Die kontinentaleuropäischen, nicht die angelsächsischen marktliberalen Gesellschaften haben sich als Vorbilder für soziale Stabilität, produktive Volkswirtschaften und – bei allen derzeitigen populistischen Tendenzen – als funktionierende Demokratien erwiesen. Hier genießen die Menschen überwiegend gute und faire Arbeits- und Lebensbedingungen. In Österreich sollte dieses Erfolgsmodell nicht leichtsinnig mit radikalen Reformen nach deutschem Vorbild wie der angedachten Abschaffung der Notstandshilfe aufs Spiel gesetzt werden.
Die Arbeitslosenversicherung als Bollwerk gegen den kapitalistischen Markt
Erst das Arbeitsrecht und die Sozialversicherungen machen unsere kapitalistisch organisierten Wirtschaftssysteme zu „sozialen Marktwirtschaften“. Diese Systeme sind Ausdruck eines historisch gewachsenen und politisch gewollten Gesellschaftsvertrags. Errungen in den Kämpfen der Arbeiterbewegung gilt vor allem die Arbeitslosenversicherung in den kontinentaleuropäischen Ländern als Bollwerk gegen die Dynamiken des kapitalistischen Marktes. Daher wurde die Arbeitslosenversicherung in Deutschland auch erst nach der Veränderung der politischen Machtverhältnisse als letzte der Sozialversicherungen mit erheblicher Verspätung in der Weimarer Republik eingeführt. Sie mindert den Warencharakter der Arbeit, indem sie die Menschen davor bewahrt, zur Sicherung ihres Lebensunterhaltes unfaire Arbeits- und Lohnbedingungen akzeptieren zu müssen. Genau dieser Mechanismus wird heute infrage gestellt: In der aktuellen Debatte wird der Anspruch auf ein gut bezahltes und gut reguliertes Arbeitsverhältnis als illegitim betrachtet. Das ökonomische Konzept eines „Reservationslohnes“ zur Messung individueller Lohnerwartungen wird im wirtschaftsliberalen Diskurs zum Indikator illegitimer Arbeitsverweigerung stilisiert. Dabei ist der Schutz guter Standards Teil des emanzipatorischen Projektes der ArbeiterInnenbewegung seit dem 19. Jahrhundert. Mit der Demokratisierung der Industrieländer wurde die Absicherung sozialer Risiken zum Teil der Gemeinwohlidee, so dass bis heute der Schutz des sozialen Status auch bei Arbeitslosigkeit zugebilligt wird. Dies ist in zweierlei Hinsicht funktional.
Die Arbeitslosenversicherung garantiert vorhersehbare Leistungen
Zum einen entspricht der Erhalt des sozialen Status bei Arbeitslosigkeit dem mehrheitlichen Gerechtigkeitsempfinden in den „alten“ europäischen Wohlfahrtsstaaten: Es gilt als gerecht, bei unfreiwilliger Arbeitslosigkeit weitgehend vor sozialem Abstieg geschützt zu sein. In Deutschland ist diese Auffassung nach wie vor mehrheitsfähig. Mit der Definition dieses Maßstabes generiert die Arbeitslosenversicherung für die Erwerbstätigen eigentumsähnliche Rechte: Sie gewährt Ansprüche, die maßgeblich von den Vorleistungen – der Höhe und Dauer der Beitragszahlungen – abhängen. Hierin liegt die Attraktivität der Systeme im Unterschied zu steuerfinanzierten und pauschalen Leistungen: Der Bezug der Leistungen ist garantiert und seine Höhe und Dauer vorhersehbar, ohne dass unzumutbare und unkalkulierbare Verhaltensanforderungen gestellt werden können oder Leistungen durch einfache politische Entscheidungen empfindlich gekürzt werden können. Gesetzliche Veränderungen bedürfen eines gesellschaftlichen Konsenses und – in sozialpartnerschaftlich geprägten Volkswirtschaften wie der deutschen oder der österreichischen – auch des Einverständnisses der Tarifpartner. Die Definition mittlerer Standards und die neokorporatistische Abstimmung stärkt die Interessenvertretung der Erwerbstätigen und unterstützt Forderungen nach guten Löhnen und Arbeitsbedingungen. Auf diese Weise stärken sozialstaatliche Institutionen die gesellschaftliche Machtposition der ArbeitnehmerInnen in einem marktlich organisierten (grundsätzlich asymmetrischen) Wirtschaftssystem.
Die Arbeitslosenversicherung stärkt die Binnennachfrage
Zum anderen wirkt die Arbeitslosenversicherung in einer Volkswirtschaft auch unmittelbar ökonomisch: Sie beeinflusst die Lohnbildung, weil sie einen Korridor eines mittleren Lebensstandards definiert, der in kollektiven Lohnverhandlungen mindestens erreicht werden muss. Indem sie Lohnniveau und Sicherungsleistungen aneinanderkoppelt, stabilisiert sie gleichzeitig die Binnennachfrage in Zeiten von Produktionseinbrüchen und steigender Arbeitslosigkeit. Ganz klar hat sich dieses automatische Ausgleichssystem in der Wirtschafts- und Finanzkrise in Deutschland und Österreich bewährt. Jegliche Veränderung der Arbeitslosenversicherung ist daher gleichermaßen ökonomisch und politisch relevant. Damit können die Leistungen der Arbeitslosenversicherung wie in folgender Abbildung zusammengefasst werden: