Eine „soziale Säule“ mit vielen Fragezeichen: Warum in Widersprüchen eingebettete Symbolpolitik für einen Kurswechsel in der EU nicht ausreicht

08. Mai 2017

Mit langer Vorlaufzeit, großen Ankündigungen und einer öffentlichen Konsultation wurde einiges an Spannung aufgebaut: Die sogenannte „europäische Säule sozialer Rechte“ sollte das Prestigeprojekt der EU-Kommission unter Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker zur Stärkung der sozialen Dimension der EU darstellen. Nun wurde der Vorhang gelüftet und das Ergebnis fällt bescheiden aus: Im Mittelpunkt steht eine Liste unverbindlicher Grundsätze. Ein tatsächlicher Kurswechsel zu einem sozialen Europa wird damit nicht eingeleitet. Umso dringender bleibt es daher, für eine echte Neuausrichtung der EU zu kämpfen, die auf sozialen Fortschritt abzielt.

Viele Ankündigungen und eine Konsultation

Erstmals angekündigt wurde die Initiative einer europäischen Säule sozialer Rechte in Junckers Rede zur Lage der Union im September 2015. Im März 2016 stellte die Kommission einen ersten vorläufigen Entwurf der geplanten „Säule“ vor, der eine Auflistung zumeist sehr allgemein formulierter Prinzipien in zwanzig Politikfeldern beinhaltete. Die bis Ende 2016 angesetzte öffentliche Konsultation sollte diesen Entwurf zur Diskussion stellen und darüber hinaus Fragen zur Zukunft der Arbeitswelt und der Angemessenheit des bestehenden EU-Sozialrechts behandeln. Von den über 16.500 TeilnehmerInnen an der öffentlichen Konsultation beteiligten sich rund 15.500 über die Online-Kampagne „Social Rights First!“ von Europäischem Gewerkschaftsbund (EGB), ÖGB und AK und setzten damit ein deutliches Zeichen für ein soziales Europa (siehe dazu auch den Bericht zur Konsultation der EU-Kommission).

Der Vorhang ist gefallen: Was verbirgt sich hinter der „Säule sozialer Rechte“?

Am 26. April stellte die Kommission schließlich die „europäische Säule sozialer Rechte“ vor. Wie auch beim Entwurf des Vorjahrs handelt es sich dabei um eine Liste in der Regel sehr allgemein formulierter Prinzipien. Die zwanzig erfassten Politikfelder reichen etwa von Geschlechtergleichstellung über Löhne und sozialen Dialog sowie Einbeziehung der ArbeitnehmerInnen bis hin zu Arbeitslosenleistungen und Alterseinkommen und Pensionen. Sie soll in erster Linie für die Eurozone gelten, wobei andere EU-Mitgliedstaaten sich der Initiative auch anschließen können. Die „soziale Säule“ wurde in zwei Formen vorgelegt: zum einen als Empfehlung der Kommission und zum anderen als Vorschlag für eine gemeinsame Proklamation von Kommission, Rat und EU-Parlament. Wenn letztere beschlossen worden ist, soll laut Kommission auch ihre Empfehlung gegebenenfalls entsprechend abgeändert werden.

Begleitet wurde die Initiative von einer Reihe weiterer Dokumente: Ein Reflexionspapier widmet sich der Zukunft der sozialen Dimension Europas. Auch ein sozialpolitisches „Scoreboard“ mit Indikatoren wurde vorgelegt, mit dem der Fortschritt in Richtung eines sogenannten „sozialen AAA-Ratings“ gemessen werden soll. Zudem wurden einzelne Initiativen vorgelegt, die erste Schritte zur Umsetzung der „Säule“ darstellen sollen. In diesem Zusammenhang sind kommende Konsultationen der europäischen Sozialpartner zum Zugang zu Sozialschutz für alle Formen von Erwerbstätigkeit sowie zur „Dienstzettel-Richtlinie“ zu nennen. Neben Berichten im Zusammenhang mit bisherigen Kommissions-Empfehlungen zu Investitionen in Kinder und aktive Eingliederung legte die Kommission darüber hinaus einen Vorschlag für eine Richtlinie zur besseren Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben von berufstätigen Eltern und pflegenden Angehörigen sowie eine interpretative Mitteilung zur Arbeitszeit-Richtlinie vor. Während eine Bewertung dieser Initiativen in diesem Artikel ausbleibt, ist es jedenfalls besorgniserregend, dass letztgenannte Mitteilung überhaupt vorgelegt wurde: In einem Brief an EU-Sozialkommissarin Thyssen  brachten AK und ÖGB ihre Bedenken gegenüber dem Vorhaben der Kommission zum Ausdruck, Inhalte der Arbeitszeit-Richtlinie zu interpretieren – eine Tätigkeit, die eigentlich dem Europäischen Gerichtshof vorbehalten ist –, und insbesondere die damit verbundene Gefahr einseitiger Auslegungen.

Unverbindliche Grundsätze mit unterschiedlichen Stoßrichtungen?

Kann die präsentierte „europäische Säule sozialer Rechte“ zu einer substanziellen Stärkung der sozialen Dimension beitragen? Es ist erstmal zu begrüßen, dass eine Diskussion über die soziale Dimension der Europäischen Union stattfindet. Doch der dringend erforderliche grundlegende Kurswechsel in Richtung eines sozialen Europas ist nicht zu erkennen.

Erstens: Der Begriff einer „europäischen Säule sozialer Rechte“ ist irreführend. „In der Säule wird eine Reihe von Rechten bestätigt, die bereits im EU- und im internationalen rechtlichen Besitzstand vorgesehen sind. […] Gleichzeitig ergänzt die Säule bestehende Grundsätze und Rechte mit dem Ziel, neuen Gegebenheiten Rechnung zu tragen“, hält die Kommission fest. Allerdings: Weder durch die Kommissions-Empfehlung noch durch die angestrebte Proklamation der drei EU-Institutionen würden tatsächlich neue rechtsverbindliche und durchsetzbare soziale Rechte geschaffen werden. Dort, wo die Säule auf bestehende auf EU- oder völkerrechtlicher Ebene verankerte Rechte zurückgreift, wiederholt sie diese lediglich. Dort, wo sie darüber hinausgeht, handelt es sich um rechtlich unverbindliche Prinzipien. Insgesamt sollen die Inhalte der Säule durch die europäischen Institutionen unterstützt werden, zu einem großen Teil handelt es sich jedoch um Aufforderungen an die Mitgliedstaaten und mitgliedstaatlichen AkteurInnen, diese Leitsätze einzuhalten (zur Kritik an dem fehlenden rechtebasierten Ansatz des Erstentwurfs der Säule siehe etwa hier).

Zweitens: Die Prinzipien sind in vielen Fällen sehr allgemein und vage formuliert und lassen weiten Interpretationsspielraum offen. Welche Interpretation sich dahingehend durchsetzt, in welchem Ausmaß sie bereits verwirklicht sind bzw wie sie zu erreichen wären, wird stark von den politischen Kräfteverhältnissen abhängen.

Drittens: Zahlreiche der in der Säule enthaltenen Prinzipien enthalten wesentliche Elemente, die für Maßnahmen zu sozialer Sicherheit und Gerechtigkeit handlungsanleitend sein müss(t)en. In der Form unverbindlicher Grundsätze alleine werden sie die notwendigen Veränderungen hin zu sozialem Fortschritt aber wohl kaum bewirken. Auch ist es prinzipiell zu begrüßen, dass die Kommission ein sozialpolitisches „Scoreboard“ vorgelegt hat. Doch zusätzlich zu einem Set von (teils zu verbessernden) Indikatoren braucht es auch konkrete, messbare Zielsetzungen, die angeben, welche Ergebnisse jedenfalls erreicht werden sollen, sowie konkrete darauf ausgerichtete politische Maßnahmen, die die Voraussetzung dafür schaffen, diese Ziele zu erreichen.

Viertens: Einige Prinzipien, die womöglich auf den ersten Blick unverdächtig klingen, könnten jedoch von politischen AkteurInnen herangezogen werden, um Einschränkungen des Ausmaßes von sozialen Rechten festzuzurren oder voranzutreiben. Dies hat vor allem damit zu tun, dass Konflikte über die inhaltliche Ausrichtung der Sozial- und Beschäftigungspolitik mit der „sozialen Säule“ keineswegs aufgelöst werden. Auf EU-Ebene, aber auch in den meisten Mitgliedstaaten ist in den vergangenen Jahrzehnten ein angebotsorientiertes Paradigma der Beschäftigungspolitik dominant geworden, das stark auf eine Deregulierung vermeintlich „rigider“ Arbeitsmärkte und eine damit einhergehende arbeitgeberorientierte Flexibilität setzt. Auch sozialpolitische Debatten werden stark von diesem Paradigma durchzogen sowie von einer Ausrichtung, die soziale Schutzsysteme durch vermeintliche „Sachzwänge“ starkem Kürzungsdruck aussetzt. Dass die soziale Säule ein Abrücken von einem neoliberalen Verständnis von Beschäftigungs- und Sozialpolitik einleitet, ist nicht erkennbar. Manche Prinzipien könnten vielmehr als Legitimationsgrundlage dienen, diese Ausrichtungen weiterhin handlungsleitend zu machen. So wird in der vorgelegten „sozialen Säule“ (Zitate in diesem und dem Folgesatz sind eigene Übersetzungen) auch die Gewährleistung der „notwendigen Flexibilität für Arbeitgeber, rasch auf Veränderungen im ökonomischen Kontext zu reagieren“, verankert. Und die Festlegungen, dass Mindestlöhne „Zugang zu Beschäftigung“ gewährleisten und Arbeitslosenleistungen keine „negativen Anreize für eine schnelle Rückkehr in Beschäftigung“ aufweisen sollen, lassen Zweifel angebracht erscheinen, ob die Stärkung sozialer Rechte durchgehend im Vordergrund steht. (Zur Kritik an dem in der Praxis zumeist einseitig angewandten „Flexicurity“-Konzept als für die soziale Säule maßgebliches Leitbild siehe hier). Und während die Koppelung des gesetzlichen Pensionsalters an die Lebenserwartung zwar aus der „Säule sozialer Rechte“ – entgegen dem Erstentwurf – wieder herausgefallen ist, taucht diese Ausrichtung im Szenario einer verstärkten sozialen Dimension der EU im Reflexionspapier der Kommission wieder auf.

Fünftens: Die Analyse der EU-Kommission blendet aus, dass die europäische Integration seit den letzten Jahrzehnten stark von einer neoliberalen Ausrichtung vorangetrieben wurde, die die Realisierung eines sozialen Europas versperrt. Ohne diese Analyse bleiben auch die darauf aufbauenden politischen Initiativen und Zukunftsvisionen beschränkt. Eine soziale Ausrichtung der europäischen Integration muss einen umfassenden Kurswechsel verfolgen, der auch eine Neuausrichtung der europäischen Wirtschaftspolitik erfordert.

Sowohl im Reflexionspapier zur Zukunft der sozialen Dimension Europas als auch in der Mitteilung zur sozialen Säule wird ausgeblendet, dass die europäische Integration seit den vergangenen Jahrzehnten von einer neoliberalen Integrationsweise dominiert ist, die sich in der zentralen Logik der Ausgestaltung der Regeln zum Binnenmarkt (und deren einseitig marktliberaler Auslegung durch den EuGH) und der Wirtschafts- und Währungsunion widerspiegeln. Während soziale Aspekte somit auf EU-Ebene marginalisiert wurden, wurden zugleich die Spielräume für sozialen Fortschritt auf mitgliedstaatlicher Ebene eingeschränkt – durch Marktfreiheiten ohne ausreichende Instrumente zum Schutz vor  grenzüberschreitendem Lohn-, Sozial- und Steuerdumping und durch Einschränkungen einer auf Nachfragestabilisierung und Zukunftsinvestitionen orientierten Budgetpolitik. Ohne eine Kursänderung stehen die Aussagen der „sozialen Säule“ zum Teil in eklatantem Widerspruch zur tatsächlichen EU-Politik, insbesondere der auf Austerität und Arbeitsmarktderegulierung fokussierten Krisenpolitik.

Das Reflexionspapier stellt allerdings keine Überlegungen an, wie diese grundlegenden Widersprüche – die im Rahmen der fehlgeleiteten europäischen Krisenpolitik verschärft wurden – durch substanzielle Änderungen behoben werden können. Vielmehr beschränkt es sich im Wesentlichen darauf, Szenarien dafür zu entwickeln, welche politische Ebene künftig für Sozial- und Beschäftigungspolitik zuständig sein soll.

Fazit

Mit der Initiative einer „europäischen Säule sozialer Rechte“ wurde eine Diskussion angestoßen. Diese sollte für eine breit geführte Debatte über die Voraussetzungen für ein soziales Europa genutzt werden. Das bedeutet, mit langem Atem darauf hinzuarbeiten, dass Spielräume für die Realisierung sozialen Fortschritts auf unterschiedlichen politischen Handlungsebenen erweitert werden, um ein neues Wohlstands- und Verteilungsmodell zu ermöglichen. Doch auf dem Weg dorthin müssen konkrete Einstiegsprojekte gesetzt werden.

Es muss daher weiter Druck gemacht werden, um konkrete auf sozialen Fortschritt abzielende Maßnahmen zu verwirklichen (siehe dazu näher das AK-Positionspapier zur „europäischen Säule sozialer Rechte“): In einem neuen sozialen Aktionsprogramm muss die Ausweitung ambitionierter und verbindlicher sozialer Mindeststandards (wie beispielsweise in Bezug auf einzelstaatliche Arbeitslosenversicherungen), die Aufstockung des Europäischen Sozialfonds und die Bekämpfung von grenzüberschreitendem Lohn- und Sozialdumping in den Mittelpunkt rücken. Darüber hinaus muss ein soziales Fortschrittsprotokoll im Rahmen der EU-Verträge verankert werden, das festlegt, dass soziale Grundrechte im Zweifel Vorrang vor Marktfreiheiten und Wettbewerbsregeln haben. Ohne eine Neuausrichtung in Richtung einer ausgewogenen wohlstandsorientierten Wirtschaftspolitik werden Schritte hin zu sozialem Fortschritt aber beschränkt bleiben. In diesem Kontext sind etwa die restriktiven Fiskalregeln zu hinterfragen und als erster Schritt dafür eine „goldene Investitionsregel“ einzuführen, um Mitgliedstaaten mehr Spielraum für zukunftsorientierte Investitionen zu verschaffen. Die Bekämpfung von Steueroasen und -hinterziehung muss stärker angegangen werden. Und nicht zuletzt muss die Orientierung an der „goldenen Lohnregel“ einer produktivitätsorientierten Lohnpolitik effektiv in den Mittelpunkt gerückt werden und der Druck auf Löhne und ArbeitnehmerInnenrechte im Rahmen eines fehlgeleiteten Verständnisses von „Wettbewerbsfähigkeit“ der Vergangenheit angehören.

Proklamationen, die sich in Widersprüchen verfangen, machen noch kein soziales Europa aus. Wichtig ist, dass jene gesellschaftlichen Kräfte, die tatsächlich an sozialem Fortschritt interessiert sind, eine  gesamtgesellschaftlichen Debatte anstoßen und Druck in Richtung konkreter Veränderungen machen, die die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Menschen in Europa verbessern.