Die Europäische Union war über Jahrzehnte ein erfolgreiches Modell, um Nationalismus durch gemeinsame Politik und Institutionen zu überwinden. Sie wurde als Friedens- und Zukunftsmodell für politische Gestaltung in einer globalisierten Welt gesehen. Nun hat sich Großbritannien entschieden, die EU zu verlassen. Dies hatte zunächst nationale Ursachen. Die BürgerInnen in den Industrielandschaften mit strukturellen Problemen fühlten sich abgehängt. Der politischen Elite Großbritanniens fehlte der Wille, sich an einer Weiterentwicklung zu einer europäischen politischen Union zu beteiligten.
Schließlich ist das negative Ergebnis auch auf den allgemeinen Krisenzustand der EU und ihrer Mitgliedstaaten zurückzuführen. Die europäische Politik ist derzeit so organisiert, dass relevante wirtschaftspolitische Weichenstellungen der demokratischen Willensbildung entzogen sind. Den BürgerInnen wird eine technokratisch entleerte Agenda vorgelegt. Die Transnationalisierung der Demokratie fehlt in den europäischen Verträgen, was als Kontroll- und Teilhabeverlust wahrgenommen wird. Trotz der sozialen und arbeitsrechtlichen Errungenschaften, die die Europäische Union gerade für die englischen ArbeitnehmerInnen gebracht hat, haben sich diese mehrheitlich für den Brexit entschieden.
Die Austrittsszenarien
Die Verhandlungslinien für einen Austrittsvertrag sind schon jetzt ziemlich eng gesteckt:
Großbritannien will die Binnenmarktfreiheiten einzeln verhandeln, die Jurisdiktion des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) nicht anerkennen und sich möglichst schnell aus der Finanzierung des EU-Haushaltes verabschieden. Es will gleichzeitig mit dem Austrittsvertrag den Rahmen für eine neue Kooperation abstecken.
Das Verhandlungsmandat des Europäischen Rates für die EU-Kommission sieht die Untrennbarkeit der Binnenmarktfreiheiten und der Jurisdiktion des EuGH als unabdingbare Voraussetzung vor.
Wesentliches Anliegen des „Trades Union Congress“ (TUC), des Dachverbandes der britischen Gewerkschaften, ist die Regelung wichtiger Fragen für ArbeitnehmerInnen, wie Sozialversicherung, Aufenthaltsrecht sowie ein Regressionsverbot, also das Verbot des Unterlaufens der derzeitigen EU-Rechtsstandards auf sozialem Gebiet. Es soll eine Art CETA-Vertrag entstehen, der einen „New Deal for Workers“ bietet, um zu verhindern, dass vor der Küste der EU ein völlig dereguliertes Niedrigstandardland im Stil von Singapur entsteht.
„Harter“ Brexit – „weicher“ Brexit
Theresa May hat bei den vorgezogenen Wahlen überraschend keine parlamentarische Mehrheit erreicht. Die mit Corbyn erstarkte Labour Party strebt einen weichen Brexit an, während bei der konservativen Partei von May offen ist, wohin es gehen soll. Die Austrittsverhandlungen drohen jedoch, große politische und institutionelle Kapazitäten sowohl auf mitgliedstaatlicher als auch auf EU-Ebene zu binden. Ging es aber in der bisherigen Geschichte der EU um Verbesserungen, um Wirtschaftswachstum, um eine Vertiefung der Integration, werden nunmehr Kapazitäten gebunden, die nur zu einem schlechteren Ergebnis führen: Das seit 1707 durch den Act of Union vereinigte Königreich ist vom Zerfall bedroht, das „Good Friday“-Abkommen zwischen Nordirland und der Republik Irland steht auf dem Spiel, die EU-Mitgliedstaaten reiben sich bei der Frage auf, wie die finanzielle Lücke im EU-Budget zu schließen ist.
Die gesteckten Verhandlungspositionen lassen nur eine geringe gemeinsame Schnittmenge erkennen. Kompromissformeln könnten aber entlang bestehender Modelle, wie dem Europäischen Wirtschaftsraum oder dem Schweizer Modell bis zu einer neuen kontinentalen Partnerschaft entwickelt werden. Wesentliche Kernfragen sollten jedenfalls gelöst werden: Einigung auf Programme, die gemeinsam weitergeführt werden, die Regelung des Aufenthaltsrechts im weitesten Sinne und ein Regressionsverbot bezüglich der EU-Standards auf dem Gebiet von Sozial- und Arbeitsrecht. Dies wäre ein deutliches Zeichen seitens der EU und Großbritanniens, dass an erster Stelle der Agenda die Anliegen der EU-BürgerInnen stehen.
Hingegen bedeutet ein harter Brexit den Rückfall auf WTO-Regeln und schlimmstenfalls Handelskrieg.
Der Brexit als Chance für eine mutige Debatte
Das britische Austrittsvotum ist ein Warnzeichen für die Europäische Union. Mit dem Brexit ist der europäische Integrationsprozess erstmals umkehrbar geworden. Es geht daher bei den bevorstehenden Austrittsverhandlungen nicht nur um die wirtschaftlichen, handelspolitischen und sozialen Beziehungen zu Großbritannien, sondern auch um die politische Zukunft der EU 27. Weder die Flüchtlings-, noch die Wirtschafts- und Finanzkrise sind überwunden. Seit der Erweiterung auf Zentral- und Osteuropa sind die Unterschiede bezüglich Kapazität für ökonomische Integration und Bereitschaft zur politischen Integration gewachsen. Ergänzt wird dieser Umstand durch die Fehler im Konstrukt der Europäischen Währungsunion. Das Resultat ist enormer Druck zu interner Abwertung durch Einschnitte in Arbeits- und Sozialkosten, seit die Möglichkeit der Wechselkursanpassungen innerhalb der Währungsunion weggefallen ist.
Der Brexit muss deshalb als Chance ergriffen werden, um eine mutige Debatte für Europa einzuläuten.
Sie sollte erstens bei der Jugend ansetzen. Denn zwei Drittel der Jugendlichen waren es, die sich in Großbritannien für den Verbleib in der EU ausgesprochen haben und die unter dem derzeitigen falschen wirtschaftspolitischen Kurs am meisten zu leiden haben. Seit Jahren beträgt die EU-Jugendarbeitslosigkeit 22 Prozent. Arbeitsmarktspezifische Programme reichen aber zur EU-weiten Bekämpfung der Arbeitslosigkeit nicht aus. Erst wenn die grundsätzlichen Strukturen stimmen, wird der ruinöse Wettbewerb zwischen den Mitgliedstaaten zulasten der Beschäftigten beendet. Es müssen daher zweitens die seit fast einem Jahrzehnt bekannten Webfehler der Währungsunion behoben werden durch
· eine echte Wirtschafts- und Fiskalunion,
· eine Stärkung der sozialen Rechte,
· die Harmonisierung der Unternehmensbesteuerung,
· die effektive Bekämpfung der Steuerflucht,
· eine Marktordnung für Kapitalmärkte.
Drittens bedarf es einer wirklich ambitionierten Investitionsoffensive zur Förderung strategischer Investitionen und Modernisierung der Infrastruktur.
Und schließlich braucht Europa Erfolgserlebnisse, die für seine BürgerInnen spür- und messbar sind. Dazu gehört vor allem ein soziales Fortschrittsprotokoll. Das heißt: soziale Rechte und ArbeitnehmerInnenrechte müssen ebenso wie die Grundrechte Vorrang vor den Binnenmarktfreiheiten genießen.