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(Die sog. korrigierte Deckungsquote von Kollektivverträgen eines Landes ist definiert als der Anteil der von einem Kollektivvertrag erfassten Beschäftigten an der Gesamtzahl der Beschäftigten in dem jeweiligen Land, abzüglich Beschäftigtengruppen, die von Kollektivvertragsverhandlungen ausgeschlossen sind.)
Positiver Zusammenhang von Organisationsgrad der Arbeitgeberverbände und kollektivvertraglicher Deckung in EU
Innerhalb der EU besteht ein enger Zusammenhang zwischen dem Organisationsgrad der ArbeitgeberInnenverbände und der kollektivvertraglichen Deckungsquote. (Der Organisationsgrad der ArbeitgeberInnenverbände eines Landes wird definiert als Anteil der Beschäftigten in Unternehmen des privaten Sektors, welche diesen Verbänden angehören.) In den meisten der EU-15-Länder übertrifft die kollektivvertragliche Deckungsquote den Organisationsgrad der ArbeitgeberInnenverbände. Der Hauptgrund für die Diskrepanz liegt in der Existenz von Allgemeinverbindlichkeitsregelungen auf gesetzlicher Grundlage, wodurch Kollektivverträge auch für jene Unternehmen einer Branche Gültigkeit erlangen, die nicht dem abschließenden ArbeitgeberInnenverband angehören.
Allgemeinverbindlichkeitsregelungen unterbinden also den Lohnsenkungswettbewerb zwischen den Unternehmungen innerhalb einer Branche oder auch darüber hinaus. Diese Art der staatlichen Intervention ist ein Substitut für Verhandlungskoordination durch Gewerkschaften und/oder ArbeitgeberInnenverbände.
Gewerkschaften sind in der Regel dann in der Lage, den Arbeitsmarkt in einer bestimmten Branche zu beeinflussen, wenn mehr als die Hälfte der dortigen Beschäftigten von Kollektivverträgen erfasst werden. Die europäischen Erfahrungen zeigen, dass dieser kollektivvertragliche Deckungsgrad auf zwei Weisen erreicht werden kann:
- durch Branchenkollektivverträge in Verbindung mit Allgemeinverbindlichkeitsregelungen (oder funktionalen Äquivalenten);
- durch Branchenkollektivverträge kombiniert mit einem hohen Organisationsgrad der Gewerkschaften.
Welche empirisch belegten Zusammenhänge bestehen in der EU zwischen der kollektivvertraglichen Verhandlungsebene, der Deckungsquote und den Organisationsgraden von Gewerkschaften und ArbeitgeberInnenverbänden?
- Wo die Branche die dominante Ebene der Kollektivvertragsverhandlungen bildet, sind die kollektivvertragliche Deckungsquote, der gewerkschaftliche Organisationsgrad und jener der ArbeitgeberInnenverbände jeweils höher als in jeder anderen Verhandlungskonstellation.
- Wo die vertikale Steuerungskapazität der Verhandlungspartner auf der Branchenebene gering ist oder überbetriebliche Kollektivvertragsverhandlungen nur in wenigen Branchen stattfanden, sind die kollektivvertragliche Deckungsquote, der gewerkschaftliche Organisationsgrad und jener der ArbeitgeberInnenverbände jeweils niedriger als in der obigen Verhandlungskonstellation.
- Und wo Branchenkollektivverträge überhaupt fehlen, die Verhandlungen also auf dezentraler Ebene (Unternehmen, Betrieb) erfolgen, sind die kollektivvertragliche Deckungsquote und der Organisationsgrad der ArbeitgeberInnenverbände jeweils am niedrigsten unter allen drei Verhandlungskonstellationen.
Nutzen für unselbstständig Beschäftigte im privaten Sektor: überbetriebliche Lohn- und Arbeitsregelungen
Infolge der gesetzlich festgelegten Mitgliedschaft der Unternehmen des privaten Sektors in der WKÖ bzw. anderen Kammern decken in Österreich Kollektivverträge nahezu alle Beschäftigten dieses Bereichs ab. Die korrigierte Deckungsquote lag daher 2013 bei rd. 98%. Damit rangierte Österreich an der Spitze der EU.
Aufgrund der gesetzlichen Mitgliedschaft der Unternehmen in der WKÖ und anderen Kammern liegen in Österreich der Organisationsgrad der ArbeitgeberInnenverbände und der Deckungsgrad der Kollektivverträge fast auf gleicher Höhe. Die gesetzliche Mitgliedschaft auf der ArbeitgeberInnenseite stellt also ein funktionales Äquivalent für die Allgemeinverbindlichkeitsmechanismen dar.
Eine hohe Deckungsquote der Kollektivverträge stellt zudem eine der wesentlichen Voraussetzungen dafür dar, dass einem Land ein effektives Instrument „Lohnpolitik“ überhaupt zur Verfügung steht.
Die erste Schlussfolgerung lautet somit: NutznießerInnen der gesetzlichen Mitgliedschaft in den Wirtschaftskammern sind auch (nahezu) alle unselbstständig Beschäftigten im privaten Sektor der österreichischen Volkswirtschaft, denn sie werden begünstigt von (ganz überwiegend) überbetrieblichen Lohn- und Arbeitsregelungen, die von den Fachgewerkschaften des ÖGB auf dem Wege von Kollektivvertragsverhandlungen ausgehandelt wurden.
Wirtschafts- und Sozialpartnerschaft wirken der Dominanz von finanziell überlegenen Sonderinteressengruppen entgegen
Im Rahmen der österreichischen Sozialpartnerschaft werden die Interessen der ArbeitnehmerInnen und ArbeitgeberInnen von umfassenden und repräsentativen Organisationen (Kammern, ÖGB) vertreten. Der Staat räumt diesen Verbänden die regelmäßige und institutionalisierte Teilnahme an der Entwicklung und Umsetzung der Wirtschafts- und Sozialpolitik ein.
Diese Beteiligung am politischen Prozess und an der Verwaltung setzt spezifische Verbändestrukturen voraus, insbesondere die umfassende Repräsentativität sowie demokratische Legitimation und Kontrolle.
Umfassende Interessenverbände sind solche, die infolge ihrer Größe veranlasst sind, die gesamtwirtschaftlichen Folgen ihres politischen Handelns zu berücksichtigen. Anders ausgedrückt: Derartige Verbände unterliegen starken Anreizen, die externen Effekte ihres Handelns zu internalisieren. Aufgrund der gesetzlichen Mitgliedschaft und ihrer jeweiligen internen Steuerungsfähigkeit sind die Kammern in der Lage, langfristige Verpflichtungen (im Rahmen der Sozialpartnerschaft) einzugehen, die dem Gemeinwohl zugute kommen.
Die Repräsentativität der Kammern in Bezug auf ihre jeweilige Mitgliederdomäne beruht auf der gesetzlich begründeten Pflichtmitgliedschaft. Umfassende Verbände müssen, um funktionsfähig zu sein, einen internen Interessenausgleich unter den Mitgliedern vornehmen (der der Sache nach auch Minderheitenschutz ist). Diese Integration der vielfältigen Einzelinteressen, die mittels demokratischer Willensbildung erfolgt, ermöglicht es den Kammern und anderen umfassenden Verbänden, nach außen hin eine einheitliche Stellungnahme abzugeben.
Die umfassenden Verbände wirken der Dominanz von finanziell überlegenen Sonderinteressengruppen entgegen, gleichzeitig sind die großen Organisationen der ArbeitnehmerInnen und der UnternehmerInnen Gegengewichte zueinander. Weiters tragen sie zur Entscheidungsfähigkeit des politischen Systems u. a. dadurch bei, dass sie den verschiedenen Organen des Staates ihren spezifischen Sachverstand zur Verfügung stellen.
Die gesetzliche Mitgliedschaft ermöglicht die Lösung des Trittbrettfahrerproblems bei der Bereitstellung von Leistungen, die allen Mitgliedern der Gesellschaft nützen, und gewährleistet somit die ausreichende Bereitstellung sog. Kollektivgüter, z.B.: Begutachtung von Gesetzen und Verordnungen, interner und gesellschaftlicher Interessenausgleich, Mitwirkung an der Sozialpartnerschaft, berufliches Bildungswesen.
Die zweite Schlussfolgerung lautet somit: Nutznießerin der gesetzlichen Mitgliedschaft in den Wirtschaftskammern ist die österreichische Volkswirtschaft, Begünstigte sind demnach wir alle.
Negative Folgen der Aufhebung der gesetzlichen Mitgliedschaft für die Gesamtwirtschaft
Im Gefolge der Aufhebung der gesetzlichen Mitgliedschaft würden sowohl auf der ArbeitgeberInnen- als auch auf der ArbeitnehmerInnenseite partikuläre Sonderinteressengruppen viel größeres Gewicht haben als derzeit. Im Bereich der Mitgliederdomäne der Wirtschaftskammern wären dies insbesondere Großunternehmen und finanzstarke Branchenorganisationen, die als private Vereine organisiert wären.
Partikuläre Sonderinteressengruppen unterliegen keinen Anreizen, die externen Effekte ihres Handelns zu internalisieren, fühlen sich für die gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen ihrer Politik nicht verantwortlich. Sie streben die Umverteilung von Einkommen und Vermögen zugunsten ihrer begrenzten Klientel an.
In einem derartigen Interessensystem stehen zahlreiche partikuläre Verbände und Organisationen, die jeweils nur enge Sonderinteressen vertreten, in Konkurrenz zueinander, bei der sich tendenziell die finanziell stärksten durchsetzen, während die wirtschaftlich und sozial schwächsten Gruppen zu kurz kommen. Die Starken werden also noch stärker, die Schwachen schwächer.
Innerhalb der einzelnen Interessenverbände schieben sich die finanzstarken Mitglieder (v. a. Großunternehmen) bzw. Mitgliedergruppen in den Vordergrund und versuchen, mit der Austrittsdrohung die Berücksichtigung ihrer Sonderinteressen zu erzwingen. Eine umfassende Interessenvertretung, welche immer auch das übergreifende Gesamtinteresse im Auge behält und gleichzeitig die Belange der schwachen Minderheiten mitberücksichtigt, ist dann nicht mehr gegeben. Das Interessensystem leistet daher keinen Beitrag mehr zur Verminderung der sozialen Polarisierung und zur stärkeren Integration der Gesellschaft.
Die dritte Schlussfolgerung lautet somit: VerliererInnen einer Aufhebung der gesetzlichen Mitgliedschaft in den Wirtschaftskammern wären die Gesamtwirtschaft und die Gesamtgesellschaft, also wir alle. Besonders betroffen wären aber die jeweils schwächsten Teilinteressen, d. h. auf Unternehmensseite die Kleinunternehmen und auf ArbeitnehmerInnenseite die Beschäftigten in gewerkschaftlich weniger stark organisierten Branchen, Sparten und Unternehmen.