Der starke Anstieg der Preise in den letzten Monaten hat es für sehr viele Menschen schwer gemacht, ihr tägliches Leben zu bestreiten. Darunter sind mittlerweile auch viele, die formell nicht als armutsgefährdet gelten. Die Daten zur Armutsmessung aus der Statistik der EU über Einkommen und Lebensbedingungen (EU-SILC) haben hier einen blinden Fleck: Sie zeigen in erster Linie die Verteilung der Haushaltseinkommen. Aufschluss über die Kosten der Lebenserhaltung geben sie kaum. Eine aktuelle Sonderauswertung von Statistik Austria im Auftrag der Arbeiterkammer zu den notwendigen Ausgaben laut Referenzbudgets zeigt, dass die Zahl der Armutsgefährdeten aus der Ausgabenperspektive weit höher ist, als die konventionelle Berechnung ausweist.
Armut als Mangel an Teilhabemöglichkeiten
Armut bedeutet in erster Linie nicht, weniger Einkommen als andere zu haben. Armut – vor allem relative Armut, d. h. im Verhältnis zum Rest der Bevölkerung – bedeutet, weniger Möglichkeiten zur Teilhabe an der Gesellschaft zu haben als andere. Armut ist, wenn die Freund:innen ins Kino gehen oder ins Lokal und man selbst nicht mitgeht, weil man sich das nicht leisten kann. Oder wenn das eigene Kind kein adäquates Geschenk zur Geburtstagsfeier der Freundin mitbringen kann, weil der Familie das Geld dafür fehlt. Nicht in Armut zu leben bedeutet, am (jeweiligen) gesellschaftlichen Leben teilnehmen zu können, ohne für die anderen sichtbar weniger zu haben als der Rest der Gruppe.
Darüber geben die Daten zur Armutsgefährdung von EU-SILC nur bedingt Aufschluss. Primär zeigt diese Statistik die Verteilung der Einkommen einschließlich der Sozialleistungen, wie Pensionen, Arbeitslosengeld oder Familienbeihilfe. Jene Haushalte, die weniger als 60 Prozent des Medians (= Mitte der Verteilung) zur Verfügung haben, gelten als armutsgefährdet. Diese Zahl ist international und über mehrere Jahre vergleichbar und hat daher zweifellos ihre Berechtigung. Zur Messung von notwendigen Ausgaben trägt sie – definitionsgemäß – nicht bei. Dafür ist die Messung von Mindestausgabenniveaus notwendig, die zeigen, wie viel Geld notwendig ist, um sich das tägliche Leben leisten zu können. Das wiederum tun die Referenzbudgets der Schuldnerberatung Österreich.
Welche Rolle Referenzbudgets spielen können
Wie in diesem Blog bereits ausführlich beschrieben, haben die vom Dachverband der staatlich anerkannten Schuldnerberatung erstellten Referenzbudgets nicht die Aufgabe, die Zahl der von Armut betroffenen oder gefährdeten Menschen in Österreich zu quantifizieren. Daher sind sie in Bezug auf methodische Fragen EU-SILC zweifellos nicht ebenbürtig und können auf wissenschaftlicher Ebene kein Ersatz sein.
Was Referenzbudgets jedoch können, ist, den Blick auf die Betroffenheit von Armut zu schärfen. Wenn wir – als Gesellschaft – uns darauf verständigen, dass Armut weniger mit der Unterschreitung einer artifiziellen Einkommensgrenze zu tun hat als vielmehr mit der Verunmöglichung eines Mindestkonsums von täglichen Notwendigkeiten, dann brauchen wir die Referenzbudgets!
Wie Armutsmessung durch Referenzbudgets funktioniert
Auch die Armutsmessung durch Referenzbudgets ist auf die Einkommensmessung von EU-SILC angewiesen, da diese die einzige regelmäßige Messung der Haushaltseinkommen darstellt. Statistik Austria hat im Auftrag der Arbeiterkammer Wien diese Einkommensdaten genutzt, um mithilfe der monatlich notwendigen Haushaltsausgaben laut Referenzbudgets die Betroffenheit von Armut nach diesem Konzept zu messen. Daraus ergeben sich einige methodische Unschärfen – was nicht überrascht. Die beiden Systematiken sind nicht für eine Überschneidung konzipiert worden. So verwendet die Schuldnerberatung – anders als EU-SILC – keine eigene Gewichtungsskala, aufgrund derer z. B. für Paare von den 1,5-fachen Ausgaben von Einpersonenhaushalten ausgegangen wird oder von einem Faktor von 0,3 für Kinder. (Methodische Details zur Berechnung der Referenzbudgets finden sich auf der Website der „EU Platform on Reference budgets“.)
Notwendig ist auch zu erwähnen, dass sich die Werte, die EU-SILC 2021 ausweist, auf Einkommen im Jahr 2020 beziehen, während die Referenzbudgets bereits Preisniveaus von 2021 berücksichtigen. Da es hier aber nicht um wissenschaftliche Analyse, sondern vielmehr um den Vergleich von Instrumenten für Politikempfehlungen geht, müssen diese Unschärfen in den Hintergrund treten.
Deutlich höhere Einkommensarmut
Wie die Tabelle zeigt, sind die notwendigen Mindestausgaben laut Schuldnerberatung beträchtlich höher als die Armutsgefährdungsschwelle nach EU-SILC. So beträgt die Einkommensarmutsgrenze für einen Einpersonenhaushalt nach EU-SILC 1.371 Euro pro Monat. Laut Schuldnerberatung sind es jedoch 1.487 Euro, ein Plus von 116 Euro oder 8,5 Prozent. Bedeutend größer ist der Unterschied bei Paaren mit drei Kindern: Die Schuldnerberatung geht hier von um 1.164 Euro höheren Kosten aus, um Einkommensarmut zu vermeiden. Das ist ein um mehr als ein Drittel (35,4 Prozent) höherer Wert, als sich aus EU-SILC ergibt.
Vergleich der Armuts(gefährdungs)raten (Einkommensarmut) basierend auf EU-SILC bzw. Referenzbudgets
Armuts(gefährdungs)rate insgesamt | |
EU-SILC 2021 | 14,7 % |
Referenzbudgets 2022 | 20,6 % |
Differenz in Prozentpunkten | 5,9 % |
Daraus folgt, dass auch der Anteil der einkommensarmen Menschen laut Referenzbudgets (20,6 Prozent) erheblich größer ist als jener der armutsgefährdeten Personen nach EU-SILC (14,7 Prozent). Wenn man statt 60 Prozent des Medianeinkommens das Mindestausgabenniveau der staatlich anerkannten Schuldnerberatung der Einkommensarmutsmessung zugrunde legt, ergibt sich also ein Unterschied von 5,9 Prozentpunkten oder etwa 40 Prozent.