Die Regierungsvorlage zur Zentralisierung der Krankenkassen legt die Sozialversicherung der ArbeitnehmerInnen in die Hände des Wirtschaftsbunds. Durch die paritätische Besetzung der Verwaltungsräte der Pensionsversicherungsanstalt (PVA) und der Österreichischen Gesundheitskasse (ÖGK) bestimmen 100.000 Wirtschaftstreibende über die Gesundheitsversorgung von rund 3,6 Millionen bei den GKK versicherten ArbeitnehmerInnen und ihren Angehörigen (insgesamt rund sieben Millionen Versicherte). Das ist ein Rückschritt ins 18. Jahrhundert, als das Wohlwollen der „Diensthälter“, „Fabrikanten“ und „Gewerbetreibenden“ die Krankenversorgung der „Dienstnehmer“ bestimmte.
Dieser Beitrag erörtert auch, dass die Patronanz des Wirtschaftsbundes über die Gesundheitsversorgung der ArbeitnehmerInnen demokratischen Prinzipien widerspricht.
Wer ist und wofür steht der Wirtschaftsbund?
Wer ist nun dieser Wirtschaftsbund, der ab 1. April 2019 patrimonial die Kontrolle über die Gesundheitsversorgung von sieben Millionen ArbeitnehmerInnen und ihren Angehörigen übernimmt?
Der Österreichische Wirtschaftsbund ist eine der sechs Teilorganisationen der Österreichischen Volkspartei (ÖVP) und laut Eigendefinition „österreichweit die größte und schlagkräftigste politische Interessenvertretung für Unternehmerinnen, Unternehmer und selbstständig denkende Menschen“ mit über 100.000 Mitgliedern und einem Ziel: dass es an unternehmerischem Denken in Österreich nie genug geben könne. „Wir sind das Bollwerk der freien Wirtschaft, der unbeschränkten Entfaltung der privaten Initiative und der Unverletzlichkeit des wohlerworbenen Eigentums“, so das Selbstverständnis der Unternehmenslobby. Die Anhebung der Tages- und Wochenhöchstarbeitszeit auf zwölf bzw. 60 Stunden wurde als Erfolg im Kapitel „Soziales“ verbucht.
„Es ist höchste Zeit, alle Kraft in die Entlastung der österreichischen Wirtschaft zu stecken“, lautet die aktuelle Losung des Wirtschaftsbundes. Daher macht sich die Organisation für die Senkung der Abgabenquote auf 40 Prozent, eine deutliche Reduktion der Körperschaftsteuer (KÖSt) und der Kapitalertragsteuer (KESt) und – welch Überraschung – für eine Senkung der Sozialversicherungsbeiträge stark.
Dass bestimmende Teile des Wirtschaftsbunds diese Ziele verfolgen, ist wenig überraschend. Klar ist aber auch: Diese Agenda ist unvereinbar mit den Zielen einer sozialen Krankenversicherung. Unabhängig vom Einkommen besteht mit der E-Card ein selbstverständlicher Zugang zu einem der besten Gesundheitssysteme weltweit. Die soziale Krankenversicherung ist kein Bollwerk des Eigentums und des unbeschränkten Eigennutzens, sondern ein Schutzschirm für die Wechselfälle des Lebens. Ihre Stärke ist die Solidarität.
Warum kann der Wirtschaftsbund die Kontrolle im österreichischen Gesundheitssystem übernehmen?
Weil die Regierung das so will. Die Bundesregierung hat zum einen die Ziele des Wirtschaftsbundes in die Regierungsvorlage zur Kassenzentralisierung übernommen (Senkung der Lohnnebenkosten, Verbesserung der Rahmenbedingungen für private Anbieter von Gesundheitsdiensten). Zum anderen überträgt die ÖVP/FPÖ-Koalition dem Wirtschaftsbund die Kontrolle in der Sozialversicherung durch die sogenannte Parität. Ein harmlos erscheinendes Wort, das ein gleichmäßiges Verhältnis von Stimmen in einem Gremium ausdrückt. Künftig sollen in die Spitzengremien (Verwaltungsräte) der fusionierten Sozialversicherungsträger der ArbeiterInnen und Angestellten, nämlich der ÖGK, der PVA und der AUVA, jeweils sechs Dienstnehmer- und sechs DienstgebervertreterInnen entsendet werden.
Die VertreterInnen der ArbeitnehmerInnen werden von der Arbeiterkammer nach dem Ergebnis der AK-Wahlen und die VertreterInnen der ArbeitgeberInnen von der Wirtschaftskammer nach dem Ergebnis der WKO-Wahlen entsendet. Nur um die Dimensionen klarzustellen: Die Arbeiterkammer repräsentiert rund sieben Millionen Versicherte (rund 3,6 Millionen ArbeitnehmerInnen und ihre Angehörigen). Die Wirtschaftskammer repräsentiert rund 155.000 ArbeitgeberInnen. Über 100.000 Wirtschaftstreibende sind Mitglied des Wirtschaftsbundes, daher dominiert der Wirtschaftsbund die WKO-Wahlen und entsendet fünf von sechs ArbeitgeberInnenmandate in den Verwaltungsrat der ÖGK. Für einen Beschluss im Verwaltungsrat ist eine Mehrheit von sieben Stimmen erforderlich. Ohne Zustimmung der ArbeitgeberInnenvertreterInnen, von denen eben fünf dem Wirtschaftsbund angehören, kann also künftig in der Sozialversicherung der ArbeitnehmerInnen nicht einmal ein Pflaster bestellt werden. Im Ergebnis übernehmen die rund 100.000 Mitglieder des Wirtschaftsbundes de facto weitgehend die Kontrolle über die Krankenversicherung der ArbeitnehmerInnen, aber auch über deren Pensions- und Unfallversicherung.
Das Problem mit der Patronanz in einer Demokratie
Die Übergabe der Kontrolle über die Krankenversicherung der ArbeitnehmerInnen an die ArbeitgeberInnen erscheint wie ein Rückschritt ins 18. Jahrhundert. Das „städtische Gesinde“ und die „untertänige Landbevölkerung“ waren im Krankheitsfall auf das Wohlwollen des Haus- oder Grundherren angewiesen. Für vorübergehend erkrankte „Dienstnehmer“, „Gehilfen“ und Arbeiter“ hatten die „Dienstherren“ zu sorgen. Die Versorgung wurde von diesen oft als zu kostspielig abgelehnt und die Kranken wurden aus dem Dienst entlassen und der Armenfürsorge übergeben (Baryli in Steindl, Wege zur Arbeitsrechtsgeschichte 189). Aus diesem patrimonialen Spannungsverhältnis heraus haben sich die ArbeitnehmerInnen ihre Selbstverwaltung in der Krankenversicherung erkämpft. Die Regierungsvorlage regelt nun mit der Parität, dass ArbeitnehmerInnen für jedes Anliegen in der Krankenversicherung wieder auf das Wohlwollen der ArbeitgeberInnen angewiesen sind.
Demokratie hat auch immer etwas mit Zahlen und Verhältnissen zu tun. Es erscheint einfach sehr undemokratisch, wenn rund 100.000 ArbeitgeberInnen gleich viel Gewicht haben wie rund sieben Millionen Versicherte (ArbeitnehmerInnen und deren Angehörige).
Die ArbeitnehmerInnen sind auch keine Unmündigen, die in der Selbstverwaltung der Sozialversicherung der Patronanz der ArbeitgeberInnen bedürften. Selbstverwaltung in der Sozialversicherung heißt, dass die Versicherten ihre Krankenversicherung selbst verwalten und aus ihrer Mitte nach demokratischen Regeln VertreterInnen in das Spitzengremium (Verwaltungsrat) entsenden.
Die VertreterInnen des Wirtschaftsbundes sind nicht einmal in der ÖGK versichert, sondern in der Selbstständigenversicherung, die sie natürlich zu 100 Prozent selbst verwalten.
Seit es die Selbstverwaltung der ArbeitnehmerInnen in der Krankenversicherung gibt – immerhin seit 1888 –, waren die Gremien immer mehrheitlich mit ArbeitnehmerInnen besetzt. In der Monarchie im Verhältnis 2:1, in der Ersten Republik 4:1, selbst im autoritären Ständestaat 2:1 und in der Zweiten Republik ab 1945 bis heute 4:1. Im Gegenzug hatten die ArbeitgeberInnen immer in der Kontrollversammlung das Sagen und damit in wirtschaftlich bedeutenden Fragen (Gebäude, Stellenplan, Besoldung etc.) ein Vetorecht.
Bei den BeamtInnen bleibt es bei der Selbstverwaltung der Versicherten
Im Gegensatz zu den ArbeiterInnen und Angestellten räumt man den BeamtInnen ein Selbstverwaltungsrecht ein, indem der Verwaltungsrat in der BeamtInnensozialversicherung mit sieben DienstnehmervertreterInnen und drei DienstgebervertreterInnen besetzt wird. Es fällt schwer, einen vernünftigen Grund dafür zu finden, warum den ArbeitgeberInnen in der Privatwirtschaft Stimmengleichheit eingeräumt wird, während die DienstnehmervertreterInnen im öffentlichen Dienst mit einer Zweidrittelmehrheit tatsächlich das Sagen in ihrer Versicherung haben. Auch dieses Denken erinnert an vordemokratische Zeiten, als den „Staatsdienern“ eine Sonderrolle unter allen ArbeitnehmerInnen eingeräumt wurde.
Wirtschaftliche Interessen
Der Wirtschaftsbund hat kein Eigeninteresse an guten Leistungen für die Versicherten in der ArbeitnehmerInnenversicherung. Vielmehr hat er – wie gezeigt – geradezu gegenläufige Interessen, nämlich, um Kosten zu sparen, die Sozialversicherungsbeiträge zu senken. Dies führt tendenziell zu einer Verschlechterung der Leistungen. Weiters besteht ein Interesse an Geschäften mit der Sozialversicherung, also der Übernahme von Gesundheitsleistungen und -einrichtungen durch Private. Dabei geht es naturgemäß ebenfalls wieder nicht um die bestmögliche Versorgung der Versicherten, sondern um das Gewinninteresse der Gesundheitsbranchen in der Wirtschaftskammer.
Das führt auch zu möglichen Befangenheiten der VertreterInnen des Wirtschaftsbundes, weil Einflussnahmen im wirtschaftlichen Eigeninteresse ermöglicht werden. Künftig können KrankenanstaltenbetreiberInnen oder VertreterInnen der Pharmawirtschaft als Mitglieder der Wirtschaftskammer die Entscheidungen im Verwaltungsrat in ihrem Interesse beeinflussen. Die Kontrollversammlungen in den SV-Trägern, die bisher für ein gutes Gleichgewicht zwischen DienstnehmerInnen und DienstgeberInnen sorgten, werden abgeschafft. Der Verwaltungsrat kontrolliert sich selbst.
Man muss es so klar sagen, wie es ist: Die Regierung überträgt einem Unternehmerverband, der die Sozialversicherungsbeiträge wegen Profitinteressen senken will, die Kontrolle in der Krankenversicherung.
Weichenstellung für die Geschäfte der Privatversicherungen
Hinter der Sozialversicherungsreform stehen offenbar parteipolitische und finanzielle Interessen. Das Prämienvolumen der gewinnorientierten privaten Krankenversicherung beträgt mit rund zwei Milliarden Euro (2017) derzeit noch nur rund ein Zehntel der Einnahmen der gesetzlichen Krankenversicherung in der Höhe von 20 Milliarden Euro. Die Weichenstellung für „mehr privat“ wird durch den Mittelentzug (2,1 Milliarden Euro), die Übernahme der Verwaltung durch den Wirtschaftsbund, die Verringerung der Beitragseinnahmen durch die Übertragung der Prüfkompetenz an die Finanzverwaltung und die Zerschlagung der bisherigen Organisationsstruktur vorgenommen.