Soziale und sozialpolitische Entwicklungen in Österreich – und Schritte zu einer progressiven Weiterentwicklung des Sozialstaats

20. Juni 2023

Wie steht Österreich derzeit sozial da und wo steht Österreichs Sozialpolitik im Jahr 2023? Dieser Beitrag geht diesen Fragen nach und analysiert soziale und sozialstaatliche Entwicklungen der letzten Jahre im Überblick. Zudem geben wir Impulse für die Diskussion darüber, wie der Sozialstaat progressiv weiterentwickelt werden kann. Der Beitrag ist eine Kurzfassung unseres Kapitels, das als Teil der aktuellen Publikation „Soziale Lage und Sozialpolitik in Österreich 2023. Entwicklungen und Perspektiven“ kürzlich erschienen ist. Am 20. Juni wird die Publikation bei einer Diskussionsveranstaltung präsentiert.

Von sozialer Ungleichheit bis zu sozialen Problemen: Eine Analyse sozialer Herausforderungen  

Die sozioökonomischen Herausforderungen in Österreich sind vielfältig. Um den Blick auf unterschiedliche Phänomene zu richten, werden im Folgenden relevante Entwicklungen anhand verschiedener sozialpolitischer Konzepte analysiert.

Dekoratives Bild © A&W Blog
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  • Soziale Ungleichheit:

Das Konzept sozialer Ungleichheit verweist nicht bloß auf Unterschiede, sondern darauf, dass soziale Benachteiligungen und Vorteile ungleich verteilt sind. Wirft man einen Blick auf unterschiedliche Formen von sozialer Ungleichheit – Chancen-, Prozess- und Ergebnisungleichheit –, werden vielfältige soziale Herausforderungen deutlich. So zeigt sich fehlende Chancengleichheit etwa daran, wie stark Bildungschancen von Kindern von den Einkommen und Bildungsabschlüssen ihrer Eltern abhängen. Mit dem Konzept der Prozessungleichheit geraten verschiedene Diskriminierungen in den Blick – so gaben etwa 21 % in einer repräsentativen Umfrage an, in den vergangenen drei Jahren Schlechterbehandlung bei der Jobsuche oder am Arbeitsplatz erfahren zu haben. Doch auch die Ergebnis(un)gleichheit ist wichtig: Das durchschnittliche Einkommen vor Steuern (siehe die Studie für die Definition des Begriffs) des obersten 1 % der Einkommensbezieher:innen in Österreich ist 14-mal höher als die Mitte der Einkommensverteilung, wie Studienergebnisse der Ökonomen Stefan Jestl und Emanuel List zeigen. Eine im internationalen Vergleich besonders ungleiche Verteilung lässt sich bei den Vermögen feststellen. Schätzungen zufolge besitzt das reichste Prozent der Haushalte in Österreich rund 40 % des Gesamtvermögens.

In der COVID-Krise haben sich soziale Ungleichheiten besonders deutlich gezeigt und teils verschärft – wie sich etwa im Zuge der Debatte um die Entlohnung und Arbeitsbedingungen von „Systemerhalter:innen“ während der Pandemie gezeigt hat. Und in der aktuellen Inflationskrise zeigt sich soziale Ungleichheit etwa daran, dass besonders vulnerable Gruppen wie Arbeitslose, Niedrigeinkommensbezieher:innen oder Alleinerziehende in Befragungen angeben, dass sie sich eine Vielzahl von grundlegenden Gütern und Dienstleistungen nicht mehr leisten können.

  • Soziale Spaltung:

Soziale Spaltungstendenzen können dazu führen, dass bestimmte soziale Gruppen geringere Solidarität erfahren oder davon ausgeschlossen werden. Im österreichischen Sozialstaat sind zwar zahlreiche Elemente der Solidarität verankert, die für Umverteilung sorgen. Vor allem in den zwei Jahren vor der Pandemie wurden jedoch Maßnahmen gesetzt und Diskurse forciert, die soziale Spaltung verstärken. Dazu zählen etwa allgemeine Verschlechterungen durch die „Sozialhilfe neu“, insbesondere für Familien mit mehreren Kindern und Personen mit unzureichenden Deutsch- bzw. Englischkenntnissen. Auch wenn einige dieser Maßnahmen mittlerweile vom Verfassungsgerichtshof aufgehoben und teils von einigen Bundesländern nicht umgesetzt worden sind, befeuern sie ein Klima selektiver Solidarität.

  • Soziale Risiken:

Bei Krankheit, Alter, bei der Geburt eines Kindes oder bei einem Jobverlust unzureichend finanziell abgesichert zu sein: Das sind zentrale soziale Risiken. Österreichs Sozialversicherungssystem ist prinzipiell breit ausgebaut. So weisen etwa die öffentlichen Pensionen deutlich höhere Leistungsniveaus auf als in Deutschland: So müssen Beschäftigte mit einem Durchschnittseinkommen in Deutschland knapp 41 – bzw. künftig sogar 48 – Beitragsjahre ansammeln, um eine Pension auf dem Niveau der Armutsgefährdungsschwelle zu erhalten. In Österreich reichen dafür 26 Beitragsjahre aus.

Dennoch ist die Absicherung vor sozialen Risiken in mehreren Bereichen unzulänglich. So sind die Pensionen für viele – insbesondere Frauen – deutlich zu niedrig, wenn sie nicht ausreichend in den Arbeitsmarkt eingebunden waren. Manchen Menschen fehlt ein Krankenversicherungsschutz gänzlich, etwa wenn sie nicht pflichtversichert sind und wegen Angst vor Stigmatisierung keine Sozialhilfe beantragen. Das Risiko, arbeitslos zu werden, ist in Österreich – mit einer Nettoersatzrate des Arbeitslosengelds von nur 55 % – deutlich schlechter als in anderen Ländern abgesichert. Auch das Risiko mangelnder sozialer Absicherung aufgrund von prekärer Beschäftigung ist für viele ein Problem. Ein nicht unerhebliches soziales Risiko ist es auch, auf Pflegeleistungen angewiesen zu sein und sich die gewünschte Form der Pflege womöglich nicht leisten zu können.

  • Soziale Ungewissheit:

Bei Risiken ist es in einem gewissen Ausmaß kalkulierbar, wie wahrscheinlich sie eintreten. Bei Ungewissheiten ist indes weitgehend unbekannt, mit welcher Wahrscheinlichkeit sie eintreten könnten. Einschneidende Entwicklungen der letzten Jahre fallen in diese Kategorie – und gehen stark mit gesellschaftlichen Verunsicherungen einher. So entwickelte sich mit der Corona-Pandemie ein unvorhergesehenes Ereignis immenser sozialpolitischer Tragweite. Wie sich der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine weiterentwickelt und in welchem Ausmaß in den kommenden Jahren politische Maßnahmen gesetzt werden, die die Auswirkungen der Klimakrise effektiv und sozial gerecht bewältigen können – diese Fragen führen zu Ungewissheiten und tragen zu Gefühlen von Angst, Besorgnis und Verunsicherung bei. Das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) spricht sogar von einem „new uncertainty complex”, mit dem Gesellschaften gegenwärtig konfrontiert sind.

  • Soziale Bedürfnisse:

Das Konzept der sozialen Bedürfnisse ist vielschichtig. Eine besonders eklatante Dimension der mangelnden Erfüllung sozialer Bedürfnisse ist Armut und soziale Ausgrenzung. Gemäß der ab 2021 geltenden Berechnungsweise ist der Anteil der Bevölkerung in Österreich, der von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht ist, von 16,5 % 2019 auf 17,5 % 2022 gestiegen. Das Ausmaß der Folgen der Teuerungskrise auf die Armutssituation lässt sich durch diesen Indikator aber nur unzureichend erfassen.

Werden die Referenzbudgets des Dachverbands der Schuldnerberatungen, die die Kosten notwendiger Ausgaben erfassen, als Grundlage für die Festlegung von Armutsschwellen herangezogen, liegt die Einkommensarmutsrate in Österreich 2022 sogar bei 20,6 % – also rund einem Fünftel der Bevölkerung. Gemäß den Ergebnissen der EU-SILC-Erhebung 2022 für Österreich können es sich zudem 19 % der Haushalte nicht leisten, unerwartete Ausgaben zu tätigen, und für 13,8 % der Haushalte ist es finanziell nicht möglich, einmal im Jahr auf Urlaub zu fahren. Aktuelle Untersuchungen zeigen, dass sich der Anteil der Personen, die unter Deprivation leiden, 2022 zum Teil deutlich erhöht hat. Im dritten Quartal 2022 lebten beispielsweise bereits mehr als 710.000 Personen im Alter von 16 bis 69 Jahren in Haushalten, denen es aus finanziellen Gründen nicht möglich war, ihre Wohnung angemessen warm zu halten. Ende 2021 litten erst 370.000 Menschen unter dieser Form der Deprivation. 

  • Soziale Probleme:

Das Verständnis davon, was jeweils als soziales Problem gilt und was dessen Ursachen sind, ist gesellschaftlich umkämpft. Viele Darstellungen sozialer Probleme und ihrer Ursachen sind zudem in der öffentlichen Debatte grob verzerrt. So wird etwa das Thema der Langzeitarbeitslosigkeit in der öffentlichen Debatte oft als Ergebnis einer individuellen Wahlentscheidung gerahmt – hohe Sozialleistungen würden ein vermeintliches „Ausruhen“ in der Erwerbslosigkeit begünstigen. Das widerspricht aber schlicht der empirischen Evidenz. Auch aus den Lebensbiografien von Bezieher:innen von Wiener Mindestsicherungsleistungen lassen sich multiple Deprivationsursachen mit einer teils langen Leidensgeschichte erkennen – und mitnichten das Motiv, es sich in der „sozialen Hängematte” gut gehen zu lassen.

Tiefgehende Analysen sozialer Problemursachen und multipler Betroffenheiten machen klar, dass Menschen, die in einem Lebensbereich mit sozialen Problemen, Ungleichheiten und Diskriminierungen konfrontiert sind, solche Erfahrungen häufig auch in anderen Lebensbereichen machen bzw. gemacht haben. Auch das Phänomen der Vererbung von Armut oder generell von sozialen Lebenslagen ist vielfach belegt, gerade auch für Österreich.

Der österreichische Sozialstaat: Charakteristika und Entwicklungen

Was zeichnet die sozialpolitische Entwicklung der letzten Jahre aus? Und wie gut geht der österreichische Sozialstaat derzeit mit den oben skizzierten Herausforderungen um?

Generell trägt der Sozialstaat in einem sehr großen Ausmaß zur sozialen Sicherheit der Menschen in Österreich bei. Das zeigt sich an Berechnungen, welche die Armutsgefährdungsquote mit und ohne Berücksichtigung von Pensionszahlungen und anderen sozialen Transferzahlungen ausweist. Wegen der Sozialtransfers beträgt die Armutsgefährdungsquote 2021 15 % anstatt 45 %.

Der österreichische Sozialstaat ist in erster Linie ein Sozialversicherungsstaat. Daher ist eine möglichst ununterbrochene und gut bezahlte Erwerbstätigkeit mit hoher Erwerbsintensität eine der zentralsten Bedingungen und Voraussetzungen für einen selbst und Familienmitglieder, ökonomisch abgesichert zu sein. Haushalte und soziale Gruppen, die Schwierigkeiten haben, in den Arbeitsmarkt integriert zu sein, sind damit systematisch benachteiligt. Dazu gehören etwa Alleinerziehende. Auch Menschen mit nicht-österreichischer Staatsbürger:innenschaft haben oft Schwierigkeiten, ausreichend Erwerbseinkommen zu erzielen. Und schließlich sind in Österreich Langzeitarbeitslose, aber auch Menschen, die etwa aufgrund von Krankheit nicht auf dem Arbeitsmarkt aktiv sind, eine besonders von Armut gefährdete Gruppe. Die Leistungen des österreichischen Sozialstaats zur Existenzsicherung sind indes nicht adäquat ausgestaltet, um Menschen in schwierigen Lebenslagen effektiv vor dem Risiko von Armut oder sozialer Ausgrenzung zu schützen. So liegen die durchschnittliche monatliche Höhe der Notstandshilfe, der Höchstsatz für Sozialhilfe bzw. Mindestsicherung und der (auf eine zwölfmal jährliche Auszahlung umgerechnete) Ausgleichzulagenrichtsatz in der Pensionsversicherung allesamt unterhalb der Armutsgefährdungsschwelle für eine alleinstehende Person.

In den letzten Jahren sind durch die COVID-19-Pandemie und die aktuelle Energiekosten- und Inflationskrise vielfältige Herausforderungen für den Sozialstaat entstanden. Auf diese Krisen hat die Bundesregierung mit kurzfristigen (z. B. Einmalzahlungen), aber auch zum Teil mittel- bis längerfristigen Maßnahmen (z. B. Kurzarbeit, Delogierungsverbot etc.) reagiert. Die Sozialpolitik der ÖVP-FPÖ-Koalition zuvor war vor allem von Rückschritten geprägt: wie sich etwa Verschlechterungen bei der Mindestsicherung und der Erhöhung der Höchstarbeitszeiten zeigte.

Ansatzpunkte für eine progressive Weiterentwicklung des Sozialstaats

Der österreichische Sozialstaat ist breit ausgebaut. Doch er hat Lücken. Gelingt die Arbeitsmarktbeteiligung nicht oder nur unzureichend, bestehen bei der (zusätzlichen oder ersatzweisen) materiellen Absicherung häufig erhebliche Defizite. Wie können wir den Sozialstaat progressiv weiterentwickeln? Aufbauend auf den Begriffen zu sozialen Herausforderungen zu Beginn dieses Beitrags diskutieren wir Ansatzpunkte auf diese Frage im Folgenden anhand von 6 „Gegenteils-Konzepten“.

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  • Soziale Gleichheit:

Um höhere Chancengleichheit zu erreichen, müssen Gruppen mit schlechteren Startchancen gezielt gefördert werden. Viele, zum Teil existente, Maßnahmen sind dafür relevant, z. B. die „Frühen Hilfen” oder spezifische Unterstützungen für Schulen mit einem hohen Anteil von Kindern mit besonderem Unterstützungsbedarf. Um Prozessgleichheit zu gewährleisten, müssten Diskriminierungen in allen Lebensbereichen systematisch geahndet werden.

Für eine fairere Verteilung der Einkommen gilt es, in den Kollektivvertragsverhandlungen Druck auf höhere Mindestlöhne zu erzeugen. Dabei kann auch die neue EU-Mindestlohnrichtlinie einen wichtigen Referenzpunkt darstellen. Hohe Vermögen müssen besteuert und die Erbschaftsteuer wieder eingeführt werden, um der immensen Ungleichverteilung der Vermögen zumindest teilweise zu begegnen. Auch Obergrenzen im Hinblick auf Überreichtum sollten in einer solidarischen Gesellschaft ebenso selbstverständlich diskutiert werden wie – nicht zu unterschreitende – Untergrenzen.  

  • Solidarität:

Der progressiv weiterentwickelte Sozialstaat muss solidarisch finanziert werden, die Beiträge zur Finanzierung des Sozialstaats müssen den jeweiligen finanziellen Möglichkeiten entsprechen. Das heißt: Menschen mit hohen Vermögen sollten einen deutlich größeren Beitrag zum Gemeinwohl leisten müssen. Das Prinzip der Solidarität muss auch für die Leistungen aus dem Sozialstaat gelten. Vulnerable Gruppen sind daher besonders zu schützen und xenophobe Ausschlüsse abzuschaffen.

Sozialen Investitionen in Bildung, Ausbildung und Qualifizierung für alle, insbesondere für benachteiligte Gruppen, kommt eine große Rolle bei der Bekämpfung von Spaltungen auf dem Arbeitsmarkt zu. Um vor allem Probleme im Hinblick auf strukturelle Arbeitslosigkeit zu beheben, beinhalten Ansätze von Beschäftigungsgarantien oder Arbeitszeitverkürzungen erfolgsversprechende Potenziale. Darüber hinaus müssen sozialpolitische Interventionen dazu beitragen, die klassischen Geschlechterrollen aufzubrechen – und viele Unternehmen mit Blick auf ihre Personalpolitik umdenken.

  • Soziale Sicherheit:

Ein breites Netz einer Vielzahl sozialstaatlicher Leistungen trägt derzeit essenziell zu sozialer Sicherheit bei. Doch es bestehen mehrere Potenziale für eine progressive Weiterentwicklung, beispielsweise sind ein Ausbau von Ausbildungs- und Qualifizierungsangeboten – und insbesondere rechtliche Ansprüche darauf sowie auf finanzielle Absicherung währenddessen –, ein Ausbau von Einrichtungen für Pflegebedürftige und der Gesundheitsversorgung – insbesondere auch von Maßnahmen der Gesundheitsförderung und Prävention sowie eine Verbesserung des effektiven Zugangs zu Leistungen der psychischen Gesundheitsversorgung – dringend nötig.

Darüber hinaus braucht es eine Stärkung mehrerer sozialer Rechte (siehe unten) sowie verbesserte Unterstützungsleistungen für bestimmte vulnerable Gruppen (z. B. Alleinerziehende, Menschen mit Erkrankungen, Langzeitarbeitslose).

Wichtig ist auch ein breites Netz an effektiv zugänglichen Sach- bzw. Dienstleistungen (z. B. in den Bereichen Wohnen, Gesundheit oder Mobilität), um eine bedarfsorientierte Unterstützung zu ermöglichen.

  • Freiräume zur Lebensgestaltung:

Eine progressive Weiterentwicklung des Sozialstaats ist auch dahingehend erforderlich, damit Menschen mehr Möglichkeiten erhalten, jenes Leben gestalten zu können, das man sich vorstellt. Wichtige Voraussetzungen dafür sind eine armutsfeste soziale und finanzielle Absicherung, um diese Entscheidungen frei von Druck treffen und umsetzen zu können. Darüber hinaus kann ein Ausbau öffentlicher Güter, die allen Menschen offenstehen, dazu beitragen, Freiräume zur Lebensgestaltung unabhängiger von der Stellung am Arbeitsmarkt zu machen.

Zudem gilt es, einige Lehren aus den in den letzten Jahren unerwartet eingetretenen Krisen zu ziehen. Dazu zählt, sicherzustellen, dass das Gesundheitssystem auf künftige epidemiologische Krisen vorbereitet ist, und zu gewährleisten, dass die Entlohnung und die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten, die (nicht nur) in Krisen für die Bevölkerung systemerhaltende Leistungen erbringen, angemessen sind.

  • Soziale Rechte:

Im Gegensatz zu vielen anderen Ländern fehlt in Österreich ein Katalog sozialer Grundrechte in der Verfassung. Die Debatte um verfassungsrechtlich verankerte soziale Rechte sollte allerdings dringend vorangetrieben werden.

Zudem braucht es – auf der Basis breiter gesellschaftlicher Diskussionsprozesse über soziale Ziele – eine effektive Governance-Koordinierung mit klaren Zielsetzungen und geeigneten Indikatoren, um auf dieser Basis notwendige Maßnahmen abzuleiten.

Die sozialen Rechte der in Österreich lebenden Menschen müssten in zahlreichen konkreten Bereichen verbessert werden. Dazu zählen beispielsweise deutliche Erhöhungen der Nettoersatzrate von Arbeitslosengeld und Notstandshilfe, der Leistungen der Sozialhilfe bzw. Mindestsicherung sowie des Richtsatzes der Ausgleichszulage in der Pensionsversicherung. Es muss sichergestellt werden, dass die Leistungen der Existenzsicherung wirksam vor Armut schützen. Zudem müssen die auf der Ebene der Vereinten Nationen verankerten Rechte von Menschen mit Behinderungen in Österreich endlich vollständig umgesetzt werden.

Vor dem Hintergrund der Klimakrise muss es auch um die Etablierung sozial-ökologischer Rechte gehen (siehe den Beitrag von Katharina Bohnenberger und Jana Schultheiß im Buch “Klimasoziale Politik” für die folgenden Argumente). Denn Menschen mit geringen finanziellen Mitteln sind häufig stärker von den Folgen der Klimaerhitzung betroffen und können sich klimaschonende Produkte und Dienstleistungen oft kaum leisten. Darüber hinaus können mit Sozialleistungen Anreize für ökologische Lebensweisen gesetzt werden, etwa durch geeignete Gutscheinsysteme. Arbeitszeitverkürzungen – mit vollem Lohn- und Personalausgleich – und eine Jobgarantie für Langzeitarbeitslose können Erwerbschancen ermöglichen sowie bezahlte und unbezahlte Arbeitszeit umverteilen.

  • Daseinsvorsorge:

Im Fokus der Daseinsvorsorge stehen für das gesellschaftliche Leben grundlegende Güter und Dienstleistungen, wie Nahrung, Wohnen, Energie, Mobilität, Bildung, Qualifizierung, Erwerbsarbeit, Kinderbetreuung, Pflege, Gesundheitsschutz, soziale und politische Teilhabe etc. Dass diese Grundbedürfnisse jedenfalls gedeckt sein müssen, muss außer Streit gestellt werden. Vorhandene Angebotslücken, die sich nicht zuletzt während der Pandemie und in der aktuellen Phase hoher Inflation gezeigt haben, gilt es zu schließen, um ein qualitativ hochwertiges Versorgungsniveau für alle in Österreich lebenden Menschen sicherzustellen.

Die Weichen in Richtung sozialen Fortschritt stellen

Einige der hier erwähnten Ansatzpunkte für eine progressive Weiterentwicklung des Sozialstaats könnten rasch umgesetzt werden. Andere erfordern umfassendere Schritte oder werden auf politische Blockadehaltungen stoßen. Inwiefern es gelingt, mit einzelnen konkreten Schritten die Weichen in Richtung einer umfassenden Agenda zur Stärkung sozialen Fortschritts zu stellen, wird davon abhängen, in welchem Ausmaß es gelingt, politische Kräfteverhältnisse zugunsten sozialer und solidarischer Perspektiven zu verändern und politische Möglichkeitsfenster zu nutzen. Daran zu arbeiten, ist die Aufgabe vieler an sozialem Fortschritt orientierter gesellschaftlicher Akteur:innen.

Dieser Beitrag ist eine gekürzte Fassung unseres Kapitels „Diagnosen zur sozialen Lage und Sozialpolitik in Österreich – und Ansätze für eine progressive Weiterentwicklung des Sozialstaats“ aus der aktuellen Publikation „Soziale Lage und Sozialpolitik in Österreich 2023. Entwicklungen und Perspektiven“. Das Kapitel und die Publikation stehen zum kostenlosen Download zur Verfügung.

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