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Um höhere Chancengleichheit zu erreichen, müssen Gruppen mit schlechteren Startchancen gezielt gefördert werden. Viele, zum Teil existente, Maßnahmen sind dafür relevant, z. B. die „Frühen Hilfen” oder spezifische Unterstützungen für Schulen mit einem hohen Anteil von Kindern mit besonderem Unterstützungsbedarf. Um Prozessgleichheit zu gewährleisten, müssten Diskriminierungen in allen Lebensbereichen systematisch geahndet werden.
Für eine fairere Verteilung der Einkommen gilt es, in den Kollektivvertragsverhandlungen Druck auf höhere Mindestlöhne zu erzeugen. Dabei kann auch die neue EU-Mindestlohnrichtlinie einen wichtigen Referenzpunkt darstellen. Hohe Vermögen müssen besteuert und die Erbschaftsteuer wieder eingeführt werden, um der immensen Ungleichverteilung der Vermögen zumindest teilweise zu begegnen. Auch Obergrenzen im Hinblick auf Überreichtum sollten in einer solidarischen Gesellschaft ebenso selbstverständlich diskutiert werden wie – nicht zu unterschreitende – Untergrenzen.
Der progressiv weiterentwickelte Sozialstaat muss solidarisch finanziert werden, die Beiträge zur Finanzierung des Sozialstaats müssen den jeweiligen finanziellen Möglichkeiten entsprechen. Das heißt: Menschen mit hohen Vermögen sollten einen deutlich größeren Beitrag zum Gemeinwohl leisten müssen. Das Prinzip der Solidarität muss auch für die Leistungen aus dem Sozialstaat gelten. Vulnerable Gruppen sind daher besonders zu schützen und xenophobe Ausschlüsse abzuschaffen.
Sozialen Investitionen in Bildung, Ausbildung und Qualifizierung für alle, insbesondere für benachteiligte Gruppen, kommt eine große Rolle bei der Bekämpfung von Spaltungen auf dem Arbeitsmarkt zu. Um vor allem Probleme im Hinblick auf strukturelle Arbeitslosigkeit zu beheben, beinhalten Ansätze von Beschäftigungsgarantien oder Arbeitszeitverkürzungen erfolgsversprechende Potenziale. Darüber hinaus müssen sozialpolitische Interventionen dazu beitragen, die klassischen Geschlechterrollen aufzubrechen – und viele Unternehmen mit Blick auf ihre Personalpolitik umdenken.
Ein breites Netz einer Vielzahl sozialstaatlicher Leistungen trägt derzeit essenziell zu sozialer Sicherheit bei. Doch es bestehen mehrere Potenziale für eine progressive Weiterentwicklung, beispielsweise sind ein Ausbau von Ausbildungs- und Qualifizierungsangeboten – und insbesondere rechtliche Ansprüche darauf sowie auf finanzielle Absicherung währenddessen –, ein Ausbau von Einrichtungen für Pflegebedürftige und der Gesundheitsversorgung – insbesondere auch von Maßnahmen der Gesundheitsförderung und Prävention sowie eine Verbesserung des effektiven Zugangs zu Leistungen der psychischen Gesundheitsversorgung – dringend nötig.
Darüber hinaus braucht es eine Stärkung mehrerer sozialer Rechte (siehe unten) sowie verbesserte Unterstützungsleistungen für bestimmte vulnerable Gruppen (z. B. Alleinerziehende, Menschen mit Erkrankungen, Langzeitarbeitslose).
Wichtig ist auch ein breites Netz an effektiv zugänglichen Sach- bzw. Dienstleistungen (z. B. in den Bereichen Wohnen, Gesundheit oder Mobilität), um eine bedarfsorientierte Unterstützung zu ermöglichen.
- Freiräume zur Lebensgestaltung:
Eine progressive Weiterentwicklung des Sozialstaats ist auch dahingehend erforderlich, damit Menschen mehr Möglichkeiten erhalten, jenes Leben gestalten zu können, das man sich vorstellt. Wichtige Voraussetzungen dafür sind eine armutsfeste soziale und finanzielle Absicherung, um diese Entscheidungen frei von Druck treffen und umsetzen zu können. Darüber hinaus kann ein Ausbau öffentlicher Güter, die allen Menschen offenstehen, dazu beitragen, Freiräume zur Lebensgestaltung unabhängiger von der Stellung am Arbeitsmarkt zu machen.
Zudem gilt es, einige Lehren aus den in den letzten Jahren unerwartet eingetretenen Krisen zu ziehen. Dazu zählt, sicherzustellen, dass das Gesundheitssystem auf künftige epidemiologische Krisen vorbereitet ist, und zu gewährleisten, dass die Entlohnung und die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten, die (nicht nur) in Krisen für die Bevölkerung systemerhaltende Leistungen erbringen, angemessen sind.
Im Gegensatz zu vielen anderen Ländern fehlt in Österreich ein Katalog sozialer Grundrechte in der Verfassung. Die Debatte um verfassungsrechtlich verankerte soziale Rechte sollte allerdings dringend vorangetrieben werden.
Zudem braucht es – auf der Basis breiter gesellschaftlicher Diskussionsprozesse über soziale Ziele – eine effektive Governance-Koordinierung mit klaren Zielsetzungen und geeigneten Indikatoren, um auf dieser Basis notwendige Maßnahmen abzuleiten.
Die sozialen Rechte der in Österreich lebenden Menschen müssten in zahlreichen konkreten Bereichen verbessert werden. Dazu zählen beispielsweise deutliche Erhöhungen der Nettoersatzrate von Arbeitslosengeld und Notstandshilfe, der Leistungen der Sozialhilfe bzw. Mindestsicherung sowie des Richtsatzes der Ausgleichszulage in der Pensionsversicherung. Es muss sichergestellt werden, dass die Leistungen der Existenzsicherung wirksam vor Armut schützen. Zudem müssen die auf der Ebene der Vereinten Nationen verankerten Rechte von Menschen mit Behinderungen in Österreich endlich vollständig umgesetzt werden.
Vor dem Hintergrund der Klimakrise muss es auch um die Etablierung sozial-ökologischer Rechte gehen (siehe den Beitrag von Katharina Bohnenberger und Jana Schultheiß im Buch “Klimasoziale Politik” für die folgenden Argumente). Denn Menschen mit geringen finanziellen Mitteln sind häufig stärker von den Folgen der Klimaerhitzung betroffen und können sich klimaschonende Produkte und Dienstleistungen oft kaum leisten. Darüber hinaus können mit Sozialleistungen Anreize für ökologische Lebensweisen gesetzt werden, etwa durch geeignete Gutscheinsysteme. Arbeitszeitverkürzungen – mit vollem Lohn- und Personalausgleich – und eine Jobgarantie für Langzeitarbeitslose können Erwerbschancen ermöglichen sowie bezahlte und unbezahlte Arbeitszeit umverteilen.
Im Fokus der Daseinsvorsorge stehen für das gesellschaftliche Leben grundlegende Güter und Dienstleistungen, wie Nahrung, Wohnen, Energie, Mobilität, Bildung, Qualifizierung, Erwerbsarbeit, Kinderbetreuung, Pflege, Gesundheitsschutz, soziale und politische Teilhabe etc. Dass diese Grundbedürfnisse jedenfalls gedeckt sein müssen, muss außer Streit gestellt werden. Vorhandene Angebotslücken, die sich nicht zuletzt während der Pandemie und in der aktuellen Phase hoher Inflation gezeigt haben, gilt es zu schließen, um ein qualitativ hochwertiges Versorgungsniveau für alle in Österreich lebenden Menschen sicherzustellen.
Die Weichen in Richtung sozialen Fortschritt stellen
Einige der hier erwähnten Ansatzpunkte für eine progressive Weiterentwicklung des Sozialstaats könnten rasch umgesetzt werden. Andere erfordern umfassendere Schritte oder werden auf politische Blockadehaltungen stoßen. Inwiefern es gelingt, mit einzelnen konkreten Schritten die Weichen in Richtung einer umfassenden Agenda zur Stärkung sozialen Fortschritts zu stellen, wird davon abhängen, in welchem Ausmaß es gelingt, politische Kräfteverhältnisse zugunsten sozialer und solidarischer Perspektiven zu verändern und politische Möglichkeitsfenster zu nutzen. Daran zu arbeiten, ist die Aufgabe vieler an sozialem Fortschritt orientierter gesellschaftlicher Akteur:innen.
Dieser Beitrag ist eine gekürzte Fassung unseres Kapitels „Diagnosen zur sozialen Lage und Sozialpolitik in Österreich – und Ansätze für eine progressive Weiterentwicklung des Sozialstaats“ aus der aktuellen Publikation „Soziale Lage und Sozialpolitik in Österreich 2023. Entwicklungen und Perspektiven“. Das Kapitel und die Publikation stehen zum kostenlosen Download zur Verfügung.
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