Ein mit der Zeit sinkendes („degressives“) Arbeitslosengeld wird vom Wirtschaftsbund gefordert und immer wieder von Regierungsvertreter*innen laut angedacht. Die sinkende Auszahlung soll Arbeitslose dazu bewegen, sich mehr um Beschäftigung zu bemühen. Das Menschenbild dahinter allein ist schon hinterfragenswert. Aber selbst Ökonom*innen, deren Forschung genau darauf aufbaut, finden keine Belege, dass ein degressives Arbeitslosengeld zu mehr und schon gar nicht zu besserer Beschäftigung führt.
Die Regierung hat im letzten Jahr mehrmals angekündigt, perspektivisch ein degressives Arbeitslosengeld umsetzen zu wollen: Zuletzt war es Arbeitsminister Kocher, der so ein Modell mit am Anfang höheren und über die Zeit sinkenden Leistungen seit seinem Antrittsinterview immer wieder erwähnte. Auch AMS-Vorstand Kopf und Vizekanzler Kogler haben solche Modelle vorgeschlagen. Seit Sommer 2020 hagelte es dafür inhaltliche und politische Kritik von den Gewerkschaften: Mit solchen Maßnahmen wird Druck aufgebaut, soziale Spaltung betrieben, und an den Gründen für Arbeitslosigkeit ändern sie erst recht nichts. Aber auch konservative Ökonom*innen, die mit dem Sparen auf dem Rücken von Erwerbslosen keine grundsätzlichen Probleme haben, halten ein „degressives Modell“ für sinnlos.
Aus wissenschaftlicher Sicht gibt es drei unterschiedliche Wege, sich die Umgestaltung des Arbeitslosengeldes anzuschauen. Die ersten beiden kommen aus der Wirtschaftswissenschaft, der letzte betrifft die sozialen Folgen so einer Reform. Alle drei sind nützlich, um die Reformvorschläge einzuordnen und sich eine informierte Meinung zu bilden.
Die neoklassische Arbeitsmarktökonomie ist recht sicher, dass über die Zeit sinkende Leistungen weder bei der Jobsuche helfen noch große Einsparungen bringen. Eine keynesianische Perspektive fügt dem hinzu, dass die gesamtwirtschaftliche Nachfrage eine zentrale Rolle für die Beschäftigungszahlen spielt und diese Nachfrage durch niedrigere Geldleistungen weiter geschwächt wird. Zuletzt zeigt die Sozialforschung, dass niedrige Sozialleistungen schnell zu Armutsgefährdung und gesellschaftlichem Ausschluss führen können.
In diesem Beitrag wollen wir uns aber den konservativen Argumenten widmen. Der Status quo und mögliche Modelle liegen auf dem Tisch, weil das Wirtschaftsforschungsinstitut WIFO verschiedene Vorschläge durchgerechnet hat. Nach einer kurzen Übersicht dieser Ergebnisse sehen wir uns an, wie sich die Meinung der konservativen Ökonom*innen gewandelt hat und was aus deren Sicht gegen ein degressives Arbeitslosengeld spricht.
WIFO: Degressives Arbeitslosengeld bedeutet: viele Verlierer*innen und kaum Einsparungen
Im Auftrag der Regierung hatte das Wirtschaftsforschungsinstitut (WIFO) verschiedene Reformmodelle für das Arbeitslosengeld durchgerechnet und 2019 veröffentlicht. Dabei kam klar heraus, dass Kosteneinsparungen nur dann erzielt werden, wenn vor allem junge und kranke Menschen den Anspruch auf die Arbeitslosenversicherung verlieren. Auch ein degressives Modell, das rund 68 Prozent der Betroffenen durch niedrigere Leistungen (34 Prozent) oder kompletten Ausschluss (ebenfalls 34 Prozent) schlechtergestellt hätte, wurde anhand der tatsächlichen Arbeitslosigkeit 2016 durchgerechnet. Dieses Szenario ist tatsächlich ein bisschen weniger teuer, die Einsparungen belaufen sich aber auf nur rund 4 Prozent. Andere Modelle, die den Anspruch von gesundheitlich eingeschränkten und jungen Menschen nicht beschneiden, wären trotz Degression teurer als der momentane Zustand.
Die Studie ist bezüglich der Einsparungen auch brutal ehrlich: Sie können nur durch systematischen Ausschluss von jungen und kranken Menschen von der aktiven Arbeitsmarktpolitik erzielt werden.
Das ist wenig überraschend: Auch in der Arbeitsökonomie der letzten Jahrzehnte wird immer mehr die Meinung laut, dass die Wirkung von Sanktionen und abfallenden Zahlungen auf den Erfolg bei der Arbeitssuche verschwindend sind.
Auch neoklassische Ökonom*innen halten ein degressives Arbeitslosengeld für Blödsinn
Für Ökonom*innen deren Forschung in den „methodologischen Individualismus“ eingebettet ist, reduziert sich die Frage dann auf ein Abwägen, wie man einerseits das Konsumniveau erhalten kann, aber andererseits die Erwerbslosigkeit so unangenehm gestaltet, dass Menschen sich schnell einen neuen Job suchen. In der Sprache der Neoklassiker*innen heißt das, „Konsumglättung“ gegen „moralisches Risiko“ abzuwägen. Die entscheidenden Fragen sind dann: (1) Finden Menschen schneller einen Job, wenn sie weniger Arbeitslosengeld ausbezahlt bekommen? (2) Wie verändert sich ihr Lebensstandard durch den Jobverlust? (3) Und welche Auswirkungen hat die Verteilung der Versicherungsleistungen (zum Beispiel: zu Beginn mehr und am Ende weniger auszuzahlen)?
In den letzten Jahren hat auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse ein Umdenken stattgefunden. Ein Papier von Tatsiramos und van Ours (2012 im Journal of Economic Surveys erschienen) fasst die alte Herangehensweise zusammen: Erwerbslose sind in diesen Modellen selbst für den Erfolg bei der Jobsuche verantwortlich. Jobs sind verfügbar und werden von Erwerbslosen angenommen, wenn das angebotene Gehalt über dem individuell bestimmten „Reservationslohn“ liegt. Als Reservationslohn wird hier die Schwelle bezeichnet, unter der es einem nicht wert ist, sich Jobsuche und 40-Stunden-Woche anzutun. Der Reservationslohn sinkt, wenn sich die eigene finanzielle Situation verschlechtert, dementsprechend sollen höhere und längere Auszahlungen zu mehr Arbeitslosigkeit führen. Deshalb behaupten diese Modelle auch, dass degressive Modelle zu schnellerem Erfolg am Arbeitsmarkt führen würden.
Neuere Papiere, die auf detaillierte Datenquellen aus der Arbeitslosen- und Steuerstatistik zurückgreifen, zeigen aber das Gegenteil. Für die Regierungsdebatte spannend ist auch, dass überdurchschnittlich viele internationale Studien auf die österreichischen Daten des AMS und des Hauptverbands der Sozialversicherungsträger zurückgreifen. Diese neuen Papiere sind großteils in derselben konservativen Ideologie verankert wie die alte Lehrmeinung, kommen aber zu anderen Ergebnissen. Zum Beispiel, dass sich die Auszahlungsdauer nicht negativ auf die Jobchancen auswirkt, dass höhere Auszahlungen zu besseren Nachfolgejobs führen und dass sich ein degressives Modell negativ auswirkt.
Kann man Arbeitslose in Beschäftigung quälen?
In Bezug auf die Frage, ob sich die Auszahlungsdauer negativ auf die Jobchancen auswirkt, ist die Analyse von Card, Chetty und Weber, die 2007 in der sehr renommierten American Economic Review erschien, bahnbrechend. Sie ist auch deshalb interessant, weil die Autor*innen mit österreichischen Daten rechnen. Bis dahin waren Ökonom*innen (beispielsweise Lalive, van Ours und Zweimüller, 2006) davon ausgegangen, dass die Auszahlung von Arbeitslosengeld sich negativ auf die Jobsuche auswirkt. Als Beweis dafür wurde genommen, dass besonders viele Erwerbslose sich von der Arbeitslosenversicherung abmelden, wenn ihre Zahlungen auslaufen.
Card, Chetty und Weber konnten zeigen, dass in vorhergegangenen Studien mit falschen Daten gerechnet wurde. Bisher wurde das Ende des Arbeitslosengeldbezuges als Beschäftigungsaufnahme gewertet. Stattdessen können Erwerbslose auch in andere staatliche Sicherungsnetze (Notstandshilfe, Mindestsicherung) übergehen oder sich ganz vom Arbeitsmarkt zurückziehen. Wenn es um eine Bekämpfung der Erwerbslosigkeit geht, muss eigentlich geprüft werden, wann Betroffene wieder einen Job finden. Diese Wahrscheinlichkeit erhöht sich zum Ende der Bezugsdauer minimal, sie ist um nur 0,8 Prozent höher.
Eine neue Studie von Boone, Dube, Goodman und Kaplan im American Economic Review sieht sich die Auswirkung von längeren Auszahlungszeiten auf die gesamtwirtschaftliche Arbeitslosigkeit am Beispiel der Krise ab 2008 an. Sie findet keine signifikante Auswirkung kürzerer Auszahlung auf das Beschäftigungsniveau.
Schon 1996 hatten Carling, Edin, Harkman und Holmlund ein Papier im Journal of Public Economics veröffentlicht, in dem sie nur einen kleinen Effekt des Auslaufens von Leistungsbezügen auf die Wahrscheinlichkeit, einen Job zu finden, feststellten (Carling, Edin, Harkman und Holmlund, 1996, p 331). Die Autor*innen erklärten das allerdings nicht mit den unterschiedlichen Datenquellen, sondern mit dem besonderen schwedischen System der Ausbildungsgarantie.
Aus Norwegen (Bratberg und Vaage, 2000 im „Labour Economics“ erschienen) gibt es ähnliche Ergebnisse. Das einzige neuere Gegenbeispiel ist ein Papier von Vodopivec zu Slowenien (1995 von der Weltbank herausgegeben). Hier geht der Autor aber davon aus, dass der positive Effekt des Auslaufens auf die Jobsuche sich daraus ergibt, dass Erwerbslose in der „Übergangsökonomie“ der 1990er mit Bezügen schon vor dem Auslaufen vor allem im informellen Sektor Anstellung finden.
Es gibt also eine umfassende statistische Forschung, die sich recht einig ist, dass die Bezugsdauer wenig mit den Bemühungen und erst recht nicht mit den Erfolgen bei der Arbeitssuche zu tun hat.
Die Situation der Erwerbslosen
Die in der Ökonomie vorherrschende neoklassische Schule interessiert das Arbeitslosengeld auch wegen der Auswirkungen auf den Konsum.
Aber selbst in so einer „Verwertungsrechnung“ hat der Jobverlust einschneidende Folgen. In einem Paper, das Kolsrud, Landais, Nilsson und Spinnewijn 2018 in der wichtigen American Economic Review veröffentlichten, schätzen die Autor*innen einen kurzfristigen Konsumeinbruch von 4,4 Prozent und einen langfristigen Effekt von 9,1 Prozent. Schmieder und von Wachter fassen 2016 in den Annual Reviews of Economics die Ergebnisse von verschiedenen Studien zusammen und schätzen, dass in normalen Zeiten ein Konsumeinbruch von 6 bis 15 Prozent, in Rezessionen sogar von 20 bis 27 Prozent zu erwarten ist.
Besonders in Zeiten von Massenkündigungen läuft das auf erheblich negative gesamtwirtschaftliche Dynamiken hinaus. Ein Einbruch der Konsumnachfrage gefährdet auch die Arbeitsplätze der Menschen, die Konsumgüter produzieren, und kann einen Teufelskreis auslösen.
Auf der individuellen Ebene sind die Auswirkungen noch schlimmer. Den Konsum um fast 10 Prozent zu reduzieren, das lässt sich nicht durch ein paar Restaurantbesuche oder günstigere Urlaubsreisen stemmen. So ein Einschnitt kann den Verlust der Wohnung oder einen weitgehenden Rückzug aus dem gewohnten Sozialleben, der gesellschaftlichen Teilhabe bedeuten. Das zu verhindern ist eine Grundaufgabe des Sozialstaats.
Degressive Auszahlung
Das Papier, das Kolsrud, Landais, Nilsson und Spinnewijn 2018 im American Economic Review veröffentlicht haben, ist bestimmt kein Plädoyer für eine menschlichere Arbeitsmarktpolitik. Wie viele konservative Ökonom*innen beschäftigen sie sich vor allem mit dem „moralischen Risiko“, das mit dem Arbeitslosengeld einhergeht, also der Gefahr, dass Erwerbslose sich auf ihrer eigenen Versicherung ausruhen.
Mit sehr detaillierten Daten aus Schweden, die Sozialleistungen, Konsumverhalten und Vermögen kombinieren, kommen die Autor*innen aber zu einem überraschenden Schluss: Die Auszahlungen bei Langzeitarbeitslosigkeit sollten mit der Zeit steigen, nicht fallen. Dafür haben sie zwei Argumente:
Erstens ist die moralische Gefahr zu Beginn angeblich höher – oder etwas menschenfreundlicher interpretiert: Wer erst kurz erwerbslos ist, hat bessere Chancen, wieder eingestellt zu werden.
Zweitens sind nach längerer Arbeitslosigkeit oft alle Reserven verbraucht, der Konsum fällt massiv ab.
Hier sehen selbst Ökonom*innen, die auf die „Disziplinierung“ von Erwerbslosen setzen, ein, dass gegenwirkende Interventionen notwendig und sinnvoll sind. Auch hierzu gibt es Ergebnisse aus Österreich, die zeigen, wie schnell Menschen durch Erwerbslosigkeit ihr Erspartes verlieren.
Und es gibt noch ein drittes Motiv: Wer in der Erwerbslosigkeit abgesichert ist, kann sich mehr Zeit nehmen, um einen Job zu suchen, der gut zu den eigenen Fähigkeiten passt. Dazu passt auch ein Papier von Nekoei und Weber (2017, ebenfalls in der American Economic Review), das für Österreich zeigt, wie eine Verlängerung der maximalen Bezugsdauer zu höheren Löhnen im nächsten Job führt.
Selbst mit konservativem Weltbild geht sich ein degressives Modell nicht aus
Arbeitsmarktökonomie muss sich mit mehr beschäftigen als Anreizen für Erwerbslose (beziehungsweise Schikanen, die sie aus der Arbeitslosenversicherung drängen). Die Auswirkung der Erwerbslosigkeit auf die psychische Situation, Unsicherheit und Erniedrigung kommen in den meisten ökonomischen Modellen nicht vor. Auch die Verantwortung bei den Firmen zu suchen, die endeffektiv kündigen und einstellen, fällt vielen Wissenschafter*innen aus der vorherrschenden neoklassischen Denkschule nicht ein. Und zuletzt ist auch der Arbeitsalltag von Menschen, die von Kündigungen bedroht sind oder sich aus der Erwerbslosigkeit einen neuen Job suchen müssen, kaum Gegenstand der Untersuchungen.
Gerade der sprunghafte Anstieg der Arbeitslosigkeit in der Corona-Krise macht klar, wie wichtig eine umfassendere Betrachtungsweise wäre. Die 200.000 Menschen, die 2020 ihren Arbeitsplatz zumindest zeitweise verloren haben, sind dafür nicht selbst verantwortlich. Ob sie sich bei der Jobsuche mehr oder weniger anstrengen, ist sicher ein weniger wichtiger Faktor, als ob Firmen auf Kurzarbeit zurückgreifen oder die Gelegenheit für kostensparende Umstrukturierungen nutzen.
Aber selbst wenn man all das außen vor lässt, entspricht die Forderung nach einem degressiven Arbeitslosengeld nicht dem Stand der Forschung. Sogar recht konservative Ökonom*innen, die auf den Druck durch niedrigere Auszahlungen setzen, argumentieren, dass über die Zeit sinkende Beiträge kontraproduktiv sind.
Gleichzeitig gibt es viele Forscher*innen, davon überproportional viele, die mit österreichischen Daten arbeiten, die mittlerweile für eine höhere und längere Auszahlung argumentieren. So können erwerbslos Gewordene sich Jobs suchen, die besser passen, und die negativen Auswirkungen auf die Konsumnachfrage werden abgefangen.
Die Regierung sollte sich lieber an der neuesten Forschung orientieren als an veralteten Theorien. Sie kann das sogar tun, ohne mit dem konservativen Menschenbild brechen zu müssen, das in der Ökonomie immer noch vorherrscht. Ein höheres Arbeitslosengeld, eine Beschäftigungs- und Ausbildungsoffensive und ein aktives Programm gegen Kündigungen, bevor sie überhaupt passieren, entspricht dem Wissensstand deutlich besser als das degressive Modell, das schon unter Türkis-Blau als weitgehend sinnlos evaluiert wurde.