Hartz IV und das Hamsterrad von Erwerbsarbeitslosen und Beschäftigten

01. September 2016

Für marktliberale ÖkonomInnen ist die Sache klar. Der gründliche Umbau der Arbeitslosen- und Sozialhilfe, wie ihn die deutsche Regierung unter dem Kanzler Schröder zum Beginn der Nullerjahre betrieben hat, sei ein Erfolgsmodell. Die sogenannten „Hartz-Reformen“ haben den „Anspruchslohn“ gesenkt und dadurch Stellen geschaffen. Tatsächlich sinkt die Erwerbslosigkeit seit Jahren kontinuierlich und die Zahl der Erwerbstätigen ist mit über 43 Millionen auf ein Rekordniveau gestiegen. Doch es gibt einen hohen Preis des vermeintlichen „deutschen Jobwunders“.

Prekäre Vollerwerbsgesellschaft

Zunächst gilt es mit einer Legende aufzuräumen: Immer wieder hört man, Hartz IV habe Arbeit geschaffen. Hartz IV, das ist die Bezeichnung für ein Gesetz, das nicht nur die Absenkung des Regelsatzes für Langzeiterwerbslose auf Sozialhilfeniveau regelt, sondern auch ein soziales Recht (Arbeitslosenhilfe) in einen Fürsorgestatus mit strengen Zumutbarkeitsregeln verwandelt hat. Leistungen erhalten Bedürftige nur für Gegenleistungen („Fordern und  Fördern“); sie müssen durch Eigenaktivität – etwa Bewerbungen auf nahezu jede Art von Erwerbsarbeit – nachweisen, dass sie der Sozialtransfers würdig sind. Geschieht das nach Ansicht der Arbeitsverwaltung nicht ausreichend, können Sanktionen verhängt und Leistungen verweigert oder gekürzt werden.

Dieses Regime strenger Zumutbarkeit, das einen Qualifikationsschutz nicht mehr kennt, Maximalgrößen von Wohnraum vorschreibt und Leistungen nur für Bedarfsgemeinschaften gewährt, greift tief in die Lebensführung der Betroffenen ein. Es fordert die Eigeninitiative, maximiert aber zugleich die bürokratische Kontrolle der Leistungsempfänger. Zusätzliche Erwerbsarbeit geschaffen hat Hartz IV jedoch nicht.

Betrachten wir die Fakten: Arbeitete eine durchschnittliche lohnabhängige Person 1991 im Jahr 1.473 Stunden, so waren es 2013 nur noch 1.313 Stunden. Zwar hat das Arbeitsvolumen nach 2005 wieder zugelegt; die Zahl der Erwerbstätigen ist jedoch in den meisten Jahren deutlich rascher gestiegen. Beschäftigungsaufbau erfolgt in hohem Maße über eine Integration insbesondere weiblicher Arbeitskräfte in prekäre Dienstleistungs-Jobs. Nicht nur die offiziell registrierte Erwerbslosigkeit sinkt, auch die geschützte Vollzeitbeschäftigung ist seit den 1990er Jahren auf dem Rückzug. Von 1991 knapp 29 Mio. ist sie 2014 auf ca. 23,5 Mio. Vollzeitbeschäftigte zurückgegangen. Expandiert sind hingegen Leiharbeit, Soloselbstständigkeit, Teilzeitarbeit, geringfügige Beschäftigung und Werkvertragsvergaben. Der Niedriglohnsektor, dessen Frauenanteil über 62% liegt, umfasst kontinuierlich zwischen 22 Prozent und 24 Prozent der Beschäftigten (2013 8,1 Mio.).

Weil der Lohn im Hauptberuf zur Sicherung des Lebensstandards nicht ausreicht, nimmt das Phänomen der Multijobber zu. Mit anderen Worten: Ein in Relation zur Zahl der Erwerbstätigen schrumpfendes Volumen an bezahlter Erwerbsarbeit wird asymmetrisch auf eine größere Zahl von Beschäftigten verteilt.   Das deutsche Jobwunder besitzt somit eine dunkle Seite. Entstanden ist keine Vollbeschäftigungs-, sondern eine prekäre Vollerwerbsgesellschaft, die Erwerbslosigkeit auf Kosten geschützter Vollzeitbeschäftigung und mittels Expansion unsicherer, gering entlohnter, wenig anerkannter Erwerbsarbeit zum Verschwinden bringt.

Der Leistungsbezug als permanente Bewährungsprobe

Doch warum funktioniert die Mobilisierung für prekäre Arbeit? Eine Antwort ergibt sich aus der Funktionsweise des aktivierenden Arbeitsmarktregimes. In ihm wird der Leistungsbezug von Arbeitslosengeld II (Hartz IV) zur permanenten Bewährungsprobe, bei der sich entscheidet, ob der Sprung in die Gesellschaft der respektierten Bürgerinnen und Bürger gelingt. Der Leistungsbezug wird als Wettkampf inszeniert, bei dem die jeweils Erfolgreichen die Norm vorgeben, an der sich auch diejenigen zu orientieren haben, die den Sprung in bessere Verhältnisse vorerst nicht geschafft haben.

Je schwieriger die Arbeit mit den Erwerbslosen wird, desto eher neigen Arbeitsverwaltungen dazu, die Verantwortung bei den LeistungsbezieherInnen zu suchen. Selbst nach Zielvereinbarungen geführt, konzentrieren sich viele Sachbearbeiter zunächst auf jene „KundInnen“, die leicht zu vermitteln sind. Ist diese Gruppe in Erwerbsarbeit, verbleiben nur noch die schwierigeren Fälle. Zugleich steigt die Neigung der Sachbearbeiter, den verbliebenen „KundInnen“ Vertragsverletzungen vorzuhalten. Wer lange im Leistungsbezug verharrt, der verhält sich in den Augen von Sachbearbeitern geradezu antiemanzipatorisch, weil er sich mit einem unwürdigen Fürsorgestatus arrangiert.

Zirkulare Mobilität anstelle von Aufwärtsmobilität

Die LeistungsbezieherInnen sehen das völlig anders: In ihrer großen Mehrzahl arbeiten sie aktiv daran, aus dem Leistungsbezug herauszukommen. Das Bild von der passiven Unterschicht, der das Aufstiegsstreben abhandengekommen ist, entspricht nach unseren Forschungen nicht der Realität. Eine große Mehrzahl der Befragten hält selbst dann an Erwerbsarbeit als normativer Orientierung fest, wenn dieses Ziel gänzlich unrealistisch geworden ist. Trotz aller Anstrengungen gelingt den meisten Befragten der Sprung in reguläre Beschäftigung aber nicht.

Stattdessen zeichnet sich eine zirkulare Mobilität ab. Tatsächlich signalisieren Eintritte und Austritte beim Leistungsbezug eine erhebliche Fluktuation. Die Daten sprechen jedoch nicht für eine funktionierende Aufwärtsmobilität, wohl aber für eine Verstetigung von Lebenslagen, in denen sich soziale Mobilität auf Bewegung zwischen prekärem Job, sozial geförderter Tätigkeit und Erwerbslosigkeit beschränkt. Es kommt fortwährend zu Positionsveränderungen, aber die soziale Mobilität bleibt eine zirkulare, weil sie in der Regel nicht aus dem Sektor prekärer Lebenslagen hinausführt.

Nur wenige der von uns befragten Leistungsbezieher haben nach sieben Jahren den Sprung in Verhältnisse geschafft, die sie vom Leistungsbezug dauerhaft befreien. Die anderen durchlaufen mitunter zwei, vier, sechs und mehr berufliche Stationen. Sie springen von der Erwerbslosigkeit in den Ein-Euro-Job, von dort in die Aushilfstätigkeit, dann in eine Qualifizierungsmaßnahme und so fort, um am Ende doch wieder im Leistungsbezug zu enden.

Überlebenshabitus

Je länger die Menschen im Leistungsbezug verbleiben, desto stärker wird der Druck, einen Habitus zu verinnerlichen, der ihnen das soziale Überleben ermöglicht. Dieser „Überlebenshabitus“ bedingt, dass sich Leistungsbezieher vom Rest der Gesellschaft unterscheiden. Dabei geht es nur selten um das physische Überleben. Doch mit zunehmender Dauer des Leistungsbezugs sind die Befragten gezwungen, sich mit materieller Knappheit, geringer gesellschaftlicher Anerkennung und einer engmaschigen bürokratischen Kontrolle ihres Alltagslebens zu arrangieren. Wenn sie sich arrangieren, separiert sie das vom Rest der Gesellschaft. Separieren sie sich, eigenen sich ihre Lebensentwürfe als Objekt für kollektive Abwertungen durch die Gesellschaft respektierter Bürgerinnen und Bürger. Gerade weil sich die LeistungsbezieherInnen an widrige Bedingungen anpassen, werden sie zur Zielscheibe negativer Klassifikationen durch die „Mehrheitsgesellschaft“.

Die Hartz IV Stigmatisierung

Aus diesem Grund begreifen sich die befragten LeitungsbezieherInnen als Angehörige einer „stigmatisierten Minderheit“, die alles dafür tun muss, um Anschluss an gesellschaftliche Normalität zu finden. Hartz IV konstituiert einen Status, der für die LeistungsbezieherInnen eine ähnliche Wirkung entfaltet wie die Hautfarbe im Falle rassistischer oder das Geschlecht bei sexistischen Diskriminierungen.

Die Erwerbslosen und prekär Beschäftigten sind diskreditierbar. Haftet es einmal an der Person, können sich die Betroffenen des Stigmas Hartz IV nur noch schwer entledigen. Die Hartz-IV-Logik („Jede Arbeit ist besser als keine!“) verlangt von ihnen, gerade jene qualitativen Ansprüche an Arbeit und Leben aufzugeben, die besonderes Engagement zur Verbesserung der eigenen Lage überhaupt erst motivieren. Wenn sich wegen zirkularer Mobilität Verschleiß einstellt, setzt hingegen Anspruchsreduktion ein – und genau das macht krank oder erzeugt Resignation und Passivität.

Insofern bewirkt Hartz IV in vielen Fällen das Gegenteil dessen, was die Regelung eigentlich zu leisten beansprucht. Länger im Leistungsbezug zu verweilen, bedeutet, eine Position unterhalb einer unsichtbaren „Schwelle der Respektabilität“ einzunehmen. Deshalb schreckt „Hartz IV“ ab. Die Bereitschaft auch der Noch-Beschäftigten, unterwertige, prekäre Jobs anzunehmen, um einen Status gesellschaftlicher Missachtung zu vermeiden, nimmt zu. Die Zunahme der „Konzessionsbereitschaft“, wie es im Jargon aktivierender Arbeitsmarktpolitik einigermaßen zynisch heißt, gilt Befürwortern denn auch als eigentlicher Erfolg des Forderns und Förderns.

Exklusive Solidarität

Dabei wird jedoch Entscheidendes übersehen: Die Angst, auf eine Position unterhalb der Schwelle gesellschaftlicher Respektabilität abzurutschen, diszipliniert auch die Noch-Beschäftigten und Festangestellten. Sie sind im wahrsten Sinne des Wortes bereit, (fast) alles zu tun, um die Festanstellung zu erhalten, die sie zunehmend als Privileg betrachten. Die Angst, auf einen Status abzurutschen, der gesellschaftlich nicht respektiert ist, fördert den Trend zu einer exklusiven Solidarität von Stammbeschäftigten, die sich nicht nur gegenüber „oben“, sondern auch von „anders“ und „unten“ abgrenzen will.

Erwerbslosen, denen es in den Augen der Stammbeschäftigten nicht gelingt, sich aus der Abhängigkeit von staatlicher Fürsorge zu befreien, lösen offenbar Distinktionsbedürfnisse und Entsolidarisierung aus. Selbst von Abstiegsängsten geplagt, tendieren selbst gewerkschaftlich organisierte ArbeiterInnen dazu, Konkurrenzen mit dem Mittel des Ressentiments auszutragen. Auch für Stammbeschäftigte markiert Hartz IV einen Status unterhalb der Schwelle gesellschaftlicher Respektabilität. Es handelt sich um einen Status der Würdelosigkeit, den man nach Möglichkeit zu vermeiden sucht oder den man, so ein Statuswechsel nicht realisierbar ist, kaschieren und umdeuten muss, um ihn einigermaßen lebbar zu machen. Unterhalb dieser Schwelle befinden sich allenfalls informelle GelegenheitsarbeiterInnen, illegale Migranten, Obdachlose und andere sozial „unsichtbare“ Gruppen außerhalb des Leistungsbezugs.

Versagen des Marktliberalismus

Fassen wir zusammen: Die Erwerbstätigkeit ist in Deutschland nicht gestiegen, weil das Absenken des „Anspruchslohns“ zuvor unsichtbare Arbeitsplätze sichtbar gemacht hätte, wie marktliberale ÖkonomInnen behaupten. Das Gegenteil ist der Fall: Die Aufwertung prekärer Beschäftigungsverhältnisse, wie sie mit den Hartz-Reformen verbunden war, schafft auf Seiten der Wirtschaft Anreize, Stellen mit Löhnen anzubieten, die nicht einmal die Existenz der Beschäftigten absichern. Faktisch werden Betriebe qua Aufstockung durch Hartz IV staatlich subventioniert, die Löhne anbieten, welche teilweise nicht einmal die Reproduktionskosten der Arbeitskraft decken. Die Einführung eines allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns hat nur die schlimmsten Auswüchse dieser Politik korrigiert. Der Mindestlohn von 8,50 pro Stunde führt nicht aus der Prekarität heraus.

Langer Verbleib in prekären Verhältnissen und die Stigmatisierung durch „Hartz IV“ haben jedoch Folgen: Die Betreffenden brennen regelrecht aus, sie geraten in einen Ohnmachtszirkel aus erzwungener Anpassung und Stigmatisierung, aus dem es für sie nur sehr schwer ein Entrinnen gibt. Viele LeistungsbezieherInnen fühlen sich deshalb wie in einem Hamsterrad. Sie laufen und laufen, nur um schließlich feststellen zu müssen, dass sie beständig auf der Stelle treten.

Nimmt man die Gleichwertigkeit aller Menschen als Maßstab, an dem sich das aktivierende Arbeitsmarktregime messen lassen muss, so ist das Ergebnis der Reformen beschämend. Die Arbeitsmarktstatistik mag glänzen, der Preis dafür ist eine Verwilderung des Arbeitsmarktes. Die Würde der Hilfebedürftigen und ihr Anspruch auf Unversehrtheit geraten zunehmend unter die Räder eines außer Kontrolle geratenen Wettkampfprinzips. Eine solche Praxis ist kein Erfolgsmodell. Nicht für Deutschland, nicht für Europa und auch nicht für Österreich.

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Dörre, Klaus/Scherschel, Karin/Booth, Melanie/Haubner, Tine/Marquardsen, Kai/Schierhorn, Karen (2013): Bewährungsproben für die Unterschicht? Soziale Folgen aktivierender Arbeitsmarktpolitik. Erschienen in der Reihe International Labour Studies – Internationale Arbeitsstudien, Band 3. Frankfurt am Main/New York: Campus.

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