Sozialpartnerschaftliche Lohnpolitik: Kern wirtschaftlichen Erfolgs und sozialen Ausgleichs

15. November 2018

Das System der Kollektivvertragsverhandlungen ist in den Grundprinzipien seit Jahrzehnten unverändert. In Österreich haben 98 Prozent der unselbstständig Beschäftigten einen Kollektivvertrag. Das ist ein Spitzenwert in Europa. In Deutschland, das noch in den 1990er-Jahren ein ähnliches System hatte, haben weniger als 60 Prozent der Beschäftigten Kollektivverträge. Das führte zum Entstehen eines Niedriglohnsektors und massiver gesellschaftlicher Spaltung. Erst mit der Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes zum 1. Jänner 2015 konnte eine Lohnuntergrenze gefunden werden, die allerdings nach wie vor unter dem in Österreich durch Kollektivverträge garantierten Niveau liegt. Zudem regeln Kollektivverträge Mindestlöhnen für alle Qualifikationsstufen und Branchen und nicht nur ein gesamtwirtschaftliches Mindestniveau.

Gesamtwirtschaftlich bewährte Lohnleitlinie

Seit Jahrzehnten basiert die Kollektivvertragspolitik auf einer Lohnleitlinie, die – nach dem legendären ÖGB-Präsidenten – „Benya-Formel“ genannt wird: Inflationsrate plus Anstieg der Arbeitsproduktivität, also der Anstieg der KonsumentInnenpreise plus das mittelfristige Wachstum der gesamtwirtschaftlichen Produktion je Beschäftigte/m. Dabei ist zunächst wichtig festzuhalten, dass der gesamte Anstieg der Arbeitsproduktivität in die Leitlinie einfließt, nicht die Hälfte wie oft von jenen postuliert wird, die entweder unter der Hand nach oben umverteilen wollen oder der Prozentrechnung nicht mächtig sind: Angenommen Löhne machen zwei Drittel (in Österreich lag die Lohnquote 2017 mit 68,4 Prozent knapp darüber) und Gewinne ein Drittel des Nettonationaleinkommens aus und die Arbeitsproduktivität steigt um zwei Prozent, dann können Reallöhne und Gewinne jeweils um zwei Prozent wachsen, ohne die Verteilung zwischen Arbeit und Kapital zu ändern. Würden die Löhne nur um ein Prozent zulegen, dann würde dies für die Gewinne ein Plus von vier Prozent bedeuten.

Zudem wird in Österreich auf Branchenebene verhandelt. Entwicklung von Produktion und Produktivität unterscheiden sich zwischen den Branchen ebenso wie der Organisationsgrad der Gewerkschaften. Dies bedingt unterschiedliche Spielräume gegenüber der gesamtwirtschaftlich ausgerichteten Lohnleitlinie.

Die Lohnleitlinie wird außerdem von der Konjunktur beeinflusst. Bei Hochkonjunktur, hoher Kapazitätsauslastung und Rückgang der Arbeitslosigkeit fallen die Lohnerhöhungen meist etwas kräftiger aus, weil die Gewerkschaften die höhere Verhandlungsmacht nutzen können, um die Beschäftigten vom raschen Anstieg des Wohlstandes profitieren zu lassen. Bei ungünstiger Konjunktur und schwächerer Verhandlungsmacht bleiben die Lohnerhöhungen etwas hinter der Vorgabe zurück.

Die gesamtwirtschaftliche Doppelrolle der Löhne

Wird die Benya-Formel in solidarischer Weise in allen Branchen ähnlich eingehalten, dann erfüllt die Lohnpolitik idealerweise ihre gesamtwirtschaftlichen Aufgaben, weil damit die Löhne ihrer wirtschaftlichen Doppelrolle gerecht werden:

  • Löhne und Gehälter sind einerseits Kosten für die Unternehmen und damit ist Rücksicht auf deren Wettbewerbsfähigkeit zu nehmen,
  • andererseits sind sie Einkommen für die ArbeitnehmerInnen und bestimmen damit die Konsumnachfrage.

Bei einem Anstieg der Löhne und Gehälter in der Gesamtwirtschaft im genannten Ausmaß würden sich die realen Lohnstückkosten nicht erhöhen. Die Lohnkosten je Beschäftigte/m steigen genau gleich rasch wie die Produktion je Beschäftigte/m. Arbeit wird also gesamtwirtschaftlich nicht teurer. Weil in der Exportindustrie das Wachstum der Arbeitsproduktivität im langfristigen Durchschnitt viel höher als in der Gesamtwirtschaft ist, nämlich bei etwa drei Prozent pro Jahr, sinken dort die Lohnkosten pro erzeugter Einheit und die preisliche Wettbewerbsfähigkeit steigt. Gleichzeitig steigen in der Gesamtwirtschaft die Realeinkommen pro Kopf. Damit ist die Basis für einen Anstieg der Konsumnachfrage gelegt.

Die Leitlinie der österreichischen Lohnpolitik ist also in idealer Rücksichtnahme auf gesamtwirtschaftliche Erfordernisse darauf ausgerichtet, sowohl die Exportnachfrage als auch die Konsumnachfrage zu beleben, die zusammen 85 Prozent der Gesamtnachfrage ausmachen. Sie ist damit auch in besonderem Ausmaß auf möglichst starke Beschäftigungsförderung orientiert.

Die europäische Dimension der Lohnpolitik

Diese Lohnleitlinie sollte auch Vorbild für die Europäische Union sein („goldene Lohnregel“). Sie wäre die Voraussetzung für ein gleichgewichtiges Wachstum von Export- und Binnennachfrage und könnte so jene hohen Außenhandelsungleichgewichte vermeiden, die die Währungsunion vor eine Zerreißprobe stellen: Wenn in Deutschland die Löhne in Relation zur Arbeitsproduktivität dauerhaft langsamer steigen als in Spanien, dann baut Deutschland ein strukturelles Importdefizit und Spanien einen Importüberschuss auf. Dies hält eine Währungsunion nicht aus. Kollektivvertragliche Lohnverhandlungen, die sich an einer gesamtwirtschaftlich vernünftigen Lohnleitlinie orientieren, wären auch ein wirkungsvolles Instrument gegen das Problem der Deflation, das Europa in den letzten zehn Jahren immer wieder geplagt hat.

Während in Österreich das kollektivvertragliche Lohnverhandlungsmodell weitgehend hält, sind in anderen europäischen Ländern massive Rückschritte erkennbar. Vor allem in Südeuropa hat die EU im Rahmen ihrer Politik der Sozialkürzungen und Einschränkung von ArbeitnehmerInnenrechten auch eine Zerschlagung von Kollektivvertragsverhandlungen und die Verlagerung der Lohnverhandlungen auf Betriebsebene durchgesetzt. Dort stehen die ArbeitnehmerInnen oft machtlos den UnternehmerInnen gegenüber, gerade wenn die Zahl der Arbeitssuchenden so hoch ist wie heute.

Exportindustrieunternehmen: profitieren vom Kollektivvertragssystem, ohne das zu erkennen

In Österreich profitiert die Exportindustrie von der gesamtwirtschaftlichen Ausrichtung der Lohnpolitik in besonderem Ausmaß. Die Löhne steigen dort langsamer als die Produktivität. Arbeit wird für die Exportindustrie deshalb gemessen an den Lohnstückkosten immer billiger, die preisliche Wettbewerbsfähigkeit gegenüber den Handelspartnern steigt. Umso unverständlicher, dass gerade von den exportorientierten Branchen im Metallbereich der Versuch unternommen wird, das bewährte System der Branchenverhandlungen zu zerschlagen.

Dies ist vor allem deshalb erstaunlich, weil es für die Unternehmen selbst erhebliche Zusatzkosten mit sich bringen würde. Denn je stärker dezentral verhandelt wird, desto weniger werden die Gewerkschaften auf gesamtwirtschaftliche Zielsetzungen Rücksicht nehmen können. Tendenziell würden die Abschlüsse in den Betrieben mit hohen Produktivitätszuwächsen, die auf den Export ausgerichtet und meist gewerkschaftlich gut organisiert sind, höher ausfallen als in der Vergangenheit. Zudem haben dezentralisierte Verhandlungen für die Unternehmen den Nachteil, dass sie sich bezüglich der Löhne erst kundig machen müssen, was die Konkurrenz zahlt. Sie müssten Billigkonkurrenz ebenso fürchten wie einen Lohnwettlauf um Facharbeitskräfte.

In jeder Richtung ein erhebliches Risiko. Sowohl die Verzerrung des Wettbewerbs als auch diese Informationskosten entfallen beim Abschluss eines Kollektivvertrages: Es gibt einheitliche Lohnstandards und die Unternehmen können sich somit auf volkswirtschaftlich vernünftige Aktivitäten konzentrieren, nämlich die Entwicklung, Erzeugung und den Verkauf hochwertiger und innovativer Güter und Dienstleistungen.

Innovation in der KV-Politik

In jüngster Zeit sind im traditionellen System der Kollektivvertragsverhandlungen viele erfreuliche Innovationen feststellbar. Sie betreffen die Aufteilung des Verteilungsspielraumes auf Lohnerhöhung und Arbeitszeitverkürzung. In Kollektivverträgen der Elektro- und Elektronikindustrie, Bergbau und Stahl, Fahrzeugindustrie ist es gelungen, eine „Freizeitoption“ kollektivvertraglich zu verankern. In anderen Kollektivverträgen, wie etwa jüngst bei den Flughäfen, wurde eine zusätzliche Urlaubswoche für alle Beschäftigten erreicht.

Diese Vereinbarungen ermöglichen es ArbeitnehmerInnen, Lohnerhöhungen in Form kürzerer Arbeitszeiten in Anspruch zu nehmen. Damit sind eine höhere Lebensqualität und bessere Vereinbarkeit von Beruf, Familie und Bildung verbunden.

Gleichzeitig bilden neue Formen der Arbeitszeitverkürzung auch ein griffiges Instrument, um Beschäftigung zu sichern und die Arbeitslosigkeit zu verringern. So kann die bewährte kollektivvertragliche Lohnpolitik innovativ interpretiert auch in Zukunft dazu beitragen, den Wirtschaftsstandort, den Wohlstand und die Lebensqualität Österreichs an Europas Spitze zu halten.