BREXIT: Cameron mit hohem Einsatz

25. November 2015

Mit seiner Mitte November veröffentlichten Wunschliste an die EU will der britische Premierminister David Cameron die Europäische Union noch weiter in die rechtskonservative Ecke treiben. Cameron spekuliert nicht nur mit einem BREXIT, also dem Austritt Großbritanniens aus der EU, sondern setzt damit auch den Zerfall des Vereinigten Königreichs aufs Spiel. Was für eine Volte der Geschichte, wenn es am Ende ausgerechnet ein erklärter Republikaner wieder zusammenhält!

 

Obwohl das Vereinigte Königreich schon jetzt die meisten Privilegien unter den EU-Mitgliedern genießt (erheblicher Rabatt beim EU-Budget, Aufrechterhaltung von Grenzkontrollen, Nichtteilnahme bei der Flüchtlingspolitik, Nichtteilnahme am Euro und den betreffenden Stabilisierungsmechanismen, …) macht seine Regierung weiter unverdrossen Druck gegenüber den EU-PartnerInnen. All dies passiert just in einer Zeit, in der die zentralen europäischen AkteurInnen angesichts der multiplen Krisenerscheinungen des europäischen Projekts mit allen Mühen gegen dessen Erosionstendenzen ankämpfen. Der britische Premier trat vor den Vorhang, um jene Punkte, die Europa wohl am wenigsten zur Bewältigung seiner Herausforderungen brauchen kann, nun zu Bedingungen für einen Weiterverbleib Großbritanniens in der EU zu erheben. Diese dürften aus aus mehreren Gründen unerfüllbar sein:

Hier wären zunächst die Forderungen nach einer privilegierten Einbindung in Entscheidungen der Eurozone zu nennen, bei denen es – unter Vorhalt des Binnenmarktinteresses – einzig und alleine um eine Absicherung des Londoner Finanzplatzes in einer sich stärker integrierenden Wirtschafts- und Währungsunion geht. Schon bei der Finanztransaktionssteuer gelang es der britischen Regierung mit Erfolg, dieses wichtige proeuropäische Hoffnungsprojekt mit allen möglichen politischen und juristischen Mätzchen von Anbeginn zu hintertreiben. Soll allein diese Erfahrung die Bereitschaft der anderen erhöhen, der Londoner City künftig noch umfassendere Möglichkeiten für Störmanöver einzuräumen?

Wie sehr die britische Regierung mit ihren Forderungen aber neben all dem steht, was aus einer fortschrittlichen Sicht so dringend von der EU einzumahnen ist, zeigen jene Bedingungen, die auf eine weitere Verfestigung der verfehlten konservativ liberalen Wirtschaftspolitik abzielen: sei es in Gestalt des Postulats nach mehr Wettbewerbsfähigkeit und Regulierungsabbau, der Pro-TTIP-Propaganda oder der massiven Senkung von Sozialleistungen beim Zuzug von ArbeitnehmerInnen nach Großbritannien (während die britische Regierung in Großbritannien selbst gerade an der weiteren Demontage von Gewerkschaftsrechten arbeitet).

Wenig Freude in den anderen EU-Mitgliedsstaaten

Mit den Bedingungen der britischen Regierung dürften sich tatsächlich nur wenige in den Hauptstädten der Union anfreunden können. Mit Ausnahme der grundsätzlich anglophilen Mitgliedsländer mit gegenwärtig ähnlicher wirtschaftspolitischer Ausrichtung müssten alle anderen einen hohen politischen Preis bezahlen: seien es die osteuropäischen Mitgliedstaaten (eigentlich dem marktradikalen Kurs des Vereinigten Königreichs nahe stehend) durch die klar diskriminierende Beschneidung der sozialen Rechte ihrer BürgerInnen oder die konservativen ProeuropäerInnen wegen des Infragestellens des Integrationsziels der „ever closer union“.

Und SozialdemokratInnen sowie alle links davon befindlichen Kräfte müssten beim Grundtenor Camerons schon mehrfach „no“ brüllen wie einst Margaret Thatcher zu Jacques Delors. Jedenfalls wären schon im Zuge der Verhandlungen um weitere UK-Privilegien mit doppelter Verve progressive Vertragsänderungen einzubringen, mit denen zentrale Mängel des Binnenmarktes (z.B. Sozial- und Steuerdumping) oder der Wirtschafts- und Währungsunion (z.B. strukturelle Investitionsfeindlichkeit) behoben werden sollten (wogegen sich UK aber wieder sträuben dürfte).

Sosehr ein BREXIT zu bedauern wäre, bei gebotener nüchterner Betrachtung wäre der wirtschaftliche Schaden für die EU mit einem Zugewinn an politischen Handlungsspielräumen bei fortschrittlichen europäischen Projekten verknüpft (man denke nur an die EU-Sozialpolitik, die nicht zuletzt von Großbritannien stillgelegt worden ist). Ja selbst ein Nachgeben gegenüber UK würde uns doch nicht die geringste Garantie dafür liefern, dass die schmerzhafte Debatte mit und innerhalb Großbritanniens über Sinn und Unsinn der EU damit ein Ende fände. Den EU-kritischen Hinterbänklern der Tories, die Cameron mit seinem Manöver einfangen möchte (ganz zu schweigen von den UKIP-AnhängerInnen), wären die paar Punkte wohl kaum genug, um von ihrer EU-Skepsis Abstand zu nehmen.

Ganz abgesehen davon gingen sich entsprechende Änderungen der Rechtsgrundlagen (insbesondere der EU-Verträge) nie und nimmer bis zum angekündigten Referendum im Jahre 2017 aus. Camerons Deal würde also in seiner rechtlichen Qualität aus nicht viel mehr als unverbindlichen Absichtserklärungen bestehen und allein aus diesem Grund für Häme und schlechte Voraussetzungen beim Referendum sorgen.

Cameron setzt mit BREXIT Großbritannien aufs Spiel

Hat sich David Cameron tatsächlich im Vorfeld vergewissert, dass er von den anderen 27 Mitgliedstaaten für derart tollkühne Forderungen unterstützt wird? Hat er mit den richtigen Leuten gesprochen? Und was, wenn nicht? Kann er den anderen Mitgliedstaaten dann ernsthaft die Schuld daran zuschieben, wenn ein „Out“-Votum der britischen Bevölkerung für ein BREXIT wahrscheinlicher wurde, nachdem die Liste der Extrawünsche nur zurückgewiesen werden konnte?

Wie würde im Falle eines artikulierten Ausstiegswunsches der britischen Bevölkerung die schottische Unabhängigkeitsbewegung reagieren? Sie könnte sogar deshalb für einen Austritt Großbritanniens werben, weil sie nur unter dieser Bedingung als souveräner Staat eines Tages Teil der EU werden könnte.

Wie auch immer man es dreht und wendet: ein BREXIT wäre für die EU sicher ein weiterer unangenehmer Rückschlag, für das Vereinigte Königreich wäre ein negativer Ausgang des Referendums möglicherweise existenzbedrohend. Die Unprofessionalität der britischen Regierung in dieser Auseinandersetzung irritiert und verheißt nichts Gutes. Sie könnte bald in einem immer aggressiveren Ton aus Downing Street 10 Ausdruck finden.

Möglich, dass ausgerechnet dann Jeremy Corbyns große Stunde kommt, indem er gemeinsam mit den britischen Gewerkschaften mit Erfolg für einen Weiterverbleib Großbritanniens in der EU mobilisiert – wenngleich unter der Bedingung, dass Camerons Träume von einem noch marktradikaleren Europa auf taube Ohren gestoßen sind. Das lehrt uns auch den tieferen Sinn, weshalb ein erklärter Republikaner als “Leader of Her Majesty’s Most Loyal Opposition“ fungieren kann.