Solidarischer Wohlstand und Lebensqualität: Andere Wirtschaftspolitik benötigt ausgeweitetes Indikatorensystem

07. Dezember 2016

Mit der Krise ab 2007 wurde die einseitige Orientierung der Wirtschaftspolitik am Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) verstärkt infrage gestellt. Erfahrungen der sozialen Spaltung, zunehmende Arbeitsverdichtung und die ökologische Fragwürdigkeit vieler Produkte – dies und vieles andere mehr wurde breiter diskutiert. Daraus erwuchsen Forderungen nach einer stärker auf Wohlstand ausgerichteten Politik, die den einseitigen Fokus auf Wachstum überwinden möchte. Dieser Neuorientierung stehen jedoch Hindernisse im Weg, die wir für Österreich in den Bereichen Wissenschaft, Politik und öffentlicher Diskurs genauer zu verorten versuchen.

 

Das Band von wirtschaftlichem Wachstum und gesellschaftlichem Wohlstand bzw. individueller Lebensqualität scheint immer angespannter und in vielen Fällen gar zerrissen zu sein. Auch die Kritik am neoliberalen Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft nimmt seit dem Ausbruch der Krise zu. Der Finanzmarkt-Kapitalismus mit seiner Fixierung auf ‚shareholder value‘ erzeugt sichtbare Instabilität. Diese wachsende Kritik führte aber auch zu einem wachsenden Problembewusstsein. So plädierte die sog. Stiglitz-Sen-Fitoussi-Kommission, die der damalige französische Staatspräsident Sarkozy Anfang 2008 einsetzte, für ein deutlich ausgeweitetes Verständnis von Wohlstand und Lebensqualität. Ähnliches gilt für die von 2011-2013 arbeitende Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ des Deutschen Bundestages. In Österreich präsentierte die Statistik Austria im Oktober 2012 mit dem pfiffigen Titel „Wie geht´s Österreich?“ ein eigenes Indikatorenset. Auch das WIFO nahm die Debatte auf, einerseits prominent in ihrem europäischen Leitprojekt „WWWforEurope“, andererseits gibt es Überlegungen, dem Thema auch im Rahmen der Konjunkturprognosen des Instituts mehr Aufmerksamkeit zu schenken.

Indikatoren werden damit zum Gegenstand von politischen Auseinandersetzungen und Machtfragen. Umkämpft ist, welchen Indikatoren in der Politik mehr Bedeutung zugemessen wird – und welche Prioritäten damit gesetzt werden sollen. Der Vorschlag für ein magisches Vieleck wohlstandsorientierter Wirtschaftspolitik, wie er jüngst hier vorgestellt wurde, umfasst beispielsweise die Dimensionen fair verteilter materieller Wohlstand, Lebensqualität, Umwelt, Vollbeschäftigung, Preisstabilität, stabile Staatstätigkeit, außenwirtschaftliches Gleichgewicht und stabile Finanzmärkte. Der mit Blick auf diese Ziele verfolgte Pfad wäre im Zeitverlauf durch geeignete Indikatoren zu erfassen.

Die Kritik am BIP als alleinigem Indikator gesellschaftlichen Wohlstands und an einer einzig auf Wachstum setzenden Wirtschaftspolitik ist dabei nicht neu. Bereits in der Krise des Nachkriegskapitalismus zu Beginn der 1970er Jahre äußerte sich etwa der Unmut darüber, dass das BIP auch Umweltzerstörung und Reparaturleistungen „positiv“ darstellt. Der Titel „Grenzen des Wachstums“ des Berichts an den Club of Rome von 1972 brachte viele Einschätzungen auf den Punkt.

Auf dem Weg zu einem neuen sozial-ökologischen Verständnis von Wohlstand?

Ein sozial-ökologisch erweitertes Verständnis von gesellschaftlichem Fortschritt und Wohlstand wird zwar breit diskutiert. Auch könnte es durch den neuen, für ökologische Fragen sensibilisierten Bundespräsidenten in der öffentlichen Debatte sogar aufgewertet werden. Seine Umsetzung in konkrete Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik steht bislang jedoch noch aus.

Vielmehr dominiert nach wie vor Austeritätspolitik, die ihre negativen Wirkungen nachweislich auf dem Rücken der schwächeren Bevölkerungsgruppen sowie auf dem gesellschaftlichen Wohlstand insgesamt entfaltet. Fragen der Verteilung nicht bloß von Einkommen und Vermögen, seitens der genannten Kommissionen als wichtig für die Gestaltung der Zukunft erachtet, werden nicht angegangen. Umweltprobleme werden durch mehr oder weniger erfolgreiche Versuche, eine ökologische Modernisierung voranzutreiben, nicht an ihrer Wurzel gepackt. Die auf Naturausbeutung und immer weiterer wirtschaftlicher Expansion basierende Produktions- und Lebensweise besteht deshalb fort.

Das Mantra des BIP, die „Macht der einen Zahl“ (Philipp Lepenies) entfaltet ihre Wirkung, weil damit handfeste Interessen verbunden sind. Mächtige Wirtschaftsakteure wollen sich nicht von ihrem Weg abbringen lassen, Profite um jeden Preis zu erzielen und dabei sozial und ökologisch die Kosten gering zu halten. Da steht ein sozial-ökologisches Verständnis von Wohlstand und Lebensqualität im Weg.

In einem neuen Forschungsprojekt haben wir für die AK Wien genauer untersucht, was zum einen die Hindernisse im Hinblick auf die Verankerung einer wohlstandsorientierten Wirtschaftspolitik sind. Zum anderen wurde eben nach Möglichkeiten einer künftig besseren Verankerung gefragt. Dazu wurden 20 ExpertInneninterviews durchgeführt.

Barrieren für eine stärker auf Wohlstand fokussierte Wirtschaftspolitik in Österreich

Was die breitere öffentliche Diskussion betrifft, so hat sich die Debatte um alternative Indikatoren, wie sie etwa in den Wie geht´s Österreich?-Berichten vorgestellt werden, bislang in den Medien nicht verstetigt. Das Thema eines anderen, nämlich sozial gerechteren und ökologisch nachhaltigeren Wohlstands und einer entsprechenden Wirtschaftspolitik wird vielfach noch als „exotisch“ eingeschätzt. Das liege auch daran, dass das BIP eine „Einfachheit und Schlichtheit“ ausstrahle, der bislang schwer etwas entgegenzusetzen sei. Mit dem BIP wird zudem bis heute eine Erzählung verbunden, auch wenn diese brüchig geworden ist: „Wenn es wächst, geht’s uns besser!“ Es geht also um die Verankerung eines neuen Narratives etwa im Sinne eines „Guten Lebens für alle!“.

In den Fachdiskussionen der Wissenschaft ist das Bewusstsein um ein breiteres Wohlstandsverständnis und entsprechender Indikatoren größer. Vor allem in der außeruniversitären Forschung, zum Beispiel bei WIFO, SERI oder FORBA, ist das eindeutig der Fall. Die Wirtschaftswissenschaften an den Hochschulen hinken – trotz erfreulicher Ausnahmen – diesbezüglich nach Einschätzung vieler InterviewpartnerInnen noch hinterher. Vielfach wird hier an der Wachstumsorientierung festgehalten, obwohl die Wirtschaftskrise die orthodoxe Zunft in eine veritable Krise des Weltbilds gestoßen hat.

In den politischen Institutionen ist die Debatte über Wohlstand noch kaum angekommen

Die Studie zeigt Gründe auf, warum es so schwierig ist, die Einsichten über Probleme eines überwiegend am BIP ausgerichteten Verständnisses von Fortschritt und Wohlstand sowie Alternativen in Politik zu verankern. In der Verwaltung gibt es mitunter durchaus ein Problembewusstsein bei den handelnden Akteuren, aber in der Spitzenpolitik ist das Thema derzeit noch klar nachgereiht. Die meisten politischen Entscheidungen müssen noch durch das mit der Frage verbundene Nadelöhr, ob und wie damit das BIP gesteigert werden kann. Im Unterschied zu anderen Indikatoren wie jenen von Wie geht´s Österreich? wird das BIP, so wurde in den Interviews deutlich, von den politischen Akteuren als „ideologiefrei“ gesehen. Solange es aber keine politische Einigung auf die Aussagekraft alternativer Indikatoren oder Berichte gebe, spielen diese keine Rolle.

Weiters wird deutlich, dass es in der Politik letztendlich noch keine gewichtigen Akteure gibt, die das Thema entschieden vorantreiben. Es herrscht ein Ressortdenken gepaart mit institutioneller Trägheit vor. Entsprechend setzen sich bislang die einseitig wachstumsorientierten Kräfte und die damit verbundenen Interessen durch. Die EU-Politik sichert diese Konstellation zusätzlich ab.

Erste Schlussfolgerungen

Anhand dieser Barrieren zeichnen sich die entscheidenden Herausforderungen für eine sozial-ökologische Wohlstandspolitik bereits ab. Ein gut formuliertes Indikatorenset ist zwar eine wichtige Grundlage. Mehr als bisher müssen jedoch anderen Faktoren wie die Organisation eines Diskurszusammenhangs, die Überwindung politischer Widerstände und deren institutionelle Absicherung berücksichtigt werden. Eine stärker auf Wohlstand ausgerichtete sozial-ökologische Wirtschaftspolitik ist somit primär keine technische Frage von ökonomischen ExpertInnen, sondern eine gesellschaftliche Herausforderung.

Dieser Beitrag beruht auf der Studie „Verankerung wohlstandsorientierter Politik“, die in der Reihe Working Paper Reihe „Materialien zu Wirtschaft und Gesellschaft“ der AK Wien erschienen ist. Ein zweiter Beitrag behandelt eingehender die politischen Ableitungen.