Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) erklärt in seiner jüngst fast einstimmig verabschiedeten Stellungnahme die bisherige Sparpolitik in Europa für gescheitert und drängt auf einen radikalen wirtschaftspolitischen Kurswechsel. Dies ist umso bemerkenswerter, als im EWSA drittelparitätisch die Interessenverbände von ArbeitgeberInnen, ArbeitnehmerInnen und von sonstigen Interessengruppen vertreten sind. Zusammen mit den beschäftigungspolitischen Empfehlungen des EWSA zeigt sich hier einmal mehr das Potential einer stärkeren Mitsprachemöglichkeit der organisierten Zivilgesellschaft für die europäische Integration.
Unisono – also auch mit den Stimmen fast aller ArbeitgeberInnen –hält der EWSA[1] fest, dass es mit der bisherigen Ausrichtung der Wirtschaftspolitik, welche konsequent die Bedeutung von Nachfrage und Verteilungsgerechtigkeit vernachlässigt, nicht gelungen ist, die großen anstehenden Herausforderungen wie insbesondere eine Verbesserung der Arbeitsmarktlage zu bewältigen. Anstatt aus der Krise herauszuwachsen hat die Austeritätspolitik Arbeitslosigkeit sowie Staatsverschuldung weiter verschlimmert und die europäische Wirtschaft erneut in eine Rezession getrieben.
Während maßgebliche Kräfte in der Europäischen Union weiterhin an diesem gescheiterten Weg festhalten bzw. ihn mit neuen Maßnahmen sogar weiter verschärfen wollen, fordert der EWSA ein neues Wachstumsmodell für Europa, welches gekennzeichnet sein soll durch den Kampf gegen die unakzeptable Arbeitslosigkeit und, einen ausreichenden Spielraum für Zukunftsinvestitionen bzw. für soziale und ökologische Investitionen. Zudem müssten die Sozialsysteme zur Erhöhung der Produktivkraft und zur Stabilisierung von Nachfrage und Vertrauen gestärkt werden. Hierfür bedarf es nicht nur die von Rat und Kommission vorgesehenen haushaltspolitische Umschichtungen, sondern auch und Sicherstellung einer ausreichenden Einnahmenbasis unter Berücksichtigung der Verteilungsgerechtigkeit.
Realwirtschaftliche Erneuerung
Erst mit einem solchen Wachstumsmodell wird auch die nachhaltige Konsolidierung der öffentlichen Finanzen ermöglicht. Der EWSA verdeutlicht damit, dass ein niedriges Haushaltsdefizit das Ergebnis einer günstigen gesamtwirtschaftlichen Entwicklung ist und nicht deren Voraussetzung.
Grundvoraussetzungen für den Erfolg nationaler Wirtschaftspolitiken sind demnach eine straffere Regulierung des Finanzsektors unter Einbeziehung des Schattenbanksystems sowie Maßnahmen zur Reduktion der Finanzierungskosten verschuldeter Staaten, welche durch Spekulation und Abhängigkeit von Ratingagenturen künstlich hochgehalten werden. Der EWSA fordert eine „realwirtschaftliche Erneuerung“ in Europa, durch welche unternehmerisches Handeln wieder den Vorrang gegenüber spekulativen Motiven erhält.
Haushaltskonsolidierung ja, aber wachstumsfreundlich
Der EWSA stellt in seiner Stellungnahme auch klar, dass mangelnde Haushaltsdisziplin in der Eurozone nicht generell die Krisenursache war. Denn der Anstieg von Defiziten bzw. Schuldenständen ergab sich erst ab 2008 durch den massiven Einsatz von öffentlichen Mitteln zur Rettung des Finanzsystems sowie zur Stützung von Nachfrage und Arbeitsmarkt, die infolge der Finanzkrise eingebrochen waren. Der Ausschuss sieht sehr wohl die Notwendigkeit von nach Ländern differenzierten Schritten zur Sicherung der Nachhaltigkeit der Staatsfinanzen, allerdings unter Einhaltung folgender Prinzipien:
- Der Zeitrahmen ist zu strecken und flexibler zu gestalten.
- Schuldenabbauprogramme müssen die Nachfrageeffekte berücksichtigen sowie auf die sozial- und beschäftigungspolitischen Ziele der EU-2020-Strategie abgestimmt sein.
- Sie müssen die Staatseinnahmenseite stärker berücksichtigen. Die Steuersysteme sollten generell überdacht werden, wobei Fragen der Verteilungsgerechtigkeit zwischen unterschiedlichen Arten von Einkommen und Vermögen zu berücksichtigen sind.
- Auf der Einnahmenseite besteht eine Reihe von Handlungsansätzen, z.B. Schließung von Steueroasen, entschlossener Kampf gegen Steuerhinterziehung, Besteuerung großer Vermögen, von Immobilien und von Erbschaft, Besteuerung von Banken, Harmonisierung von Steuerbemessungsgrundlagen und -systemen zur Beseitigung von Wettbewerbsverzerrungen in der EU, anstatt wie bisher über einen Senkungswettlauf die Erosion der öffentlichen Einnahmen voranzutreiben.
- Eine intelligente Umschichtung von Konsolidierungsmaßnahmen mit stärkerer Beteiligung der Wohlhabenderen kann Mittel für Zukunftsinvestitionen frei machen, ohne das Defizit zu erhöhen.
Produktivitätsspielraum ausschöpfen statt Kostensenkungswettlauf
Der Ausschuss warnt nachdrücklich vor einer Überbewertung der Rolle der preislichen Wettbewerbsfähigkeit und damit auch der Lohnkosten beim Abbau außenwirtschaftlicher Ungleichgewichte. Das “deutsche Modell” (Lohnzurückhaltung zur Förderung der Exporte) als Rezept gleichzeitig für alle Länder kann beim hohen Anteil des Binnenhandels in der Eurozone nur zu einer fatalen Abwärtsspirale führen. Vielmehr müssen die Überschussländer ihre Binnennachfrage stärken und damit „Importdefizite“ abbauen. Zudem wird oft übersehen, dass Lohnkosten nur einen von vielen Kostenfaktoren darstellen, und dass neben anderen Kostenfaktoren (wie etwa den Gewinnkosten) auch nicht-preisliche Faktoren für die Wettbewerbsfähigkeit von großer Bedeutung sind – sonst könnte Deutschland schließlich nicht weiterhin Exportweltmeister sein.
Der EWSA richtet sich in seiner Stellungnahme indirekt auch gegen die europäische Krisenpolitik vor allem in den sogennanten Programmländern, wenn er weiters eine produktivitätsorientierte Lohnpolitik und die Wahrung der Tarifautonomie der Sozialpartner einmahnt. Staatliche Zielvorgaben oder gar Eingriffe wie staatlich verordnete Lohnkürzungen werden als völlig unakzeptabel striktest abgelehnt.
Der EWSA fordert auch eine Sicherung und den Ausbau der sozialen Sicherungssysteme sowie des sozialen Dialoges auf nationaler wie auch auf europäischer Ebene. Diese haben in der Krise Nachfrage und Vertrauen gestützt und damit ein Abgleiten in die Depression wie in den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts verhindert. Hier sollten die europäischen EntscheidungsträgerInnen die richtigen Lehren aus der Krise ziehen: Nicht die Einschränkung der zivilgesellschaftlichen Einbindung kann die Lage stabilisieren, sondern nur eine möglichst frühe und umfassendere Einbindung der Sozialpartner in die Politikformulierung. Die Krisenpolitik kann nur dann das Vertrauen stärken und zum Erfolg führen, wenn sie als legitim anerkannt und von wichtigen Teilen der Bevölkerung mitgetragen wird.
[1] Im Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) in Brüssel sind die großen wirtschaftlichen und sozialen Gruppen der Mitgliedstaaten der EU vertreten. Er fungiert als Sprachrohr der organisierten Zivilgesellschaft, also der Sozialpartner und der sonstigen repräsentativen Interessenverbände, im europäischen Beschlussfassungsprozess. Von den 344 Mitgliedern aus allen 27 Mitgliedstaaten stammen 12 aus Österreich.
Die Stellungnahmen des EWSA haben umso mehr Gewicht, je größer die Mehrheit ist, mit der sie verabschiedet werden. Die hier präsentierte Stellungnahme zur Neuorientierung der Wirtschaftspolitik, die ich als Berichterstatter vorbereitet habe, wurde mit überwältigender Mehrheit (mit nur 3 Gegenstimmen und 9 Enthaltungen) angenommen.