Seit Beginn der europäischen Integration ist das Versprechen von Frieden und Wohlstand fixer Bestandteil jeder EU-politischen Sonntagsrede. Während zu Beginn die verstärkte Zusammenarbeit an sich im Mittelpunkt gestanden ist, spielt spätestens seit Anfang der 1990er die konkrete Ausrichtung der EU-Politik eine immer größere Rolle. Um das sonntägliche Versprechen von nachhaltigem Wohlstand und Wohlergehen für alle auch umzusetzen, muss der politische Prozess „unter der Woche“ – insbesondere das sogenannte Europäische Semester – konsequent ausgerichtet werden.
Neues Jahrzehnt, neuer Schwung?
Es sind knapp formulierte Sätze in den für die Grundausrichtung der EU-Politik mittelfristig relevanten politischen Leitlinien der designierten EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, die durchaus aufhorchen lassen. „Ich will, dass Europa noch mehr erreicht, wenn es um soziale Gerechtigkeit und Wohlstand geht. Denn unsere Union fußt auf diesem Gründungsversprechen.“ Der Abschnitt mit der Überschrift „Eine Wirtschaft, deren Rechnung für die Menschen aufgeht“ enthält zudem das politische Versprechen, „das Europäische Semester entsprechend den Zielen der Vereinten Nationen für nachhaltige Entwicklung neu aus[zu]richten“ – ein Ziel, das beispielsweise bereits von der „Unabhängigen Kommission für Nachhaltigkeit und sozialen Zusammenhalt“ vorgeschlagen wurde.
Und es sind ambitioniert klingende Sätze in den Ende Oktober vom EU-Rat beschlossenen Schlussfolgerungen zur „Ökonomie des Wohlergehens“, deren Ansagen teils verblüffen. Entgegen der bisherigen ökonomischen Ausrichtung des Rats, der den Fokus in der wirtschaftspolitischen Steuerung in der Praxis primär auf verengte Konzepte von Wettbewerbsfähigkeit und Reduzierung öffentlicher Ausgaben legte, sollen nun etwa „die Menschen und ihr Wohlergehen in den Mittelpunkt der Politik und der Entscheidungsfindung“ gestellt werden. „Durch die Ökonomie des Wohlergehens wird der in den Verträgen und in der Grundrechtecharta der Europäischen Union verankerte Daseinszweck der Union in den Mittelpunkt gerückt“, heißt es in dem EU-Dokument darüber hinaus. Und in dem Reflexionspapier „Auf dem Weg zu einem nachhaltigen Europa bis 2030“ nimmt die Kommission für die EU in Anspruch, „eine der treibenden Kräfte hinter der Agenda 2030 der Vereinten Nationen“ gewesen zu sein – in deren Rahmen die „Sustainable Development Goals“ (SDGs) entwickelt wurden – und „sich uneingeschränkt zu ihrer Umsetzung verpflichtet“ zu haben.
Es sind Sätze, die symbolische Bedeutung erlangen könnten. Entweder dahingehend, dass sie sich in das Portfolio wohlklingender, doch wenig handlungsleitender Sätze einer deklaratorischen Sprache unverbindlicher EU-Dokumente einreihen. In diesem Fall – wenn künftige politische Entwicklungen diese Aussagen hohl oder gar zynisch klingen lassen – würden sie die Widersprüche der EU-Politik erhöhen und deren Glaubwürdigkeit untergraben. Oder aber diese Sätze werden tonangebend für die politische Agenda. Dann nämlich, wenn aktuelle gesellschaftliche Debatten und Mobilisierung – von Demonstrationen gegen mangelnde Maßnahmen zum Schutz unserer klimatischen Lebensgrundlage bis hin zu Studien über und Protesten gegen massive soziale Ungleichheiten – die Analysen und Ziele der EU-Politik tatsächlich verändern. Dies setzt voraus, Orientierungspunkte zu skizzieren, konkrete Vorschläge zu formulieren und Hindernisse klar zu benennen.
Zaghafte Schritte eines „sozialen Europas“ im Schatten neoliberaler Wirtschaftspolitik
Die Losung eines „sozialen Europas“ wurde zwar immer wieder mit der Ankündigung verbunden, die soziale Dimension der europäischen Politik zu stärken. In diesem Zusammenhang erweiterten über die Jahre mehrere arbeitsrechtliche Mindeststandards den EU-Rechtsbestand, so auch einzelne sozialpolitische Initiativen nach der Proklamation der (rechtlich unverbindlichen) europäischen Säule sozialer Rechte im November 2017.
Bestimmt wird die gesamthafte politische Ausrichtung der EU aber nach wie vor von den Leitzielen Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit und „schwarze Null“, die tief in der politischen Steuerungsarchitektur der EU sowie im Bewusstsein ihrer Akteure verankert sind. Wesentliche Weichenstellungen in diese Richtung wurden Anfang der 1990er zum einen mit der Einigung auf eine Wirtschafts- und Währungsunion getroffen. Diese enthielt bereits erste Elemente des heutigen Steuerungsrahmens mit dem Fokus auf die Wirtschaftspolitik und hier vor allem auf restriktive Regeln zur Einschränkung nationaler Budgetpolitik. Zum anderen wurde mit dem Weißbuch der EU-Kommission „Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit, Beschäftigung“ erstmalig eine Entwicklungsstrategie bis zum Ende des laufenden Jahrzehnts vorgelegt, welche die politische Agenda der kommenden Jahre bestimmen sollte. Die darauffolgenden Weiterentwicklungen des wirtschaftspolitischen Steuerungsrahmens – mit dem Stabilitäts- und Wachstumspakt (SWP) und seinen unzähligen Überarbeitungen bzw. Verschärfungen sowie der Lissabon- und der EU-2020-Strategie – stellten zumeist ein „more of the same“ dar.
Das aktuelle Europäische Semester: einseitig und technokratisch
Ein wesentliches Instrument, das darauf abzielen soll, die laufende politische Steuerung kohärenter und konsequenter zu gestalten, ist das sogenannte Europäische Semester. Seit 2011 sollen die wirtschaftspolitischen Aktivitäten auf europäischer und nationaler Ebene – theoretisch auf Basis der mittelfristigen EU-2020-Strategie – zusammengeführt und besser abgestimmt werden, sowohl inhaltlich als auch zeitlich. Im Laufe der Jahre wurden die Analysen und Empfehlungen in der Praxis auf weitere Bereiche wie die Beschäftigungs- und Sozialpolitik ausgeweitet. Gestartet wird im Herbst mit den Prioritäten für die EU bzw. die Eurozone insgesamt, konkret mit dem sogenannten Jahreswachstumsbericht und weiteren von der EU-Kommission vorbereiteten Analysen und Berichten. Nach Diskussionen und den formellen Beschlüssen im Rat folgt eine länderspezifische Phase: Abermals eingeleitet von Kommissionsdokumenten (insbesondere den Länderberichten) folgen die Pläne der Mitgliedstaaten für wirtschafts-, beschäftigungs- und sozialpolitische Maßnahmen und schließlich vor der Sommerpause die Empfehlungen, gewissermaßen „Politikaufträge“ (einschließlich der Auflagen aus dem SWP) seitens der EU an diese.
In seiner jetzigen Form ist das Europäische Semester ein mittlerweile etablierter Abstimmungsprozess und somit ein wesentliches Instrument der Politikgestaltung. In der Praxis bringt das derzeit praktizierte Europäische Semester jedoch drei Hauptprobleme mit sich:
Anstatt den Fokus auf nachhaltigen Wohlstand und Wohlergehen basierend auf einer umfassenden sozialen, ökologischen und ökonomischen Perspektive zu rücken, steht eine – noch dazu einseitig auf BIP-Wachstum, Wettbewerb und Austerität ausgelegte – Wirtschaftspolitik im Vordergrund.
Der Prozess ist technokratisch und wenig partizipativ: Weder das Europäische noch die nationalen Parlamente spielen eine entscheidende Rolle, Sozialpartner und andere wichtige Interessengruppen werden bestenfalls angehört, abweichenden Meinungen jedoch kaum Raum gegeben.
In der länderspezifischen zweiten Semesterhälfte gerät die gesamteuropäische Orientierung in der Analyse oftmals verloren. Beispielsweise kommt in den Länderanalysen kaum vor, was im einzelnen Land für eine aus gesamteuropäischer Sicht empfehlenswerte Lohn- oder Budgetpolitik getan werden kann. Stattdessen bleibt die Darstellung oft darauf reduziert, wie das einzelne Land gemessen an den anderen Einzelstaaten oder bestimmten Vorgaben abschneidet.
Diese Probleme gilt es zu überwinden, soll das Europäische Semester als Instrument für nachhaltigen Wohlstand und Wohlergehen genutzt werden. Auch wenn die sogenannte europäische Säule sozialer Rechte erste Verbesserungen durch eine stärkere Berücksichtigung sozialpolitischer Elemente brachte, braucht es nach wie vor eine umfassende Neuausrichtung nicht nur des Europäischen Semesters im engeren Sinn, sondern der wirtschaftspolitischen Steuerungsarchitektur insgesamt.
Sieben Punkte erscheinen uns besonders lohnend, da sie breite gesellschaftliche Allianzen (z. B. zwischen dem Europäischen und nationalen Parlamenten, Sozialpartnern, der Zivilgesellschaft und den BürgerInnen) ermöglichen und damit die europäische Debatte insgesamt beflügeln könnten.
Sieben Vorschläge für eine sozial-ökologische Neuausrichtung des Europäischen Semesters