Bei dem Referendum am 23. Juni 2016 entschied sich eine Knappe Mehrheit der Bürger und Bürgerinnen Großbritanniens für den Austritt aus der EU. Diese Entscheidung markiert einen Höhepunkt erstarkender rechts-nationalistischer Bewegungen in Europa und stellt nicht nur die politischen EntscheidungsträgerInnen der Europäischen Union vor eine große Herausforderung. Auch die europäische und internationale ArbeiterInnenbewegung muss sich in diesen politischen Turbulenzen orientieren. Dabei stellen sich die wesentlichen Fragen: Wie ist diese Entwicklung aus Sicht der europäischen und internationalen ArbeiterInnenbewegung zu verstehen? Was sind die potentiellen Folgen eines Brexit und wie kann darauf reagiert werden?
Wie weiter nach dem Brexit?
Auch wenn die EU für die Gewerkschaftsbewegung in Großbritannien bei Weitem nicht nur gutes bedeutete, war das Ergebnis des Referendums aus der Sicht der britischen Gewerkschaftsbewegung eine Katastrophe! Mit der Ausnahme von zwei sehr kleinen Organisationen haben sich alle britischen Gewerkschaften sowie die verbündete Labour Party für einen Verbleib in der EU stark gemacht. Nun stellt das unerwünschte Ergebnis des Referendums die Gewerkschaften vor neue Herausforderungen. Die Frage nach den Auswirkungen des Brexit und nach möglichen Strategien haben dabei an Bedeutung gewonnen. Wie das in solchen Situationen eben oft passiert, stellen sich dabei jedoch ebenso viele neue Fragen wie Antworten.
Zwar herrscht bereits ein breiter Konsens über die Ursachen der Wahlentscheidung: 30 Jahre neoliberale Politik, eine Zunahme prekärer Arbeitsverhältnisse, Deindustrialisierung, jahrelange brutale Sparpolitik, eine sehr rechts und nationalistisch dominierte Presse und dergleichen. Dennoch brauchte es einige Zeit, sich darüber klar zu werden und darauf zu einigen, wie am besten auf die neue Situation zu reagieren ist. Nach intensiven Auseinandersetzungen konnte sich die Gewerkschaftsbewegung letztendlich über die Prioritäten der nächsten Zeit verständigen und einen Konsens erzielen.
Was tun? Die Forderungen der Gewerkschaften
An erster Stelle steht der Schutz von Arbeitsplätzen, die wegen des potentiellen Ausstiegs aus dem Binnenmarkt und der Zollunion gefährdet sind. Bereits jetzt lassen sich die ersten negativen Auswirkungen beobachten. In den produzierenden Branchen, beispielsweise im Auto- und Flugzeugbau und in der Metallindustrie, halten Unternehmen ihre Investitionen zurück, da keine Klarheit über den zukünftigen Binnenmarktzugang herrscht. Ebenso zeichnen sich Arbeitsplatzverluste im Banken- und Finanzsektor in der „City of London“ ab. Die ersten Finanzinstitutionen geben bereits ihre Pläne bekannt, bestimmte Operationen in andere EU-Länder zu verlagern. Als Grund wird die Angst vor dem Verlust der sogenannten „Passporting Rights“ genannt, der Möglichkeit trotz Standort in Großbritannien überall in der EU Finanzdienstleistungen anzubieten. Allein bei diesen Beispielen ist auf Grund des Brexit mit einem Verlust von hunderttausenden Arbeitsplätzen zu rechnen. Deswegen ist der Fortbestand des zollfreien Zugangs zum europäischen Binnenmarkt auch eine der Hauptforderungen der britischen Gewerkschaftsbewegung.
Zweitens wird der Fortbestand der ArbeitnehmerInnenrechte, die auf Grund europäischer Richtlinien bestehen, gefordert. Hierzu zählen zum Beispiel die Arbeitszeitregelungen, Elternurlaube, der Schutz für Teilzeit-, befristete und LeiharbeiterInnen, das Informations- und Mitspracherecht in den Unternehmen, die Gleichstellungsmaßnahmen, die europäischen Betriebsratgesetze und eine ganze Palette weiterer fortschrittlicher europäischer Gesetze. Zwar äußerte sich die britische Premierministerin Theresa May, dass alle existierende ArbeitnehmerInnenrechte in Kraft bleiben würden. Dem kann auf Grund historischer Erfahrungen mit den britischen Konservativen (den Tories) in Bezug auf ArbeitnehmerInnen- und Gewerkschaftsrechten jedoch nicht getraut werden. Vor allem wenn berücksichtigt wird, dass wegen der tief verwurzelten und grundsätzlichen ideologischen Position der Konservativen Angriffe gegen ArbeitnehmerInnenrechte im Namen der „Befreiung und Entfesselung von Marktkräften“ ihre Regierungsprogramme der letzten Jahrzehnte geprägt haben. Deshalb ist es wesentlich, dass die EU-Gewerkschaften, sowie alle anderen politischen Verbündeten in Europa UK-EU Freihandelsabkommen ablehnen, wenn der Erhalt der Europäischen Arbeitnehmer-, Sozial- und Umweltschutznormen nicht in den Verträgen garantiert ist. Die Abschaffung von ArbeitnehmerInnenrechte muss auf jedem Fall verhindert werden. Dabei geht es nicht nur darum, die Rechte der britischen ArbeitnehmerInnen zu schützen, sondern auch zu verhindern, dass vor der Küste der EU ein völlig dereguliertes Niedrigstandardland im Stil von Singapur entsteht.
Drittens fordern die britischen Gewerkschaften für die Zivilgesellschaft, einschließlich der Gewerkschaftsbewegung und einschließlich der verschiedenen Nationen und Regionen von Großbritannien, einen Platz und Mitspracherecht am Verhandlungstisch. Wegen der komplizierten Situationen in Nordirland und Schottland ist es unumgänglich, beide Regionen in die Verhandlungen einzubeziehen – vor allem, wenn zur Kenntnis genommen wird, dass beide Regionen deutlich für einen Verbleib in der EU gestimmt haben.
Viertens fordern die britischen Gewerkschaften, dass der Fortbestand aller Rechte von EU-StaatsbürgerInnen, die zurzeit in Großbritannien leben, und alle Rechte der britischen StaatsbürgerInnen, die zurzeit in anderen EU Staaten leben, garantiert wird. Es ist absolut inakzeptabel, dass die Rechte von Menschen und Familien zu Einsätzen im Verhandlungspoker gemacht werden. Deshalb muss die Situation dieser Menschen zu allererst geregelt werden.
Auch wenn die genannten Aspekte und Forderungen bei Weitem nicht erschöpfend sind, so handelt es sich dabei gegenwärtig um die Schwerpunkte, auf die sich die Gewerkschaften in Großbritannien einigen konnten. Dabei stehen die Gewerkschaften nach wie vor für transnationale Kooperationen und suchen die breitestmögliche solidarische Unterstützung von den Partnerorganisationen in Europa.