In der Europäischen Union sind derzeit laut Eurostat mehr als 21 Millionen Menschen arbeitslos – und das auf der Basis einer Berechnungsweise, die die Arbeitslosigkeit untererfasst. Beinahe jede/r Vierte ist in Europa von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht. Insbesondere in den Ländern, die eine radikale Spar- und Deregulierungspolitik unter Aufsicht der sogenannten „Troika“ umgesetzt haben, ist eine massive soziale Krise entstanden. Vor diesem Hintergrund erscheint es auf den ersten Blick als wichtige Maßnahme, dass die Europäische Kommission eine Initiative für eine „europäische Säule sozialer Rechte“ gestartet hat. Doch kann der Vorschlag der Kommission überhaupt einen Beitrag zu dem dringend notwendigen Kurswechsel in Richtung eines sozialen Europas einleiten?
Was ist die europäische Säule sozialer Rechte?
Erstmals erwähnt wird die Initiative in Jean-Claude Junckers erster Rede zur Lage der Union im September 2015. Angesichts der wirtschaftlichen und sozialen Situation konstatierte der Kommissionspräsident: „Die Krise ist nicht vorbei. Sie hat nur eine Pause eingelegt.“ Die geplante „europäische Säule sozialer Rechte“, die Juncker in dieser Rede ankündigte, solle „die sich verändernden Realitäten in den europäischen Gesellschaften und in der Arbeitswelt [widerspiegeln]“ und könne „als Kompass für eine erneute Konvergenz innerhalb des Euro-Raums dienen“. Im März 2016 trat die Europäische Kommission mit einem ersten Entwurf an die Öffentlichkeit. Bis Ende des Jahres haben BürgerInnen, Organisationen und Behörden im Rahmen einer öffentlichen Konsultation die Möglichkeit, sich einzubringen.
Im ersten Entwurf der Kommission werden für zwanzig Politikfelder Grundsätze formuliert, untergliedert in drei Kapitel: „Chancengleichheit und Arbeitsmarktzugang“ (Kapitel I), „Faire Arbeitsbedingungen“ (Kapitel II) und „Angemessener und nachhaltiger Sozialschutz“ (Kapitel III). Die vorgelegten – zumeist relativ allgemein formulierten – Grundsätze umfassen sowohl Bereiche, in denen der EU Kompetenz zukommt, als auch Bereiche, für die primär (oder ausschließlich) die Mitgliedstaaten zuständig sind. Der Entwurf der Kommission lässt offen, welche Rechtsform – und damit welchen Grad der Verbindlichkeit – die europäische Säule sozialer Rechte haben soll, als mögliche Form wird eine (unverbindliche) Empfehlung genannt. Den Erläuterungen der Kommission zufolge sollen bestehende Rechte jedenfalls gültig bleiben.
Ansatz zur Stärkung der sozialen Dimension der EU?
Angesichts der Krise des europäischen Sozialmodells stellt sich die Frage, ob der vorgelegte Entwurf einen Ansatz zur Stärkung der sozialen Dimension der EU darstellen kann. Mehrere Grundsätze sind an sich zu befürworten, wie etwa die Grundsätze zu einem besseren Zugang zu sozialer Infrastruktur (Kinderbetreuung, Pflege etc.), zur Verbesserung der Gleichstellung der Geschlechter und zu Aus- und Weiterbildung sowie zur Wahrung und Portabilität erworbener sozialer Rechte (wobei sich angesichts der erwähnten unklaren Rechtsform jedoch die Frage stellt, ob die Grundsätze in der Praxis tatsächlich positive Veränderungen bewirken würden).
Einige Grundsätze lesen sich hingegen wie Versatzstücke aus dem neoliberalen „Mainstream“-Rezeptbuch und sind kritisch zu beurteilen: So ist beispielsweise die als Grundsatz vorgeschlagene „Bindung des gesetzlichen Rentenalters an die Lebenserwartung“ („Pensionsautomatik“) das klare Gegenteil der vermeintlichen Intention der Initiative, soziale Rechte zu stärken. Kritisch zu sehen ist auch, dass der Entwurf die Formulierung enthält, dass durch die Art der Festsetzung von Mindestlöhnen „der Zugang zu Beschäftigung […] gewährleistet“ werden soll und durch die Dauer der Auszahlung von Arbeitslosenleistungen keine „negative[n] Anreize für eine schnelle Rückkehr in die Beschäftigung entstehen“ sollen. Im Klartext sagen diese Formulierungen aus, dass Mindestlöhne nicht zu hoch sein und Arbeitslosengeld nicht zu lange ausbezahlt werden soll.
Wenngleich diese Aussagen neben durchaus positiv zu beurteilenden Prinzipien stehen, verdeutlichen sie, dass die Agenda der Kommission auch den Raum dafür öffnet, soziale Rechte unter Druck zu setzen. Ebenfalls kritisch zu sehen ist der Grundsatz flexibler Beschäftigungsbedingungen „als Türöffner für den Arbeitsmarkt“.
Und wieder: Flexicurity
Aus dem letztgenannten und einigen weiteren Grundsätzen ist das sogenannte „Flexicurity“-Konzept herauszulesen. Die Europäische Kommission preist diese Strategie „zur gleichzeitigen Stärkung von Flexibilität und Sicherheit auf dem Arbeitsmarkt“ an, „die den Bedarf der Arbeitgeber an flexiblen Arbeitskräften mit den Anforderungen der Arbeitnehmer an die Sicherheit ihres Arbeitsplatzes vereinen, sodass diese keine langen Phasen der Arbeitslosigkeit fürchten müssen“. Die Praxis hat jedoch gezeigt, dass weit mehr Augenmerk auf den Aspekt der Flexibilität als auf jenen der Sicherheit gelegt wird.
Die Umsetzung von „Flexicurity“ erfolgte zumeist „in der Form einseitiger Deregulierung der Zeitverträge realisiert, ohne die soziale Absicherung der davon Betroffenen zu verbessern. Dadurch entstanden duale Arbeitsmärkte, die primär zur Substitution permanenter durch Zeitverträge führten und auf Beschäftigung, Produktivität und Ausbildung eher negativ wirkten. Statt als Sprungbrett für den Einstieg in den Arbeitsmarkt zu wirken, diskriminieren sie Jugendliche massiv.“
Dass das „Flexicurity“-Konzept im Entwurf der europäischen Säule sozialer Rechte zum Ausdruck kommt, entspricht ganz den Vorstellungen des europäischen Unternehmensverbands BusinessEurope, der im September 2015 forderte, das Konzept solle im Zentrum der EU-Beschäftigungs- und Sozialagenda stehen.
In welchen Rahmen ist die europäische Säule sozialer Rechte eingebettet?
Die europäische Säule sozialer Rechte wird von der Kommission in Form von Grundsätzen präsentiert, die laut den Erläuterungen „für eine vertiefte und fairere Wirtschafts- und Währungsunion wichtig sind.“ Sie soll ein Leistungsscreening der Teilnahmestaaten im Bereich Beschäftigung und Soziales ermöglichen und zunächst nur innerhalb des Euro-Raumes gelten, wobei auch andere Mitgliedstaaten sich anschließen können.
Die Initiative der Europäischen Kommission kann nicht losgelöst von der allgemeinen wirtschaftspolitischen Ausrichtung der EU-Politik betrachtet werden. Die Krisenpolitik der EU verschärfte die bereits zuvor bestehende Orientierung an strengen Budgetregeln zusätzlich, wodurch die Spielräume der Mitgliedstaaten für zukunftsorientierte öffentliche Investitionen stark eingeengt wurden. Darüber hinaus wird im Rahmen des Europäischen Semesters – des jährlichen wirtschaftspolitischen Koordinierungsprozesses der EU – Druck in Richtung angebotsseitiger „Strukturreformen“ auf der Basis einer einseitigen Orientierung an Wettbewerbsfähigkeit ausgeübt. So zielen mehrere der sogenannten länderspezifischen Empfehlungen auf Deregulierungen beim Kündigungsschutz, Lohnzurückhaltung und eine Dezentralisierung von Kollektivvertragssystemen ab (siehe infobrief eu & international 3/2016, 4-8).
Wenn die europäische Säule sozialer Rechte kein grundlegendes Abrücken von der bisher vorherrschenden neoliberalen Integrationsweise einleiten kann, ist es angesichts der bestehenden sozialen Krise mehr als fraglich, ob die Initiative zu einer tatsächlichen Stärkung sozialer Rechte beitragen kann.
Kurswechsel in Richtung eines sozialen Europas gefordert!
Die öffentliche Konsultation zur europäischen Säule sozialer Rechte bietet eine Gelegenheit für eine Debatte darüber, wie ein soziales Europa gelingen kann. Aus Sicht von ArbeitnehmerInnen gilt es klarzumachen, dass die Auflistung einiger sozialpolitischer Zielsetzungen zur kosmetischen Ergänzung der neoliberalen Integrationsweise nicht ausreichen wird.
Eine Agenda, wo ein auf Wettbewerbsfähigkeit ausgerichtetes Verständnis funktionierender Arbeitsmärkte im Mittelpunkt steht, anstelle des Schutzes der ArbeitnehmerInnen und der sozialen Sicherheit, wird die gegenwärtigen Probleme in der EU verschärfen, anstatt sie zu lösen.
Eine bedeutungsvolle Säule sozialer Rechte muss ein neues „soziales Aktionsprogramm“ umsetzen, zu dem etwa eine Ausweitung europäischer sozialer Mindeststandards auf einem durchgehend hohen Schutzniveau zählt. Dazu könnten z.B. verbindliche Mindeststandards für die nationalen Arbeitslosenversicherungssysteme gehören. Im EU-Primärrecht sollte ein „soziales Fortschrittsprotokoll“ verankert werden, damit sozialen Grundrechten im Zweifel Vorrang gegenüber den Marktfreiheiten zukommt. Darüber hinaus ist eine europaweite koordinierte Ausweitung der öffentlichen Investitionen – insbesondere in die soziale und ökologische Infrastruktur – notwendig (u.a. unterstützt durch die Umsetzung einer „goldenen Investitionsregel“) und die Rolle der Löhne als bestimmender Faktor der Binnennachfrage in der EU anzuerkennen. Um zu sozialer Gerechtigkeit in der EU beizutragen, sind zudem Maßnahmen zur Umverteilung zwischen Arbeit und Kapital notwendig, die von einer Finanztransaktionssteuer und einer effektiven Regulierung der Finanzmärkte sowie einer europaweiten Mindestbesteuerung von Unternehmensgewinnen, Kapitaleinkünften und Vermögen bis hin zu einer deutlichen Aufstockung des Europäischen Sozialfonds reichen müssen.
Auch vor dem Hintergrund des Brexit-Votums muss jetzt klar sein: Will die EU das Vertrauen der europäischen BürgerInnen zurückgewinnen, muss rasch ein grundlegender Kurswechsel zu einem sozialen Europa eingeleitet werden.
Mehr zum Thema im Infobrief EU & International 2/2016: Ein soziales Europa erfordert einen grundlegenden Kurswechsel, S21-26.
Über Nikolai Soukup
Referent in der Abteilung EU & Internationales der AK Wien