In nur wenigen Tagen, am 17. November 2017, treffen sich die europäischen Staats- und RegierungschefInnen beim EU-Sozialgipfel in Göteborg, um die Europäische Säule sozialer Rechte feierlich zu proklamieren. Dieses Mal darf es nicht wieder – wie beim ursprünglichen Kommissionsvorschlag – bei unverbindlichen Empfehlungen bleiben. Gewerkschaften in ganz Europa wollen daher sicherstellen, dass die EU konkrete Maßnahmen ergreift, um die Lebenssituation der ArbeitnehmerInnen zu verbessern, und stellen konkrete Forderungen.
Soziale Säule mit wenig Inhalt
Europaweit haben ArbeitnehmerInnenvertretungen die im April dieses Jahres verabschiedete Mitteilung der Europäischen Kommission zur „Europäischen Säule sozialer Rechte“ (ESSR) größtenteils als enttäuschend eingestuft. Diese Bewertung ist auch verständlich: Immerhin kündigte Kommissionspräsident Juncker zu Beginn seiner Amtszeit eine Stärkung der sozialen Dimension Europas an, und diese Erwartungen wurden von der Kommission seitdem auch immer wieder hochgehalten. Doch das angestrebte „AAA-Rating“ in Hinblick auf die soziale Lage in der EU, wie es die Kommission mit dieser Mitteilung als Ziel angab, wurde mit den ergänzenden Initiativen nicht annähernd erreicht – seitens des Österreichischen Gewerkschaftsbundes war sogar von „heißer Luft“ die Rede.
Die Empfehlung zur sozialen Säule wurde auch als Vorschlag für eine gemeinsame Proklamation des Europäischen Parlaments, der Kommission und des Rates vorgelegt. Nun ist es soweit: Nächste Woche soll diese Proklamation ohne wesentliche Veränderungen in Göteborg unterzeichnet werden. Doch die soziale Säule muss noch dringend mit konkreten Inhalten gefüllt werden, die die AK schon im Vorfeld vorgeschlagen hat. Vorrangig ist für die ArbeitnehmerInnenvertretungen eine ernst gemeinte und wirksame Bekämpfung von Ungleichheiten innerhalb der und zwischen den Mitgliedstaaten. Ein erster Schritt zur Stärkung der ESSR wäre eine Überarbeitung des Europäischen Semesters, indem man sicherstellt, dass die soziale Dimension und sozialen Rechte tatsächlich den gleichen Stellenwert wie ökonomische Ziele haben. Ansonsten bliebe von den großen Ankündigungen wenig übrig.
ArbeitnehmerInnenvertretungen erheben ihre Stimme
Daher haben der Europäische Gewerkschaftsbund, DGB und ÖGB sowie die AK die erfolgreiche Kampagne „Social Rights First“ neu aufgelegt. Anhand von zehn sogenannten Grundpfeilern wird verdeutlicht, wo dringender Handlungs- und Nachbesserungsbedarf besteht: Die Forderungen betreffen beispielsweise einen Aktionsplan zur Umsetzung, der konkrete Schritte, Verpflichtungen sowie einen Fahrplan zur Durchsetzung der 20 Prinzipien und Rechte enthält. Darüber hinaus muss aber auch für eine ausreichende finanzielle Ausstattung gesorgt werden: Zur Umsetzung der ESSR sollen Mittel aus den bestehenden EU-Fonds und dem neuen siebenjährigen EU-Budget bereitgestellt werden.
Um diesen Forderungen Nachdruck zu verleihen, ruft die Kampagne dazu auf, sich via sozialer Medien an die Staats- und RegierungschefInnen zu wenden, um klarzustellen, dass Worthülsen allein nicht reichen. Um Europa sozialer zu machen, braucht es ein glaubwürdiges Engagement der zuständigen Institutionen mit verbindlichen Zielen.
Langfristige und grundlegende Verbesserungen sind aus Sicht der österreichischen ArbeitnehmerInnenvertretungen nur mit weiterreichenden Maßnahmen, wie einem sozialen Fortschrittsprotokoll, zu erreichen. Sollten im Rahmen des Brexit primärrechtliche Änderungen anstehen, ist die dortige Verankerung des sozialen Fortschrittsprotokolls eine der Kernforderungen, die die Gewerkschaften aus Österreich, Deutschland und Schweden aufstellen.
Überarbeitung der Entsenderichtlinie auf der Zielgeraden
Einen Gradmesser dafür, wie ernst es in Europa um die Rechte der ArbeitnehmerInnen bestellt ist, stellt die aktuelle Debatte über die Entsenderichtlinie dar. Sie ist eines der zentralen Rechtsinstrumente, die ArbeitnehmerInnen vor Lohn- und Sozialdumping im europäischen Binnenmarkt schützen und einen fairen Wettbewerb gewährleisten sollen. Seit 1997 regelt sie die Ansprüche von ArbeitnehmerInnen, die in ein anderes EU-Land entsendet werden. In Anbetracht der mehr als zwei Millionen Entsendungen in der EU wird offensichtlich, wie wichtig hier klare und gerechte Regeln auf europäischer Ebene sind.
Im März 2016 legte die Kommission eine Überarbeitung dieser Richtlinie vor, um das Prinzip „gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort“ besser zu gewährleisten. Am 16. Oktober 2017 und somit eineinhalb Jahre später einigte sich die überwiegende Mehrheit der Abgeordneten des Beschäftigungsausschusses (EMPL) des Europäischen Parlaments auf einen Bericht, der aus ArbeitnehmerInnensicht wichtige positive Punkte umfasst. So ist im Bericht nicht mehr von Mindestlohnsätzen, sondern von Entlohnung des Entsendestaates die Rede. Dies dient als Klarstellung, da unter Entlohnung auch Bestandteile wie Wochenendzulagen oder Nachtzuschläge fallen und nicht nur der eng gefasste gesetzliche oder kollektivvertragliche Mindestlohn. Der Bericht des EMPL-Ausschusses stellt auch klar, dass Kosten für die Unterkunft oder Verpflegung den Beschäftigten nicht abgezogen werden dürfen. Mitgliedstaaten soll es auch erleichtert werden, bei öffentlichen Auftragsvergaben einen Mindestlohn vorzuschreiben; die Umgehung der Bestimmungen bei Leiharbeitsfirmen soll erschwert werden. Keine Mehrheit fand sich allerdings im Ausschuss für eine Verkürzung der maximalen Entsendungsdauer auf weniger als 24 Monate, wie sie bereits von der Kommission vorgeschlagen wurde. Aus ArbeitnehmerInnensicht ist dieser Zeitraum viel zu lang, da die Dauer bei der überwiegenden Zahl an Entsendungen weniger als ein halbes Jahr beträgt.
Auf Ratsseite kam es am 23. Oktober zu einer Einigung auf eine gemeinsame Position. Im Gegensatz zum Parlament sieht der Rat die maximale Entsendungsdauer von zwölf Monaten inklusive der Möglichkeit einer begründeten Verlängerung um sechs Monate als ausreichend. Bei anderen Aspekten gibt es ähnliche Positionen wie im Parlament, beispielsweise in Hinblick auf die Stellung der Kollektivverträge und die Anwendung auf Leiharbeitsfirmen. Zuletzt war es vor allem Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, der bei seinen AmtskollegInnen um eine einheitliche Linie zu einem stärkeren Schutz vor Sozialdumping warb und davor warnte, die niedrigsten nationalen Standards zu begünstigen.
Mit der Positionierung von Parlament und Rat gehen die Verhandlungen rund um die Entsenderichtlinie auf die Zielgerade. Voraussichtlich noch im November 2017 beginnen die Trilogverhandlungen zwischen Kommission, Parlament und Rat, um die endgültige Fassung der Entsenderichtlinie zu erarbeiten. Eine Einigung im ersten Halbjahr 2018 und damit vor der Übernahme der Ratspräsidentschaft durch Österreich scheint möglich.
Sonderregelung für Beschäftigte im Straßenverkehr wahrscheinlich
Unbefriedigend ist nach derzeitiger Situation die Regelung für ArbeitnehmerInnen im Straßenverkehr. Mit der Begründung, dass es sich beim Straßenverkehr um einen naturgemäß hochmobilen Sektor handle, schlägt die Kommission spezielle Entsenderegeln für das Straßentransportgewerbe vor. Den Vorschlag zu dieser „Lex specialis Entsenderichtlinie“ präsentierte sie im Rahmen des Mobilitätspakets „Europa in Bewegung“ am 31. Mai 2017. Weder das Parlament noch der Rat sprachen sich bisher gegen diesen Sonderweg aus.
Der Entwurf sieht vor, dass die Entsenderichtlinie bei grenzüberschreitenden Fahrten erst dann zur Anwendung kommen soll, wenn ein/e Fahrer/in mehr als drei Tage im Kalendermonat in einem Mitgliedstaat tätig ist. Für innerstaatliche Transporte durch ausländische Unternehmen, die als Kabotage bezeichnet werden, soll die Entsenderichtlinie bereits ab dem ersten Tag angewendet werden. Die unterschiedlichen Interessenlagen innerhalb der europäischen Institutionen entzweien dabei in erster Linie die älteren und neueren Mitgliedstaaten. Letztere sehen ihre Wettbewerbsfähigkeit in niedrigeren Lohn- und Lohnnebenkosten. Vor allem im Rat prallen die unterschiedlichen Interessen direkt aufeinander, da manche Staaten eine deutlich längere Frist von mehr als drei Tagen fordern.
Dementsprechend zeichnen sich schon jetzt lange und intensive Debatten ab. Mit einer Abstimmung des Verkehrsausschusses TRAN im EU-Parlament ist erst im Mai 2018 zu rechnen, die Trilogverhandlungen werden deshalb wohl jedenfalls in das zweite Halbjahr 2018 und somit in die österreichische Ratspräsidentschaft fallen. Für die AK ist jedoch klar: Es gibt keine Notwendigkeit für eine Sonderregelung für Beschäftigte im Straßenverkehr. Egal ob es sich um grenzüberschreitende Fahrten handelt oder nicht, die Entsenderichtlinie sollte ab dem ersten Tag angewendet werden. Denn nur so kann Sozialdumping auf Europas Straßen vermieden und ein fairer Wettbewerb innerhalb Europas garantiert werden.
Soziales Europa ist für die Zukunft der Union entscheidend
Die Europäische Union hat schon bessere Tage erlebt. Nach dem Brexit und den Wahlerfolgen europakritischer Parteien in vielen Mitgliedstaaten ist die Vertrauenskrise allgegenwärtig. Stimmen werden lauter, wonach Europa nur dann eine Zukunft hat, wenn alle Menschen von der Union profitieren und nicht nur Interessen der Wirtschaft im Vordergrund stehen. Darum kommt den Maßnahmen zum Ausbau der sozialen Dimension Europas eine entscheidende Rolle zu. Es liegt nun an den Europäischen Institutionen, der Europäischen Säule sozialer Rechte einen Inhalt zu geben, der der Bezeichnung „Säule“ gerecht wird und den zukünftigen Herausforderungen gerecht werden kann.