CDU und SPD haben in ihrem Koalitionsvertrag 2013 die Einführung eines gesetzlichen Mindeststundenlohns von 8,50 Euro vereinbart. Da kann man natürlich die Frage stellen, warum sich kein Pendant im wenig später abgeschlossenen österreichischen Koalitionsübereinkommen findet. Abgesehen davon, dass – basierend auf der Haltung der Wirtschaft – die ÖVP ein derartiges Ansinnen des Koalitionspartners wohl brüsk zurückgewiesen hätte, lehnen in Österreich, anders als in Deutschland, die Arbeitnehmerinteressenvertretungen einen generellen gesetzlichen Mindestlohn ab. Warum? Dafür gibt es im Wesentlichen zwei Argumentationslinien.
Argumentationslinie 1: In Österreich besteht von vorneherein ein geringerer Bedarf an einer gesetzlichen Mindestlohnfestsetzung.
In Deutschland sind Unternehmen in der Regel nur dann verpflichtet, eine bestimmte Mindestlohnhöhe nicht zu unterschreiten, wenn sie einem Arbeitgeberverband angehören, der einen Kollektivvertrag (in Deutschland: „Tarifvertrag“) abgeschlossen hat. (Der Tarifvertrag gilt dann eigentlich auch nur für die in seinem Bereich beschäftigten Gewerkschaftsmitglieder.) Weil viele Unternehmen aus den Arbeitgeberverbänden ausgetreten bzw gar nicht erst eingetreten sind, um der Tarifbindung zu entgehen, und es den Gewerkschaften vor allem in den neuen Bundesländern nur teilweise gelingt, die dadurch im „Flächentarifvertragssystem“ aufgerissenen großen Lücken durch den Abschluss von Firmentarifverträgen zu schließen, stehen viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland ohne den Schutz gewerkschaftlich ausverhandelter Mindestlohnregelungen da. Dazu kommt, dass sogar in tarifgebundenen deutschen Betrieben die Arbeitgeber (oft gesetzwidrig, weil ohne Zustimmung der betreffenden Gewerkschaft) ihre Belegschaften zwecks tatsächlicher oder vorgeblicher Sicherung von Arbeitsplätzen dazu veranlassen, einen Tariflohnverzicht zu unterschreiben. In Österreich hingegen werden Kollektivverträge auf Arbeitgeberseite in der Regel von den Wirtschaftskammern bzw deren Untergliederungen abgeschlossen, denen die in der Privatwirtschaft tätigen Unternehmen kraft Gesetzes automatisch angehören, so dass ein Ausstieg oder Nichteinstieg in den jeweiligen Kollektivvertrag der Branche anders als in Deutschland gar keine Option darstellt. Zudem sind nicht nur Gewerkschaftsmitglieder, sondern alle in der Branche beschäftigten Arbeitnehmer durch die Regeln des Kollektivvertrages geschützt („Außenseiterwirkung“). In den wachsenden Bereichen außerhalb der Wirtschaftskammerorganisation wie etwa den Sozialberufen, den privaten Bildungseinrichtungen und ähnlichen ist es den Gewerkschaften in Österreich gelungen, Kollektivverträge mit neuen freiwilligen Arbeitgebervereinigungen zu schließen. Um die wenigen verbleibenden blinden Flecken zu füllen, stehen mit der “Satzung” eines für ähnliche Verhältnisse abgeschlossenen Kollektivvertrages sowie mit dem “Mindestlohntarif” zwei Instrumente zur Verfügung (und werden auch immer wieder eingesetzt), die nicht wie der geplante deutsche Mindestlohn dem Prinzip “one size fits all” folgen, sondern auf vergleichbare Lohnregelungen abstellen. Das Ergebnis ist, dass fast 100 % der österreichischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bereits einen geregelten Mindestlohnanspruch haben. Übrigens wäre der erwähnte in Deutschland immer wieder vorkommende Verzicht ganzer Belegschaften auf die Einhaltung des Tariflohns in Österreich sogar verwaltungsstrafrechtlich ahndbar: Nach dem Lohn- und Sozialdumpingbekämpfungsgesetz können über Arbeitgeber, die den Kollektivvertragslohn unterschreiten, Geldstrafen verhängt werden.
Wie sieht es nun mit der Höhe der so erreichen Mindestlöhne aus? Die deutschen 8,50 Euro entsprechen einem monatlichen Mindestlohn von etwa 1.263,- Euro (8,50 Euro x 40 Stunden x 52 Wochen : 14 Monatsbezüge = 1.262,86 Euro). Vorgeschrieben werden soll dieser Wert in Deutschland ab 1.1.2015 – übrigens mit einer zweijährigen Übergangsfrist, sodass erst Anfang 2017 der angestrebte Mindestlohn in Deutschland voll verbindlich sein soll. In Österreich gibt es schon jetzt in zwei Drittel aller Kollektivverträge keine Lohngruppe mehr mit einem unter 1.300,- Euro liegenden Kollektivvertragslohn. Auch in jenen Kollektivverträgen, in denen für geringere Qualifikationen und Anforderungen noch niedrigere Sätze vorkommen, betrifft dies großteils Berufseinsteiger, so dass nach ein oder zwei Verwendungsjahren zumeist auch dort die 1.300,- Euro-Grenze erreicht ist. Es ist davon auszugehen, dass bis 2017, wenn in Deutschland der Mindestlohn von 8,50 Euro umfassend gilt, es auch in Österreich kaum noch Bereiche mit einem niedrigeren Kollektivvertragslohn geben wird.
Argumentationslinie 2: Auch wenn in Österreich nicht die gleiche Notwendigkeit für einen gesetzlich verordneten Mindestlohn besteht wie in Deutschland, so könnte man doch auf gut österreichisch sagen, nützt‘s nichts, so schadet’s nichts, oder? Leider doch. Die gesetzliche Festlegung eines generell geltenden Mindestlohnniveaus hätte folgende Nachteile.
Auch wenn auf Arbeitnehmerseite die Gewerkschaft (nach dem Prinzip: gemeinsam sind wir stark, mit der potentiellen Drohung eines Arbeitskampfes bei Nichteinigung) und auf Arbeitgeberseite ebenfalls ein Zusammenschluss von Unternehmen die Kollektivverträge verhandelt, handelt es sich beim Ergebnis doch jedenfalls nicht um staatlich verordnete, sondern um Marktlöhne. Während damit also die Marktgegebenheiten in der jeweiligen Branche – und oft auch zusätzlich Region – berücksichtigt werden können, wird ein obrigkeitlich fixierter, landesweiter Einheitslohn für bestimmte Arbeitnehmergruppen niedriger als erreichbar liegen (schade!) oder zu hoch, mit der Folge, dass auf verschiedene Weise Arbeitsplätze verloren gehen können: Sinken der Konsumentennachfrage wegen erhöhter Preise; gänzliche Einstellung des Angebots oder Verlagerung ins Ausland; Verdrängung regulärer Arbeitsplätze durch Schwarzarbeit oder Scheinselbständigkeit usw.
Staatliche Lohnfestsetzung bringt die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer weiters in Abhängigkeit von der Politik und schwächt vor allem die Bedeutung der Gewerkschaften – mit der Folge, dass mittel- und langfristig die Arbeitnehmerinteressen eher gefährdet als gefördert werden. Da können Mindestlöhne schon einmal eingefroren oder gar gesenkt werden – siehe zB die USA, wo der gesetzliche Mindestlohn von 1997 bis 2006 nicht erhöht wurde, also real kräftig gesunken ist, oder siehe auch Europa, wo die EU-Behörden von Staaten Mindestlohnsenkungen (real oder sogar nominal) als „Strukturreformen“ verlangen.
Dabei muss vor allem eines bedacht werden: Gewerkschaftliche Kollektivvertragspolitik regelt ja nicht nur einen absoluten Mindestlohn für die Beschäftigten am untersten Ende der Einkommensskala, sondern die Mindestlöhne und –gehälter für nahezu alle unselbständig Beschäftigten bis hinauf zu Spitzenfachleuten und Führungskräften sowie das jährliche Einkommenswachstum (meist nicht nur der zumindest zustehenden, sondern auch der tatsächlichen Bezüge einschließlich der vereinbarten Überzahlungen über dem Kollektivvertragssatz) und viele andere wichtige Arbeitsbedingungen (Dauer der Normalarbeitszeit, Freistellungsansprüche, Kündigungsmodalitäten usw). Würde daher der Staat durch Übernahme einer wichtigen Funktion der Lohnpolitik die Verhandlungs- und Kampfstärke der Gewerkschaften schwächen, hätte dies nachhaltig negative Auswirkungen auf Einkommen und Arbeitsbedingungen der meisten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in diesem Lande.