In Deutschland sind es vor allem drei Bereiche, die in der kapitalistischen Marktwirtschaft die Rechte der ArbeitnehmerInnen sichern sollen: (1.) das Arbeitsrecht als Schutzrecht gegenüber Ausbeutung und Willkür seitens der ArbeitgeberInnenseite, (2.) das selbstverwaltete und solidarische Sicherungssystem und (3.) das Koalitionsrecht bzw. die Tarifautonomie, also das Recht zum Abschluss von Tarif- bzw. auf gut Österreichisch Kollektivverträgen. Letzteres wurde im Namen des Standorts in den letzten 20 Jahren ausgehöhlt – zum Nachteil vieler Beschäftigter in Deutschland.
Die Tarifautonomie ist ein hohes Gut. ArbeitgeberInnen und die Interessenvertretungen der ArbeitnehmerInnen (Gewerkschaften) schließen Tarifverträge ab und sichern so den Frieden im Betrieb zwischen ArbeitgeberInnen und ArbeitnehmerInnen. Zudem sorgen sie für vergleichbare Wettbewerbsbedingungen der Betriebe untereinander.
Diese Auffassung wird aber längst nicht mehr von allen in Deutschland geteilt. Tarifverträge werden von den AnhängerInnen der marktradikalen Doktrin als Hindernis für den Wettbewerb und die freie Aushandlung des Arbeitslohns zwischen ArbeitgeberInnen und Beschäftigten angesehen. Die Weichen wurden deshalb so gestellt, dass Unternehmen zunehmend die Flucht aus Tarifen bzw. Tarifverträgen ermöglicht wird.
Mehrheit in Deutschland mittlerweile ohne bindende Branchenkollektivverträge
Diese Entwicklung lässt sich nach dem IAB-Betriebspanel 2016 in Zahlen belegen. Im Jahr 1998 unterlagen in Westdeutschland 68 Prozent aller Beschäftigten einer Flächentarifbindung; in Ostdeutschland waren es 52 Prozent. Im Jahr 2016 sieht die Lage völlig anders aus: In Westdeutschland lag die Quote nur noch bei 51 Prozent und in Ostdeutschland bei 36 Prozent.
Im Jahr 2016 waren in Westdeutschland 69 Prozent der Unternehmen ohne Tarifbindung, in Ostdeutschland erschreckende 78 Prozent. Vor allem in kleinen Unternehmen sind tarifvertragliche Bindungen zur Ausnahme geworden, während in großen Unternehmen ab 500 Beschäftigten die Tarifbindung noch etwa drei Viertel der Beschäftigten erfasst.
Flucht aus Kollektivverträgen hat negative Folgen für Beschäftigte
Die Folgen dieser Entwicklung liegen auf der Hand. Tarifverträge verlieren zum Nachteil der Beschäftigten an Wirkungskraft. Es entwickeln sich zunehmend – vor allem im Dienstleistungsbereich – Geschäftsmodelle, die auf niedrigen Löhnen, fehlendem Arbeitsschutz und Prekarisierung sowie offener Ausbeutung basieren.
Das „Angebotskartell“ der Arbeit wurde in weiten Teilen zerschlagen, die Macht der Gewerkschaften und der kollektiven Interessenvertretungen der arbeitenden Menschen sinkt, Löhne und Arbeitsbedingungen müssen von einzelnen ArbeitnehmerInnen ausgehandelt bzw. fraglos akzeptiert werden. Betriebe, die „schlechte“ Arbeit und niedrige Löhne anbieten, verschaffen sich Wettbewerbsvorteile gegenüber Unternehmen in der Tarifbindung. Ausdruck davon ist, was die Zahlen belegen, eine tiefe Spaltung zwischen West- und Ostdeutschland.
Die schwindende Macht der Betriebsräte verschärft das Problem
Zentral für eine gute Interessenvertretung der Beschäftigten in den Betrieben sind auch in Deutschland Betriebsräte. Sie bündeln nicht nur die Interessen der ArbeitnehmerInnen gegenüber dem Arbeitgeber bzw. der Arbeitgeberin auf betrieblicher Ebene, sondern sind gleichzeitig ein wichtiger Faktor für den sozialen Frieden im Betrieb. Wo die Einzelnen zur Durchsetzung ihrer Interessen gegenüber der Macht der Unternehmen zu schwach sind, schaffen sie „Machtpositionen“, damit die Belange der ArbeitnehmerInnen nicht unter die Räder geraten. Sie sorgen zudem auf gesetzlicher Grundlage für geregelte Formen der Mitbestimmung im Betrieb und sind nicht zuletzt zentrale AnsprechpartnerInnen für die alltäglichen Nöte.
Aber die Macht und der Einfluss der Betriebsräte sinken. Waren 1996 noch 41 Prozent der Beschäftigten in Westdeutschland in einem Branchentarifvertrag und durch einen Betriebsrat vertreten, ist der Anteil im Jahr 2016 auf 27 Prozent gesunken. Umgekehrt sind heute 39 Prozent der Beschäftigten ohne Branchentarif und Betriebsrat.
Im Klartext heißt dies: Die Interessen der Beschäftigten werden von zwei Seiten in die Zange genommen. Die „überbetriebliche“ Tarifbindung der Unternehmen sinkt durch Tarifflucht und die unmittelbare „betriebliche“ Interessenvertretung in Form eines Betriebsrates ist in immer weniger Betrieben präsent. Damit wird der Vorrang des Faktors „Kapital“ vor der Arbeit ausgebaut und zementiert.
Diese Entwicklung widerspricht dem von der Soziallehre der Kirche geforderten Vorrang der Arbeit vor dem Kapital. Die kapitalistische Marktwirtschaft in Deutschland hat in den letzten Jahrzehnten die „Machtbasis“ massiv zugunsten der Unternehmen und zulasten der Beschäftigten verschoben.
Gesetzlicher Mindestlohn und Allgemeinverbindlichkeit als Lösung?
Die ehemalige Bundesministerin für Arbeit und Soziales, Andrea Nahles, hat die Tarifflucht als „dramatisch“ bezeichnet. Die Politik ist aktiv geworden, indem zum einen ein gesetzlicher Mindestlohn eingeführt wurde, um eine Haltelinie nach unten für diejenigen zu schaffen, die aus der Tarifbindung herausfallen. Derzeit liegt dieser bei 8,84 Euro – zusätzliches Urlaubs- und Weihnachtsgeld sind dabei nicht vorgesehen. Angesichts der Wirtschaftskraft Deutschlands und im Hinblick auf einen fairen und gerechten Lohn ist das – auch im internationalen Vergleich – deutlich zu niedrig.
Zum anderen wurde die gesetzliche Initiative ergriffen, ArbeitnehmerInnen in die Tarifbindung zurückzuführen. Liegt es im „öffentlichen Interesse“, kann das Arbeitsministerium Tarifverträge für allgemein verbindlich erklären und damit Unternehmen zur Tarifbindung verpflichten. Damit der Tarifvertrag allgemein verbindlich wird, muss allerdings der Tarifausschuss zustimmen, in dem jeweils drei VertreterInnen der ArbeitgeberInnen und ArbeitnehmerInnen sitzen. Das gibt der ArbeitgeberInnenseite eine Vetomöglichkeit, die in der Praxis auch genutzt wird.
Deshalb ist eindeutig festzustellen, dass diese Änderung ein Fehlschlag war bzw. ist und die Erosion der Tarifbindung nicht aufgehalten werden konnte. Die Zahlen belegen, dass die Entwicklung so weiter geht wie vor der neuen Regelung. Die „Tariflandschaft“ ist zum Nachteil der Beschäftigten in Deutschland stärker zerklüftet denn je. Sie ist ein Flickenteppich geworden.
Was lässt sich aus den deutschen Erfahrungen lernen?
Um den „Standort“ Deutschland wettbewerbsfähig zu machen, wurden Gesetze, Regeln und die Tarifautonomie ausgehöhlt. Dies zum Nachteil der Gewerkschaften und Beschäftigten. Alle bisherigen politischen Versuche, einen fairen Machtausgleich zwischen Kapital und Arbeit stärker gesetzlich zu regeln, sind bisher ohne durchgreifenden Erfolg geblieben. Die Geister, die „wir“ riefen, haben ein Eigenleben entwickelt. Die „Büchse der Pandora“ ist geöffnet und Deutschland wird die Geister der tarifpolitischen „Untugenden“ nicht mehr los. Dies sei den ArbeitnehmerInnen in Österreich eine Warnung!
Dieser Text wurde im Magazin der Katholischen ArbeitnehmerInnen-Bewegung Österreichs „ZeitZeichen“ (Ausgabe 5/2017) erstveröffentlicht.