Ende Juni haben sich die Sozialpartner auf die Anhebung der Mindestlöhne in den Kollektivverträgen auf 1.500 Euro geeinigt. Vorangegangen war die Ankündigung der Bundesregierung, dies per Gesetz zu regeln. Nun stellt sich die Frage, ob es nicht ein Vorteil für die ArbeitnehmerInnen sein könnte, wenn ein Mindestlohn gesetzlich geregelt ist und nicht mühsam verhandelt werden muss? Was aufs Erste attraktiv klingt, steckt aber voller Tücken: Denn um das österreichische System der sozialpartnerschaftlichen Lohnverhandlungen beneiden uns zu Recht ArbeitnehmerInnen-Vertretungen aus vielen anderen Ländern. Die Basis dieses Erfolgs ist das System der Pflichtmitgliedschaft in den Kammern. Kein Wunder, dass diese wieder unter Beschuss ist. Nicht alle finden es gut, wenn Gewerkschaften erfolgreich sind.
Ein Mindestlohn, der deutlich über der Armutsschwelle liegt, hat zahlreiche positive Wirkungen. Gesellschaftlich wie auch wirtschaftlich. Da stellt sich durchaus die Frage, ob sich nicht die Regierung dessen annehmen sollte. Schließlich kann sie Gesetze auf den Weg bringen, die dann für alle Bürgerinnen und Bürger gelten.
Es ist ein zweifellos verlockender Gedanke, Mindestlöhne per Gesetz zu regeln. Viele andere europäische und außereuropäische Länder tun das auch. Und bestimmt ist die Allgemeingültigkeit ein großer Vorteil, wie auch die allgemeine Bekanntheit eines solchen Mindeststandards einen gewissen Nutzen mit sich bringt.
Warum sind wir dann also nicht schon viel früher auf diesen Gedanken gekommen?
Hohe Dichte bei Kollektivverträgen durch das System der Pflichtmitgliedschaft
Nun, das mag unter anderem damit zu tun haben, dass das österreichische System der Lohnfindung in den vergangenen Jahrzehnten durchaus erfolgreich war. In Österreich sind etwa 98 Prozent der Dienstverhältnisse von kollektivvertraglichen oder ähnlichen Regelungen erfasst. Wie ist das gelungen? Durch das System der Pflichtmitgliedschaft.
Dieses ist für das Funktionieren des Kollektivvertragssystems von zentraler Bedeutung. Dadurch, dass alle Gewerbetreibenden der entsprechenden Fachorganisation der Wirtschaftskammer angehören, gilt für diese auch immer der entsprechende Kollektivvertrag. Wäre die Wirtschaftskammer eine Organisation mit freiwilliger Mitgliedschaft, so könnte sich ein Unternehmen aussuchen, ob es dazu gehören will. Damit verbunden ist aber auch die Frage, ob dieses Unternehmen nun auch dem Kollektivvertrag angehört, der von der Wirtschaftskammer abgeschlossen wurde. Somit sucht sich das Unternehmen nicht nur aus, ob es Mitglied der Wirtschaftskammer sein will, sondern auch, ob es den Kollektivvertrag anzuwenden hat. Die Folgen für die Tarifabdeckung sind absehbar.
Wie hoch wäre ein gesetzlicher Mindestlohn?
Auch muss die Frage gestellt werden, wie hoch ein gesetzlicher Mindestlohn, der für alle Branchen gleichermaßen gelten würde, realistischerweise sein wird. Es scheint dann doch ein wenig ambitioniert, einen gesetzlichen Mindestlohn in einer Höhe anzusetzen, welche die Gewerkschaften selbst nicht erreichen konnten. Realistisch ist also ein maximaler Wert, wie er auch in direkten Sozialpartnerverhandlungen zu erreichen wäre. Da erscheint die Frage berechtigt: „Wofür dann der Umweg?“
Die Rolle der Gewerkschaften
Eine weitere Frage, die sich bei gesetzlichen Lohnregelungen aufdrängt, ist natürlich die Rolle der Gewerkschaften. Es gibt unterschiedliche Systeme der Festsetzung gesetzlicher Mindestlöhne. Es beginnt bei einer an bestimmte Kennzahlen gebundenen Indexierung, bei der die Mindestlöhne regelmäßig um diesen Prozentsatz angehoben werden. Auch Systeme einseitiger Entscheidungen von Regierung oder Parlament kommen vor. In diesen Ländern sind die Gewerkschaften im Grunde nur Zuschauerinnen. Sie können zu Demonstrationen aufrufen, Petitionen einreichen oder Parteien die Gefolgschaft verweigern – viel mehr können sie aber nicht tun.
Es gibt auch Systeme, bei denen die Gewerkschaften in die Festsetzung der Mindestlöhne mit eingebunden sind. In manchen Fällen verhandeln sie gemeinsam mit Arbeitgeberverbänden, in anderen Fällen sind sie Teil von ExpertInnengruppen, die Vorschläge erarbeiten. Doch auch hier sind die Druckmittel der Gewerkschaften begrenzt. Letztlich bleibt die Entscheidung über die Höhe der Mindestlöhne eine politische.
Dem gegenüber steht das österreichische System der Kollektivverträge. Hier verhandeln Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften direkt miteinander. Es gibt keine Vermittlung oder Schlichtung von außen. Die Gewerkschaften verhandeln selbst und sind unmittelbar für das Ergebnis verantwortlich.
Nicht nur Löhne – Was der Kollektivvertrag alles regelt
Ein ganz wichtiger Punkt von Kollektivverträgen ist, dass sie die Mindestbezüge regeln – aber nicht nur für die unterste Lohngruppe, wie ein gesetzlicher Mindestlohn. Sie setzen Mindeststandards für alle Lohngruppen fest. So hat der Hilfsarbeiter genauso seinen Mindestlohn wie die Abteilungsleiterin. Kollektivverträge berücksichtigen Lohnunterschiede unterschiedlicher Tätigkeiten, Vordienstzeiten und auch die Leistungsfähigkeit verschiedener Branchen.
Außerdem bieten sie auch noch eine ganze Reihe weiterer Regelungen, die weit über die Lohntabellen hinausgehen. In vielen Kollektivverträgen sind Regelungen für Zulagen und Zuschläge zu finden. Ohne Kollektivvertrag gäbe es auch kein Urlaubs- und Weihnachtsgeld. Auch bei Arbeitszeitverkürzungen, Verbesserungen im Urlaubsrecht und bei der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall gilt: All das und vieles mehr ist in den Kollektivverträgen geregelt.
Wir sehen also, dass das System der Kollektivverträge in den letzten Jahrzehnten sehr erfolgreich war. Die Gewerkschaften nahmen damit unmittelbar Einfluss auf die Lohnpolitik und konnten mit diesem Instrument auch immer sozialpolitische Fortschritte erreichen, lange bevor diese Eingang ins Gesetz gefunden haben. Auch erreichen wir mit diesem System beinahe alle Dienstverhältnisse. Warum also sollten wir dieses Instrument aufgeben?
Was spricht gegen ein Mischsystem?
Es gibt Menschen, die fragen: „Warum nehmen wir nicht die Vorteile des Kollektivvertrags und verbinden diese mit den Vorteilen eines gesetzlichen Mindestlohns?“ Natürlich ist auch das ein verlockender Gedanke. Aber dabei muss bedacht werden, welche Wechselwirkungen damit ausgelöst werden.
Die Problematik der Höhe eines gesetzlichen Mindestlohns und die Frage des Einflusses der Gewerkschaften darauf bestünde hier nach wie vor. Gleichzeitig wäre natürlich auch die Frage des direkten Eingriffs in ein Verhandlungsergebnis problematisch. Was wäre, wenn ein Kollektivvertrag einen niedrigeren Mindestlohn vorsehen würde als das Gesetz? Würde dann das Gesetz den Kollektivvertrag aushebeln? Der Kollektivvertrag ist doch das Ergebnis der Verhandlungen der Sozialpartner. Sollten diese denn nicht besser wissen, welches Lohnniveau in einer Branche angebracht ist?
Doch selbst wenn wir diese Fragen beiseitelassen und davon ausgehen, dass ein gesetzliches Niveau die darunter liegenden Lohngruppen anhebt, stellt sich die weitere Frage, welchen Einfluss die gesetzliche Untergrenze auf darüberliegende kollektivvertragliche Mindestlöhne hat. Rechtlich keinen, denn der Kollektivvertrag darf ja in der Regel besserstellen als das Gesetz. Soweit die Theorie. Doch wie wird die Praxis aussehen? Überall dort, wo das untere Ende der Lohntabelle über dem gesetzlichen Mindestlohn liegt, wird es bald eine Lohngruppe geben, die dem gesetzlichen Niveau entspricht. Denn auf Dauer wird es schwer werden, eine Mindesthöhe zu erhalten, die über der Grenze liegt, die selbst der Gesetzgeber als ausreichendes Mindestmaß anerkannt hat.
Welche Wirkungen ein solches Doppelsystem organisationspolitisch für die Gewerkschaften hätte, ist noch gar nicht abzusehen. Es könnte eine Entwicklung in Gang setzen, die zur Folge hat, dass die Gewerkschaften sich vorrangig um die Beschäftigten in den Gruppen oberhalb des Mindestlohns kümmern. Denn dort haben die Gewerkschaften auch direkten Einfluss und damit ein Argument, warum es wichtig ist, Gewerkschaftsmitglied zu sein. Die unterste Gruppe auf dem Niveau des Mindestlohns hingegen könnte aus dem Fokus verschwinden, was sich negativ auf die Mitgliederzahlen auswirken würde. Es würde somit eine Entwicklung einsetzen, deren Effekte sich gegenseitig verstärken würden und im Ergebnis zu einer Schwächung der Gewerkschaften führen würde. Das kann nicht in unserem Interesse liegen.
Resümee
Die Lohnpolitik soll in den Händen der Gewerkschaften bleiben. Regierungsmehrheiten wechseln und damit auch der Stellenwert, den der Mindestlohn in der politischen Debatte einnimmt. Gewerkschaften sind auch unmittelbar für das Ergebnis ihrer Lohnpolitik verantwortlich. Und sie haben Mittel zur Durchsetzung ihrer Forderungen. Diese sind besonders wirksam, wenn sie in der Auseinandersetzung gegen jene gerichtet werden, die letztlich auch die Löhne zahlen sollen – die ArbeitgeberInnen und ihre Verbände.
Eine Bundesregierung lässt sich nicht so schnell von Betriebsversammlungen und Betriebsrätekonferenzen beeindrucken. Die Arbeitgeberverbände können sich ausrechnen, wieviel ihren Mitgliedern gewerkschaftliche Kampfmaßnahmen kosten würden.
Gleichzeitig ist die verpflichtende Kammermitgliedschaft das zentrale Element, das den Kollektivverträgen auch die nötige Reichweite verschafft. Wer die Pflichtmitgliedschaft infrage stellt, greift damit auch direkt die Lohnfestsetzung mittels Branchenkollektivverträgen an.
Letztlich bleibt die Debatte über einen gesetzlichen Mindestlohn aber akademisch. Denn außer einer genannten Zahl und dem Wunsch, die Sozialpartner mögen sich des Themas annehmen, gab es vonseiten der Regierung nichts Konkretes. Damit bleibt die Lohnpolitik auch weiterhin dort, wo sie hingehört. In die Hand der Gewerkschaften. Denn diese haben das beste Mittel zur Sicherung des Lohnniveaus – die Kraft der Solidarität.