Österreich steht am Scheideweg in der Frage, wie der Sozialstaat weiterentwickelt wird. Die Pandemie hat sich längst zu einer sozialen Krise ausgeweitet, in der gesellschaftliche Ungleichheiten stärker sichtbar wurden. Österreichs Sozialstaat hat die Krise teils merklich abgefedert, doch er muss progressiv weiterentwickelt werden und sich von neokonservativen Rückschritten vergangener Jahre entschieden emanzipieren. 2022 gilt es also, akute soziale Probleme anzugehen und die Weichen in Richtung gesellschaftlichen Fortschritts zu stellen.
Weichenstellungen in Richtung gesellschaftlichen Fortschritts notwendig
Die gute Nachricht vorweg: Der Sozialstaat hat mit einer historisch hohen Sozialquote viele der sozialen Verwerfungen der Pandemie spürbar eingedämmt. Gleichzeitig wurden aber auch Lücken in der sozialstaatlichen Absicherung stärker sichtbar, und die neu eingeführten Ad-hoc-Maßnahmen im Rahmen der Bekämpfung der Folgen der Corona-Krise, waren teils nur Einmalzahlungen und bedeuten keine langfristigen Weichenstellungen.
Diese sind aber vor dem Hintergrund massiver sozialpolitischer Herausforderungen dringend notwendig. Es stehen umfassende Weichenstellungen an, wie etwa die Notwendigkeit einer sozial-ökologischen Transformation. In vielen elementaren Lebensbereichen gibt es eine Neuakzentuierung der sozialen Frage – von Bildungsvererbung über Wohnen bis hin zu drastischen Unterschieden in der Lebenserwartung. Und es gilt, Fehlentscheidungen neokonservativer und neoliberaler Sozialpolitik zu revidieren, die ebenso wie Nicht-Handeln hohe gesellschaftliche Kosten erzeugen.
Anhand welcher Kriterien lässt sich erkennen, ob sich Österreichs Sozialpolitik fortan strukturell in Richtung gesellschaftlichen Fortschritts ausrichtet? Welche Optionen gibt es, die kurz- und langfristig den sozialen Zusammenhalt in Österreich fördern? Im Folgenden wollen wir aus unserer Sicht erfolgversprechende und kohärente Leitlinien skizzieren und damit einen Beitrag für eine Debatte leisten, die dringend an Fahrt aufnehmen sollte.
2022 startet mit akuten sozialpolitischen Handlungsnotwendigkeiten
Das Jahr 2022 beginnt mit vielfältigen sozialen Problemlagen, die dringend wirksame Antworten erfordern, wie mehrere Indikatoren deutlich zeigen:
- Armutsrisiken und Unsicherheiten auf der einen Seite stehen einer absurd hohen Vermögenskonzentration auf der anderen Seite gegenüber: Das reichste Prozent der Haushalte besitzt geschätzt 41 Prozent der Gesamtvermögen in Österreich. Neuere Erhebungen der OeNB gehen aufgrund von statistischer Untererfassung sogar von 50 Prozent aus.
- Vorstandsgehälter in den ATX-Unternehmen erhöhten sich 2020 auf durchschnittlich 1,9 Millionen Euro – 57-mal so hoch wie das mittlere Einkommen in Österreich. Indes war der Anteil der Haushalte, die nur schwer bzw. sehr schwer mit ihrem Einkommen zurechtkommen, im Juni 2020 einer Befragung zufolge rund doppelt so hoch wie vor der Krise.
- Die Arbeitsmarktchancen sind und bleiben insgesamt nach wie vor sehr ungleich verteilt: Beschäftigte mit Migrationshintergrund arbeiten oft in systemrelevanten Berufen, erfahren aber zu wenig Respekt und Anerkennung dafür. Frauen leisten noch immer den Löwinnenanteil der unbezahlten Arbeit, im Erwerbsleben sind sie mit einem extrem hohen Gender-Pay-Gap von knapp 20 Prozent konfrontiert. Die Langzeitarbeitslosigkeit ist in den letzten beiden Jahren stark gestiegen, und ältere Arbeitnehmer:innen finden äußerst schwierige Rahmenbedingungen vor.
- Trotz des Rückgangs der Arbeitslosigkeit lag die Zahl der Arbeitsuchenden 2021 um rund 40.000 über dem Vorkrisenniveau 2019 und damit auch um etwa 140.000 höher als vor Ausbruch der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008. Falsche politische Prioritäten – in Österreich und Europa – wirken demnach bis heute negativ nach.
- Die psychische Belastung durch die Corona-Krise ist ein breites gesellschaftliches Phänomen geworden: Während es laut dem SORA-Demokratiemonitor 2021 im oberen Einkommensdrittel 23 Prozent sind, so geben im untersten Einkommensdrittel 59 Prozent an, dass sich ihre psychische Gesundheit während der Pandemie verschlechtert habe.
- Auch „Erben“ macht – pandemieunabhängig – oft noch einen erheblichen Unterschied im Leben – von der Ausbildung bis zu den Wohnmöglichkeiten sind die Lebensrealitäten noch sehr stark vom verfügbaren (Human-/Sozial-/Finanz-)Kapital in der Familie abhängig.
Diese Liste sozialer Schieflagen ließe sich wohl beliebig fortsetzen und ist zudem auch Ausdruck von verpassten ambitionierten Weichenstellungen in der Vergangenheit – also bereits vor Ausbruch der Pandemie. Nichtsdestotrotz: Wir sollten die „Krisenbewältigung“ als ein neuerliches wesentliches Zeitfenster sehen, das es zu nutzen gilt. Neben effektiven Lösungen für akute soziale Probleme sind nun langfristige Denkhorizonte und zukunftsgerichtete soziale Weichenstellungen gefragt.
Abfedernde Wirkungen durch Sozialstaat in der Krise – darauf kann aufgebaut werden
Der Sozialstaat in Österreich ist im Wesentlichen breit ausgebaut. Seine umfassenden Leistungen tragen viel zur Umverteilung der Markteinkommen und zur Armutsvermeidung bei. Mehrere Kriseninstrumente – vor allem die Corona-Kurzarbeit und andere sozialpartnerschaftliche Lösungen – haben sich erneut bewährt, da auf Erfahrung und funktionierende Strukturen aufgebaut werden konnte.
Insgesamt liegt aber bei der sozialen Absicherung hierzulande der Fokus nach wie vor auf – oft vom aktiven Erwerbseinkommen abgeleiteten – Geldleistungen, Ausbaupotenziale gibt es unter anderem im Bereich der sozialen Infrastruktur (von der Elementarbildung bis zur Pflege). Dass die Mittelaufbringung für die soziale Absicherung in Österreich mehr Fairness und Gerechtigkeit braucht, ist angesichts des niedrigen Beitrags aus vermögensbezogenen Abgaben augenscheinlich.
Auch die Lücken im bestehenden System sollten nicht beschönigt werden: Diese reichen von der zu geringen Absicherung durch ein im europäischen Vergleich niedriges Arbeitslosengeld über die hohe Belastung von Alleinerzieherinnen, Versorgungslücken bei der medizinischen und beruflichen Rehabilitation bis hin zu mangelnder Unterstützung für Solo-Selbstständige.
Von der sozial-ökologischen Transformation bis zur Neuverteilung der Arbeit: Weitreichende Konzepte gefragt
Während es also notwendig ist, den Sozialstaat progressiv weiterzuentwickeln, steuerte Österreichs Sozialpolitik in der jüngeren Vergangenheit oftmals in die rückwärtsgewandte Gegenrichtung: So wurden negative Vorurteile gegenüber Armutsbetroffenen, Arbeitsuchenden und Schutzsuchenden bewusst geschürt, die Höchstarbeitszeit auf 12 Stunden erhöht und eine höhere Bildungsmobilität verhindert. Selbst in den Sozialversicherungen, in denen nur Arbeitnehmer:innen versichert sind, haben nunmehr Arbeitgebervertreter:innen das Sagen. Die Kürzungen bei der Sozialhilfe treffen Familien mit mehreren Kindern besonders hart. Frauenpolitisch sind die letzten Jahre wohl als besonders „bittere Jahre“ zu bewerten. Anstatt auf den gleichstellungsfördernden Ausbau des Angebots an Kinderbetreuung und professionellen Pflegeeinrichtungen zu setzen, wurden mit dem Familienbonus besser verdienende Haushalte begünstigt. In vielen Bereichen ist sozialpolitischer Fortschritt also schlichtweg nicht gegeben – im Gegenteil: Es wurde vielfach „Sackgassen“-Politik zulasten breiter Teile der Gesellschaft betrieben!
Dieser umgesetzte Neokonservatismus ist aber alles andere als alternativlos. So könnte jede Bundesregierung bereits auf international etablierte Konzepte und progressive Debattenstränge aufbauen: Schließlich fordern immer mehr Stimmen in der wissenschaftlichen und politischen Debatte dazu auf, „bei der Gestaltung der Politik die Menschen und ihr Wohlergehen in den Mittelpunkt zu stellen“, wie es etwa ein Dokument des Rats der EU ausdrückt. Dazu zählt auch die OECD, die in einem aktuellen Bericht über die Auswirkungen der Pandemie auf gesellschaftliches Wohlergehen vor einer Rückkehr der Regierungen zum „business as usual“ von vor der Krise warnt. Unter den Begriffen „Just Transition“ und „sozial-ökologische Transformation“ wird zudem seit Jahren intensiv darüber diskutiert, dass der dringend notwendige Übergang in eine klimaneutrale Wirtschaft in einer sozial gerechten Weise erfolgen muss. Vor dem Hintergrund der Corona-Krise wurden darüber hinaus die Debatten darüber, welche negativen Auswirkungen gesellschaftliche Ungleichheit hat und wie bezahlte und unbezahlte Arbeit neu bewertet und verteilt werden kann, zu noch drängenderen Fragen.
7 Kriterien als Wegweiser für einen sozialpolitischen „Kompass für gesellschaftlichen Fortschritt“
Die österreichische Bundesregierung sollte dringend wieder einen substanziellen Sozialbericht vorlegen – eine auf fundierten Daten aufbauende Analyse der sozialen Problem- und Schieflagen. Und: Es gilt, rasch eine fortschrittliche Sozialpolitik in den Mittelpunkt zu rücken und in partizipativen Prozessen Gesamtkonzepte zu entwerfen, die die richtigen Weichen einschlagen.