Die mediale und politische Konzentration auf die Flüchtlingskrise schafft eine nur eingeschränkte Perspektive, führt zur Polarisierung und ist letztendlich Teil der aktuellen Problemlage selbst. Wir möchten den Blick daher erweitern und plädieren für einen wirtschaftspolitischen Kurswechsel.
Die Stützung des Finanzsektors mit öffentlichen Geldern im Zuge der Finanzkrise widersprach nicht nur dem Gerechtigkeitssinn, sondern erschütterte auch das Weltbild vieler Menschen und das Vertrauen in die Politik. Der Finanzkrise folgte eine schwere Wirtschaftskrise. Während aber die Neugestaltung des Finanzsektors kaum in Gang kam, wurde eine Krisenbekämpfung mit aktiver Konjunkturpolitik durch strikte Regeln für öffentlichen Haushalte massiv eingeschränkt. Zusätzlich konzentrierte man sich weiter einseitig auf preisliche Wettbewerbsfähigkeit, was Löhne und Arbeitsbedinungen stark unter Druck brachte.
Die multiple Krise
Somit ist es nicht erstaunlich, dass sich die EU in einer tiefen politischen, wirtschaftlichen, sozialen aber auch gesellschaftlichen Krise befindet. Die Herausforderungen spiegeln sich in hoher Arbeitslosigkeit, drastischer Ungleichverteilung und der Defizite der öffentlichen Haushalte wider. In diesem angespannten Klima kam es 2015 zur „Flüchtlingskrise“. Die Notsituation tausender Menschen wurde dann auch noch dazu missbraucht, um ohnehin benachteiligte Gruppen innerhalb der Gesellschaft gegeneinader auszuspielen. Von neoliberaler Seite schon seit Jahrzehnten erhobene Forderungen nach Kürzung der sozialstaatlichen Leistungen wurden nun mit „Flüchtlingsströmen“ begründet. Bei vielen Menschen entstand das Gefühl bzw. verstärkt, dass ihre wirtschaftliche Situation von „anderen“ bedroht wird. Der Zulauf zu (weit) rechtsgerichteten Bewegungen, die angesichts hochkomplexer Zusammenhänge eindimensionale, nämlich herkunftsspezifische, Erklärungen anbieten und bei der Bekämpfung der so entstehenden (Feind-)Bilder Stärke signalisieren, wurde damit vorprogrammiert.
Neoliberale Vorschläge schaden den ArbeitnehmerInnen
Gefragt ist neben einer sachlichen Analyse der Entwicklungen vor allem auch ein Wechsel der Perspektive . Es ist höchste Zeit, folgende Frage in den Mittelpunkt zu rücken: Wie kann die Politik dazu beitragen, dass die derzeitige krisenhafte Situation zu einer Chance für (alle) Menschen in Europa wird? Im Zuge dieses Beitrages konzentrieren wir uns auf die wirtschaftspolitische Komponente und plädieren dabei für eine arbeitnehmerInnenorientierte Politik, deren primäre Ziele in der Schaffung guter Arbeit und von Verteilungsgerechtigkeit liegen. Denn jede Form der Ausgrenzung, Diskriminierung und Benachteiligung von einzelnen Bevölkerungsgruppen hintertreibt nicht nur Integration, sondern schwächt auch die Situation der ArbeitnehmerInnen als Ganzes. Die angedachten Kürzungen der Mindestsicherung oder die Aufweichungen von kollektivvertraglichen Regelungen für AsylwerberInnen bedeuten eine Ausweitung des Niedriglohnsektors durch die Hintertür und schwächen der Verhandlungsmacht aller ArbeitnehmerInnen.
Migration – eine gesamtwirtschaftliche Betrachtung
Bei einer gesamtwirtschaftlichen Sichtweise wird deutlich, dass die Ausgaben für die Versorgung und Integration von Flüchtlingen keinesfalls nur „Kosten“ sind. Denn sie stellen einerseits Einnahmen für Herbergsbetriebe und Hilfsorganisationen dar, die z.B. zur Beschäftigung von FlüchtlingsbetreuernInnen verwendet werden. Andererseits fließen die öffentliche Ausgaben für die Grundversorgung unmittelbar in Form von Konsumnachfrage in den Wirtschaftskreislauf zurück. Über mehrere Kanäle kommt es so zu einer wirtschaflichen Blebung, was sich auch wiederum positiv auf Steuereinnahmen auswirkt. Die Effekte der Ausgaben für Flüchtlingsbetreuung in Österreich werden wie folgt beziffert:
- Die Österreichische Nationalbank rechnet aufgrund der Ausgaben für Flüchtlinge für das Jahr 2016 mit einem Anstieg des Bruttoinlandsproduktes um 0,3 Prozentpunkte. Demnach wird das BIP 2017 sogar um 0,7 % höher sein als ohne neue AsylwerberInnen.
- Alleine in Oberösterreich stimulieren laut Gesellschaft für Angewandte Wirtschaftsforschung die Ausgaben für die Betreuung und Versorgung von Flüchtlingen das Bruttoregionalprodukt um über 76 Mio Euro im Jahr 2015 und um 149 Mio Euro im Jahr 2016. Dadurch wurden rund 3.000 Arbeitsplätze gesichert bzw. geschaffen.
Vom Perspektivenwechsel hin zum politischen Kurswechsel
Gerade im Zuge der Flüchtlingskrise zeigt sich, wie wichtig eine gesamteuropäische Kooperation wäre. Die Lösungsansätze sind bekannt, nämlich legale Einreisekorridore, ein solidarischer Verteilungsmechanismus und gemeinsame Standards bei der Versorgung der AsylwerberInnen sowie die Herausnahme von asylpolitischen Ausgaben aus dem strukturellen Budgetdefizit. Die Herausforderungen gehen aber weit über die unmittelbare Asylpolitik hinaus. Auch im Rahmen ihrer Außenpolitik ist die EU gefordert, sich für friedliche Lösungen, die Unterstützung von Aufnahmeländern und eine Beendigung von Waffenexporten einzusetzen.
Wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen sind entscheidend
Stefan Ederer hat erst kürzlich dargelegt, wie entscheidend die gesamtwirtlichen Rahmenbedingungen für eine erfolgreiche Integration sind. Notwendig hierfür ist ein Kurswechsel der europäischen Wirtschaftspolitik, beginnend bei der Stärkung der sozialen Dimension, einer Verwerfung der Austeritäts- und Wettbewerbsorientierung. Auch das EU-Budget muss stärker an den Notwendigkeiten der Bekämpfung der sozialen Folgen der Krise ausgerichtet werden. Insgesamt führt eine Politik, die im Interesse der europäischen ArbeitnehmerInnen liegt, auch zu einer Entspannung der Lage von Menschen auf der Flucht und einer Entschärfung von Konflikten.
Längst überfällig ist auch eine gemeinsame Investitionsoffensive zur Linderung der Wirtschaftskrise. Im Zuge der Migrationsbewegungen erhöht sich deren Dringlichkeit weiter. Denn ein hochqualitatives Angebot an öffentlichen Dienstleistungen ist eine zentrale Säule für ein funktionierendes Zusammenleben. Im integrationspolitischen Zusammenhang sind Investitionen in den (sozialen) Wohnbau, im Bereich der Förderung von Kindern und Jugendlichen sowie der beruflichen Qualifikation von Erwachsenen und Sprachkurse prioritär. Dreh- und Angelpunkt für eine gelingende Integration ist eine rasche Teilhabe am Arbeitsmarkt. Dafür notwendig ist, dass das AMS mit ausreichend Ressourcen ausgestattet wird. Der Europäische Sozialfonds (ESF) muss um mindestens 10 Mrd. Euro aufgestockt und entsprechend dem Engagement der Mitgliedsstaaten bei der Aufnahme von Flüchtlingen verteilt werden (siehe dazu die AK Position). Darüber hinaus wird man nicht um die „Goldene Investitionsregel“ umhin kommen, wonach öffentliche Zukunftsinvestitionen nicht zu einer Verletzung der EU-Fiskalregeln führen dürfen.
Um den Sorgen entgegenzutrenten, dass sich „wir“ oder „der Sozialstaat“ die Versorgung von Flüchtlingen nicht leisten können, ist ein Blick auf die Einkommens- und Vermögensverteilung zu richten.Bei internationaler Betrachtung besitzt ein Prozent etwa 48,3 Prozent des Vermögens, während den „restlichen“ 99 Prozent 51,7 Prozent bleiben, und diese Schere dürfte noch weiter aufgehen. Diese drastische Ungleichverteilung ist einerseits ein gewichtiger Auslöser von Fluchtbewegungen, andererseits dürfen die Kosten und Herausforderungen, die aufgrund der Migrationsbewegungen (zunächst) entstehen, nicht jenen aufgebürdet werden, die ohnehin unter schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen leben. Statt einer konstruierten Knappheitsdiskussion, bei der sich der Großteil der Menschen um den für sie „verbleibendenden“ Wohlstand streiten müssen, braucht es eine gesellschaftlich integrative Verteilung des Wohlstands selbst. Gefordert ist daher neben einer fairen Steuerpolitik (z.B. die Eindämmung aggressiver Steuervermeidung) unter anderem auch eine Stärkung der Gewerkschaften zur Durchsetzung fairer Löhne und Arbeitsbedingungen.
Dieser Beitrag wurde in leicht adaptierter Form in Wirtschaftspolitik – Standpunkte 2016 (2) veröffentlicht.
Über Judith Vorbach
EU-Referentin der Abteilung Wirtschafts-, Sozial- und Gesellschaftspolitik der AK Oberösterreich, Schwerpuntke: Allgemeine EU-Wirtschaftspolitik und Finanzmarkt