Mit der Abschaffung der Notstandshilfe plant die Regierung einen radikalen sozialpolitischen Umbau. Eine große Gruppe an Arbeitslosen erhält dadurch keine Leistungen mehr aus der Arbeitslosenversicherung und ist auf die Mindestsicherung angewiesen. In der Konsequenz werden Armut und Ungleichheit steigen und die Machtverhältnisse ungerecht verschoben. Es ist aber auch ein radikaler Systembruch, der das Prinzip der Lebensstandsicherung opfert. Warum will die Regierung nun diesen radikalen Schritt? Im Raum stehen drei Argumente, die sich als falsch herausstellen und den tatsächlichen Grund verschleiern.
Scheinargument: Einsparungen
Die türkis-blaue Regierung wurde während der Hochkonjunktur angelobt, als die Beschäftigtenzahlen stiegen, Arbeitslosigkeit und Staatsausgaben sanken, die Steuereinnahmen sprudelten und das Budgetdefizit sich reduzierte. Die Budgetsituation hätte Gestaltungsspielräume ermöglicht, um Maßnahmen gegen den Klimawandel zu beschließen und Verbesserungen der sozialen Dienstleistungen (z. B. Frühförderung, Bildung, Pflege) voranzutreiben. Stattdessen wurden die guten Rahmenbedingungen vor allem für Steuersenkungen für Unternehmen verwendet. Darüber hinaus macht die Arbeitsmarktpolitik generell, aber insbesondere die Notstandshilfe nur einen geringen Anteil der Staatsausgaben aus. In Österreich werden rund 1,5 Prozent des BIP für Arbeitslosigkeit ausgegeben. Die Gesamtausgaben für die Notstandshilfe pro Jahr betragen in etwa 1,45 Mrd. Euro, was rund 0,4 Prozent des BIP bedeutet. Ungeachtet der Höhe der Ausgaben für die Notstandshilfe sind durch ihre Abschaffung kaum Einsparungen zu erwarten. Den geringeren Ausgaben in der Arbeitslosenversicherung stehen höhere Ausgaben (zwischen 800 Mio. und 900 Mio. Euro) in der Mindestsicherung gegenüber, die von den Bundesländern und Gemeinden getragen werden. Ähnlich wie bei der Abschaffung des Pflegeregresses ist hier jedenfalls mit beträchtlichen Mehrkosten für die Bundesländer zu rechnen. Geringere öffentliche Ausgaben sind nur durch geringere Leistungen für die Betroffenen im Rahmen der Mindestsicherung anstatt der Notstandshilfe oder durch einen kleineren BezieherInnenkreis, weil sie die Anspruchsvoraussetzungen für die Mindestsicherung nicht erfüllen, zu erzielen. Diese Kürzungen werden sich aber gesamtwirtschaftlich als Boomerang erweisen, da geringe Haushaltseinkommen in der Mindestsicherung geringere Steuer- und Sozialversicherungseinnahmen für den Staat bedeuten. Darüber hinaus wird die Wahrscheinlichkeit der Arbeitsmarktintegration geringer sein, da Arbeitslose in der Mindestsicherung weniger Unterstützung vom AMS (weniger Weiterbildungsmöglichkeiten, weniger Vermittlungsangebote) erhalten werden und somit länger auf Leistungen des Staates angewiesen sind.
Scheinargument: falsche Anreize
Die Regierung und der industrienahe Thinktank Agenda Austria begründen die Abschaffung der Notstandshilfe mit der Beseitigung von „Beschäftigungshemmnissen“ und „Inaktivitätsfallen“ in der Arbeitslosenversicherung. Mit dieser Begründung wird arbeitslosen Menschen pauschal mangelnde Arbeitsmotivation unterstellt, welche durch zu großzügige Sozialleistungen entstehen würde. Damit steht die Regierung im klaren Widerspruch zu zahlreichen Studien, die darauf verweisen, dass für die Höhe der Arbeitslosigkeit die Nachfrage des Staates, der Unternehmen und der ArbeitnehmerInnen entscheidender sind als das Arbeitslosengeld. Durch die Abschaffung der Notstandshilfe werden hingegen die Konsumausgaben von Arbeitslosen geschmälert, womit die staatliche Stabilisierungsfunktion der Nachfrage in Krisenzeiten (automatische Stabilisatoren) geschwächt wird. Eine Evaluierung der österreichischen Arbeitsmarktpolitik durch das WIFO kommt zum Schluss, dass eine etwaige Anreizproblematik bereits weitgehend durch das in Österreich praktizierte Gesamtsystem aus Existenzsicherung, Beratung, Vermittlung und Förderung entschärft und gut balanciert ist.
Scheinargument: die Bevölkerung ist dafür
Gerade auf Basis der Konsequenzen der Hartz-Reformen spricht sich die Mehrheit der deutschen Bevölkerung gegen dieses System aus und fühlt sich in ihrem Gerechtigkeitsempfinden verletzt. Gut zwei Drittel der Bevölkerung in Deutschland befürwortet, dass die finanzielle Unterstützung auch bei längerer Arbeitslosigkeit an den vorherigen Lohn gekoppelt ist. Die Abschaffung der Notstandshilfe würde aber genau diese Entkoppelung bedeuten. Fest verankert ist nach wie vor die Vorstellung, dass der Sozialstaat als Gegenleistung zu den oft jahrelang eingezahlten Beiträgen in die Arbeitslosenversicherung im Falle eines Jobverlustes finanziell absichert und den gewohnten Lebensstandard annähernd erhält. Laut einer Umfrage von unique Research erwartet eine Mehrheit von 57 Prozent der österreichischen Bevölkerung eine Verschlechterung für ältere ArbeitnehmerInnen und Arbeitslose durch die arbeitsmarktpolitischen Vorhaben der Regierung. Besonders ungerecht erscheint, dass Arbeitslose, die aus dem Arbeitslosenversicherungssystem rausfallen werden und auf die Mindestsicherung angewiesen sind, Erspartes bis zu einem Betrag von rund 4.300 Euro aufbrauchen müssen und es Zugriffe auf das mühsam erarbeitete Eigenheim geben kann. Dies ist auch der Grund für die widersprüchlichen Aussagen der Regierung zu „Harz IV in Österreich“ und zu Vermögenszugriffen bei Langzeitarbeitslosen.
Cui bono?
Die wahren Motive für radikale Politikvorschläge findet man häufig in der Beantwortung der Frage: Wem nützen sie? Erfahrungen aus Deutschland zeigen, dass durch die Hartz-IV-Reformen, denen im Kern die Abschaffung der österreichischen Notstandshilfe gleicht, sowohl GewinnerInnen als auch VerliererInnen produziert wurden. Die VerliererInnen waren arbeitslose Menschen, die entweder keine Ansprüche oder verminderte Ansprüche aus der Arbeitslosenversicherung hatten. Arbeitslose waren aber auch die VerliererInnen, weil ihre Rechte eingeschränkt und Sanktionen verschärft wurden sowie der Zwang zur Annahme schlecht bezahlter Jobs (Ein-Euro-Jobs) erhöht wurde. Erste Modellberechnungen des WIFO zeigen für Österreich, dass durch die Regierungspläne ein Drittel der aktuellen LeistungsbezieherInnen (rund 121.000 Menschen) gänzlich aus dem AMS-System fallen würde. Ähnlich wie in Deutschland zeigt sich, dass von der Abschaffung der Notstandshilfe Frauen und Jugendliche überdurchschnittlich betroffen sein werden.
Angst bis in die Mittelschicht
Es erscheinen aber auch alle Beschäftigten und die Mittelschicht als VerliererInnen. Denn es wirkt abschreckend, bei Verlust des Arbeitsplatzes schnell von staatlicher Fürsorge leben, eigene Ersparnisse aufbrauchen und jeden Job annehmen zu müssen. Die individuelle Verhandlungsmacht von ArbeitnehmerInnen wird geschwächt, weil Hartz IV und im Fall von Österreich die Mindestsicherung als Drohkulisse davon abhalten, sich für bessere Arbeitsbedingungen und Löhne einzusetzen. Dieses System diszipliniert und spaltet Belegschaften und schürt Abstiegsängste. In der Folge wird die kollektive Verhandlungsmacht der ArbeitnehmerInnen und Gewerkschaften geschwächt. Empirisch können die Konsequenzen dieses Systems in Deutschland studiert werden: Der Niedriglohnsektor hat sich deutlich ausgeweitet und mittlerweile arbeitet mehr als jedeR fünfte Angestellte dort im Niedriglohnsektor.
Es geht um niedrigere Löhne
Somit kommen die Nutznießer dieser Regierungspläne zum Vorschein: Es sind die Unternehmen, die niedrigere Löhne durchsetzen und höhere Gewinne abschöpfen wollen. Die Abschaffung der Notstandshilfe würde somit zu einer Einkommens-, Vermögens- und Machtverschiebung weg von den ArbeitnehmerInnen hin zu den Unternehmen führen, was sich als tatsächliche Motivation der Regierung entpuppt.