Das Pensionsthema wird generell sehr heftig und kontrovers diskutiert. Pointierte und teilweise auch überspitzte Beiträge können dabei für den Diskussionsprozess mitunter durchaus bereichernd sein. Es sollte aber stets auf Sachlichkeit Bedacht genommen werden. Jüngste Argumentationen von Neos-Sozialsprecher Gerald Loacker im Zusammenhang mit der Entwicklung des effektiven Pensionsantrittsalters, die Eingang in die mediale Berichterstattung fanden, ließen diese jedoch vermissen. Abstruse Behauptungen auf der Basis von haarstäubenden Berechnungen sind für eine sachliche Debatte ausschließlich kontraproduktiv.
Verwirrungen um das Pensionsantrittsalter
In letzter Zeit wurde medial mehrfach berichtet, dass der offiziell ausgewiesene Anstieg des effektiven Pensionsantrittsalters in Österreich bloß ein „künstlicher“ sei und dass „das Antrittsalter nur langsam – oder gar nicht“ steige, „je nachdem, welcher Statistik man traut“. So argumentiert Günther Oswald in der Tageszeitung „Der Standard“, dass der ausgewiesene Anstieg im Wesentlichen auf eine geänderte Zählweise zurückzuführen sei, die seit 2014 aufgrund der Änderungen bei den Invaliditätspensionen angewendet wird. Wenn man die Rehabilitationsgeld-BezieherInnen „so wie früher“ als PensionistInnen zählen würde, zeige sich, „dass es de facto kaum eine Entwicklung beim Antrittsalter“ geben würde. „Durch Tarnen und Täuschen drückt sich die Regierung vor der größten Reformbaustelle der Republik, dem Pensionsbereich“, wird dann resümierend Neos-Sozialsprecher Gerald Loacker zitiert.
Die Behauptung, dass es beim Antrittsalter „de facto kaum eine Entwicklung“ geben würde, ist falsch. Bei den angesprochenen Änderungen handelt es sich keineswegs um eine bloße Umbenennung einer Leistung oder eine geänderte Zählweise, sondern um weitreichende materielle Rechtsänderungen und das Rehabilitationsgeld stellt eben definitiv keine Pensionsleistung dar. Aber selbst auf Basis des eigentlich irreführenden „integrierten Antrittsalters“ – also unter Miteinrechnung von RehabilitationsgeldbezieherInnen – zeigt sich mittelfristig ein deutlich steigendes Antrittsalter. Das ist angesichts der zahlreichen weitreichenden Maßnahmen, die zur Anhebung des Pensionsantrittsalters umgesetzt wurden, auch nicht weiter verwunderlich.
Besonders absurd muten die in dem oben angesprochenen Artikel wiedergegebenen Berechnungen des Nationalratsabgeordneten an, nach denen sich „Österreich“ viel Geld ersparen könnte, wenn man ein Antrittsalter hätte wie Länder, in denen die Menschen deutlich später in den Ruhestand treten. Daraus resultiert auch die Schlagzeile des Artikels „Pensionsantrittsalter der Deutschen würde Österreich sechs Milliarden ersparen“.
Schlichtweg Unsinn
Journalistische Artikel in einer Tageszeitung werden zumeist unter hohem Zeitdruck geschrieben. Dennoch hätte sich zumindest auf den zweiten Blick für einen mit dem Pensionsthema vertrauten Wirtschaftsjournalisten erkennen lassen können, dass die „Loacker-Berechnungen“ schlichtweg Unsinn sind.
Nicht nur, dass hier Äpfel mit Birnen – oder eher Wassermelonen – verglichen werden, sie basieren auch auf einer völligen Fehleinschätzung von elementaren Zusammenhängen.
Die von Loacker angegebenen Vergleichswerte anderer Länder geben offensichtlich ein – nicht ganz aktuelles – „durchschnittliches“ Austrittsalter aus dem Erwerbsleben der Männer wieder, als Quelle wird die OECD angeführt, die das „durchschnittliche“ Austrittsalter nur nach Geschlecht differenziert ausweist. Tatsächlich stimmen die aktuellen Werte der OECD mit den Angaben Loackers nicht überein, sondern liegen für die OECD insgesamt um ein knappes halbes Jahr höher, was nahelegt, dass sich Loacker eben nicht auf die (steigenden) letztaktuellen Werte bezieht. Auf das Austrittsalter der Frauen kann sich Loacker jedenfalls nicht beziehen, denn hier liegt sogar der letztaktuelle Wert um mehr als 1,2 Jahre unter dem von Loacker für die OECD insgesamt ausgewiesenen.
Das „durchschnittliche“ Austrittsalter oder „average exit age“ ist etwas deutlich anderes als ein empirisch ermitteltes durchschnittliches Pensionsantrittsalter. Genau genommen handelt es sich dabei auch nicht um ein empirisch ermitteltes durchschnittliches Erwerbsaustrittsalter, sondern um eine theoretische Kennzahl, die aus der Veränderung von altersgruppenspezifischen Erwerbsquoten ermittelt wird und die nicht nur vom Pensionsantrittsverhalten, sondern etwa auch von der Bedeutung von Minijobs in den höheren Altersgruppen oder von der Existenz von Teilpensionsregelungen mitbestimmt wird. Man kann diesen Indikator jedoch durchaus als Näherungswert für einen internationalen Vergleich von effektiven Pensionsantrittsaltern verwenden, umso mehr als empirische durchschnittliche Pensionsantrittsalter für internationale Vergleiche nur sehr eingeschränkt verfügbar sind. Dabei sollte aber eben auch auf die wesentlichen Unterschiede und Verzerrungen hingewiesen werden. So weisen etwa Länder mit hohen Anteilen von PensionsbezieherInnen mit Minijobs – z. B. weil miserable Pensionsniveaus zusätzliche Einnahmequellen durch geringfügige Zusatzjobs erfordern – höhere „durchschnittliche” Austrittsalter auf, weil nach dem „Labour-Force-Konzept“ PensionsbezieherInnen mit Minijobs eben grundsätzlich weiterhin als erwerbstätig erfasst bleiben.
Wenn man nun beispielsweise das „durchschnittliche“ Austrittsalter der Männer in Österreich und Deutschland vergleicht, dann ergibt sich laut OECD ein Unterschied von 0,6 Jahren, ebenso auf Basis der aktuellsten Berechnungen der EU-Kommission („The 2018 Ageing Report“). Wie aber kommt Loacker dann zu einem angeblichen Unterschied von 4,1 Jahren? Einerseits geht er von einem etwas überhöhten Wert für das „durchschnittliche Austrittsalter“ von Männern in Deutschland aus (63,7 Jahre statt wie von der OECD ausgewiesen 63,6 Jahre). Vor allem aber stellt er für Österreich eben nicht das – in der von ihm angeführten Quelle natürlich ebenfalls ausgewiesene – „durchschnittliche Austrittsalter“ von Männern gegenüber, sondern – vermeintlich – das durchschnittliche „Pensionsantrittsalter“ von Männern und Frauen. Dabei verwendet er auch nicht das durchschnittliche Pensionsantrittsalter, sondern einen durch die Miteinrechnung von RehabilitationsgeldbezieherInnen zusätzlich um 0,8 Jahre nach unten verzerrten Wert.
Das Motiv für das Abstellen auf einen möglichst niedrigen „Vergleichswert“ ist offensichtlich. Der Unterschied wird so auf das nahezu Siebenfache aufgeblasen. Was Loacker hier macht, ist entweder unglaublich schlampig oder bewusst völlig unseriös.
Völlige Fehleinschätzung von elementaren Zusammenhängen
Vollkommen haarsträubend wird dann die weitere Vorgangsweise der Berechnungen. Aus einer parlamentarischen Anfragebeantwortung durch das Sozialministerium, die besagt, dass eine Anhebung des faktischen Pensionsantrittsalters um einen Monat die Pensionsausgaben um 130 Mio. Euro vermindere, wird dann ermittelt, „wie viel Geld sich Österreich ersparen könnte“, wenn man ein Pensionsantrittsalter hätte wie z. B. in Deutschland. Ausgehend von der aufgeblasenen Differenz von 4,1 Jahren (statt 0,6 Jahren) ergibt sich durch einfache Multiplikation von 130 Mio. mal 12 mal 4,1 Jahre der schlagzeilentaugliche Betrag von mehr als 6 Mrd. Euro. Damit belegt Loacker eine Ahnungslosigkeit betreffend zentraler Wirkungszusammenhänge im österreichischen Pensionskontosystem, die ihn aber leider nicht davon abhält, medienwirksam das öffentliche Pensionssystem bei jeder Gelegenheit schlechtzureden.
Natürlich geht ein Anstieg des effektiven Pensionsantrittsalters mit einem entsprechenden Mengeneffekt hinsichtlich der Anzahl der ausbezahlten Pensionen einher. Aufgrund des späteren durchschnittlichen Pensionsantritts werden im Durchschnitt eben auch weniger Pensionen ausbezahlt. Hinsichtlich des durchschnittlichen Pensionsstandes ist dies auch kein Einmaleffekt, da sich aufgrund des durchschnittlich späteren Pensionsantritts der durchschnittliche Pensionsstand ceteris paribus dauerhaft entsprechend vermindert. Im leistungsdefinierten Pensionskonto führt allerdings ein späterer Pensionsantritt durch den Erwerb weiterer Pensionskontogutschriften und niedrigere Abschläge (bzw. höhere Zuschläge) dann natürlich auch zu entsprechend höheren Pensionen. Die anfänglichen mengeneffektbedingten Minderausgaben werden also sukzessive durch preiseffektbedingte (höhere Pensionen) Mehrausgaben kompensiert. Die Darstellung, ein späteres effektives Pensionsantrittsalter führe dauerhaft zu Minderausgaben im Ausmaß des Mengeneffektes, ist also blanker Unsinn. Die Zielsetzung der Anhebung des faktischen Pensionszugangsalters zielt eben nicht auf eine (dauerhafte) Reduktion der Pensionsausgaben ab.
Gute Pensionsniveaus, nicht Reduktion der Pensionsausgaben
Dessen ungeachtet ist und bleibt die schrittweise Anhebung des effektiven Pensionsantrittsalters eine zentrale pensionspolitische Zielsetzung und integraler Bestandteil der langfristig ausgerichteten Reformkonzeption, die mit der Umstellung auf das leistungsdefinierte Pensionskontosystem eingeleitet wurde. Auch wenn das von Loacker und Co. beharrlich ignoriert wird, bedeutete die Umstellung auf das Pensionskonto etwa auch eine weitreichende Änderung der Leistungszusage, mit der das Pensionssystem auf die sich deutlich ändernden Rahmenbedingungen (Stichwort steigende Lebenserwartung) vorausschauend angepasst wurde. Die Zielsetzung dahinter lässt sich zusammenfassen mit: langfristige Aufrechterhaltung guter Sicherungsniveaus bei sukzessive deutlich steigendem durchschnittlichen Pensionsantrittsalter. Das Ausmaß des Pensionsaufschubes, der für die Aufrechterhaltung bisheriger Ersatzraten erforderlich ist, hängt dabei erheblich vom konkreten Verlauf des Erwerbslebens ab. So wird dieser etwa bei flachen, sehr früh beginnenden ArbeiterInnenerwerbsverläufen zurecht gering ausfallen, während etwa bei relativ spät beginnenden, aber deutlich steigenden (AkademikerInnen-)Erwerbsverläufen auch ein relativ deutlicher Aufschub erforderlich sein wird, um frühere Pensionsniveaus weiterhin zu erreichen. Bei der zweiten Gruppe wird dies aber zumeist nicht nur leichter möglich sein als bei der ersten, sie wird in der Regel auch deutlich stärker von einer höheren Lebenserwartung profitieren. Ein steigendes effektives Pensionsantrittsalter dient also in erster Linie dazu, auch langfristig auf breiter Basis möglichst gute Pensionsniveaus sicherzustellen und zielt nicht auf eine Reduktion der Pensionsausgaben ab.
Zusätzliche Glättung der Ausgabenentwicklung
Aber auch aus einer bloßen Finanzierungsperspektive heraus hat der anhaltende Trend eines merklich steigenden durchschnittlichen Pensionsantrittsalters wesentliche positive Effekte. Er glättet nämlich den demografiebedingten Anstieg der relativen Pensionsausgaben zusätzlich deutlich.
Bekanntlich ist die gesellschaftliche Alterung ja kein gleichmäßig stetiger Prozess, sondern wird durch das Hineinwachsen der Babyboomer in das Pensionsalter vorübergehend deutlich beschleunigt. Dementsprechend weist etwa das Basisszenario im „Ageing Report 2018“ der EU-Kommission gegen Ende der 2030er-Jahre auch einen Höhepunkt der relativen Pensionsausgaben gemessen am BIP aus, die sich dann in weiterer Folge wieder rückläufig entwickeln. Setzt sich der deutliche Trend steigender effektiver Zugangsalter wie absehbar fort und flacht nicht, wie im Basisszenario angenommen, deutlich ab, dann führt dies zu einer weitgehenden Glättung der relativen Pensionsausgaben. Die Pensionsausgaben in Prozent des BIP schwanken in diesem Szenario trotz massiver Alterung nahe um 14 %. Das resultiert daraus, dass die kumulierten Mengeneffekte (geringere Anzahl ausbezahlter Pensionen) für die Dauer des Trends die entgegenwirkenden Preiseffekte (höhere Pensionsleistungen wegen späteren Pensionsantritts) deutlich übersteigen und sich diese gegenläufigen Effekte erst nach einer erheblichen Verzögerung sukzessive ausgleichen. Am Ende stehen dann höhere individuelle Leistungen als ohne weiteren Anstieg des effektiven Antrittsalters und im Wesentlichen unveränderte Gesamtausgaben.
Die wichtige pensionspolitische Zielsetzung eines weiter steigenden effektiven Pensionsantrittsalters dient der langfristigen Sicherstellung guter Pensionsniveaus auf breiter Basis mit dem positiven „Nebeneffekt“ einer zusätzlichen Ausgabenglättung. Sie zielt nicht darauf ab, „Österreich“ durch weitere Pensionsausgabenkürzungen Milliarden zu „ersparen“ – ein Zugang, der angesichts des Umstandes, dass natürlich auch die künftigen PensionistInnen Teil von Österreich sind, eigentlich auch geradezu absurd anmutet.