliarden Euro jährlich. Das Geld fehlt an allen Ecken und Enden, erkennbar vor allem an der maroden öffentlichen Infrastruktur.

Wachsende Ungleichheit ist nicht nur sozial ungerecht und nimmt Menschen Lebenschancen, sondern schadet auch dem wirtschaftlichen Wachstum. Durch eine ungleiche Verteilung gehen volkswirtschaftliche Wachstumspotenziale dauerhaft verloren. Die ungleiche Verteilung der finanziellen bzw. materiellen Ressourcen stellt aber auch eine Gefahr für den gesellschaftlichen Zusammenhalt dar. Armut verkürzt darüber hinaus die durchschnittliche Lebenserwartung. Einkommensärmere müssen zumeist gesundheitlich schädlichere Arbeiten verrichten. Aus finanziellen Gründen sind sie oft von adäquater ärztlicher Versorgung ausgeschlossen.

Die aufkeimenden rechtspopulistischen, nationalistischen und antieuropäischen Tendenzen sind Ausdruck dessen, dass sich ein immer größerer Teil der Bevölkerung von der ökonomischen Teilhabe ausgegrenzt fühlt. Somit zieht ökonomische Ungleichheit unmittelbare politische Folgen nach sich.

Lösungsansätze

Die prekäre und atypische Beschäftigung muss zurückgedrängt werden. Oberste Prämisse einer gerechten Arbeitsmarktpolitik sollte es daher sein, sozialversicherungspflichtige Beschäftigung zu fördern. Die in den vergangenen Jahren solide Einkommensentwicklung in Deutschland muss verstetigt werden. Sicher: Hier sind die Gewerkschaften gefragt. Aber auch die Politik muss unterstützend durch Stärkung der Tarifbindung und wirksame Nutzung des Instruments der Allgemeinverbindlicherklärung aktiv werden. Dies sichert Mindeststandards im Arbeitsleben und wirkt unfairen Wettbewerbsverzerrungen entgegen.

Die Einkommenskluft zwischen Frauen und Männern muss überwunden werden. Dazu bedarf es der Förderung der Vereinbarkeit von Beruf und Familie durch den flächendeckenden Ausbau qualitativ hochwertiger Betreuungseinrichtungen für Kinder und den Ausbau einer Betreuungsinfrastruktur für Pflegebedürftige sowie partnerschaftliche Anreize bei der Nutzung des Elterngeldes und der Verteilung von Erwerbs- und Sorgearbeit. Soziale Berufe, in denen überwiegend Frauen tätig sind, müssen finanziell aufgewertet werden.

Die solidarische, generationen- und geschlechtergerechte gesetzliche Rentenversicherung muss dauerhaft gestärkt werden, um drohenden sozialen Abstieg oder gar Altersarmut für viele Beschäftigte zu verhindern.

Schließlich brauchen wir ein gerechtes Steuersystem. Vermögende und reiche ErbInnen haben sich von der Finanzierung des Gemeinwohls verabschiedet. Das muss sich ändern: Es bedarf dringend der Wiedereinführung der Vermögensteuer, einer gerechten Einkommensteuer sowie einer wirkungsvollen Erbschaftsteuer. Die deutsche Erbschaftsteuer wird dem Anspruch eines verteilungsgerechten Instruments seit Langem nicht gerecht. Sie privilegiert nach wie vor sehr hohe Betriebsvermögen. Reichtum wird somit über Generationen hinweg ungeschmälert weitervererbt.

Die Wahlen in den europäischen Mitgliedstaaten zeigen: Viel Zeit bleibt der Politik nicht mehr, will sie das Friedensprojekt Europa erhalten.