Die wirtschaftliche Situation in Europa zeichnet sich durch den flüchtigen Charakter der Erholung aus, die mit hohen sozialen Kosten einher geht. Als Folge verschiebt sich der prognostizierte Zeitpunkt für die Rückkehr zur – ohnehin bereits hohen – Arbeitslosenquote vor der Krise auf das Jahr 2023 (Eurozone). Trotzdem hält die EU-Kommission auch im neuen Jahreswachstumsbericht weitgehend an ihren wirtschaftspolitischen Prioritäten fest. Im alternativen Bericht (kurz iAGS) argumentieren wir, dass im Sinne einer ausgewogene wohlstandsorientierte Wirtschaftspolitik aktuell die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit oberste Priorität haben muss. Ein starker Anschub öffentlicher Investitionen zusammen mit höheren Löhnen und einer Beschleunigung des ökologischen Umbaus der Wirtschaft sollte dabei im Mittelpunkt stehen.
Im November wird nicht nur der Fasching, sondern nun schon seit mehreren Jahren auch das weniger lustige sogenannte Europäische Semester eingeläutet, mit dem insbesondere die Eurozone wirtschaftspolitisch gesteuert wird. Mit diesem Prozess sollten Fehlentwicklungen wie vor der Finanz- und Wirtschaftskrise durch bessere wirtschaftspolitische Zusammenarbeit verhindert werden. Um besser steuern zu können, ist aber zunächst zu klären, wo man derzeit steht und wo die Reise hingehen soll. Diese Entscheidungen sind zwar insbesondere Sache der Finanz- und WirtschaftsministerInnen, doch liefert die EU-Kommission mit dem sogenannten Jahreswachstumsbericht – gemeinsam mit einer Reihe von Begleitdokumenten – die entscheidende Grundlage.
Fehlgeleitete Versuche europäischer wirtschaftspolitischer Koordinierung – und Alternativen
Sehr vereinfacht ergab die Kommissionsanalyse bisher zumeist, dass die Defizite zu hoch und die Wettbewerbsfähigkeit mangelhaft sei. Daraus folgerte die Kommission, dass weitere Kürzungen der öffentlichen Ausgaben und angebotsseitige Strukturreformen mit einem Fokus auf niedrigere Löhne geboten wären. Defizite und Reallöhne wurden in Folge tatsächlich gesenkt, allerdings führten sie zu „Nebenwirkungen“ schlimmer als die Krankheit: Die negative Wirkung auf die Inlandsnachfrage konnte durch die Exportzuwächse mitnichten kompensiert werde. So kam es zu einer deutlich schlechteren Entwicklung als beispielsweise in den USA, verbunden mit hoher Arbeitslosigkeit und Deflationstendenzen. Zudem wurden dadurch neue Probleme geschaffen: die Ausweitung der globalen Leistungsbilanzungleichgewichte, Schwierigkeiten beim Abbau der nominellen Schulden und die Abwälzung der Lösungsverantwortung auf die EZB.
Diese Entwicklung war jedoch weder alternativlos noch kam sie überraschend. Um die Fehlentwicklungen aufzuzeigen und Alternativen zu bieten, begannen europäische ÖkonomInnen unter Federführung des französischen Wirtschaftsforschungsinstituts OFCE im November 2012 mit der Veröffentlichung des sogenannten unabhängigen Jahreswachstumsberichts, kurz iAGS. Seit 2014 ist auch die wirtschaftswissenschaftliche Abteilung der AK daran beteiligt.
Aktives Nachfragemanagement durch expansive Budgetpolitik …
Im iAGS 2017 kommen wir zum Schluss, dass zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit bzw. die Schaffung guter Arbeitsplätze vor allem eine Stärkung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage vonnöten ist.
Erstmalig erkennt das heuer die EU-Kommission zumindest zum Teil an. In ihrer heuer neu erstellten begleitenden Mitteilung über die adäquate budgetpolitische Ausrichtung kommt sie zum Schluss, dass zusätzliche öffentliche Investitionen im Ausmaß von 0,3 bis 0,8 % des BIP für die Eurozone angemessen wären. Damit nimmt sie die – u.a. im Vorjahr im iAGS ausgeführten – Kritik an ihrer einseitig den europäischen Budgetregeln verpflichteten restriktiven Ausrichtung ernst, auch wenn sie den Widerspruch nicht auflöst, sondern an die FinanzministerInnen der Eurostaaten weiterspielt. Die Kommission selbst kommt zum Schluss, dass die Fiskalregeln im Wesentlichen nur für Deutschland und die Niederlande Spielraum erlauben, in den anderen Ländern allerdings zu einer Budgetkonsolidierung von 0,45 % des BIP der Eurozone führen würden. Abzüglich des Spielraums (berechnet auf Basis der EU-Herbstprognose) bleibt jedoch unterm Strich für 2017 immer noch eine restriktive Vorgabe von -0,1 % des BIP (die gemäß iAGS-Prognose auch genau erreicht wird).
Beim Treffen der Eurogruppe am 5. Dezember wird nun zu klären sein, wie dieser Widerspruch zwischen restriktiven Budgetregeln und der für die Eurozone nun empfohlene expansive Ausrichtung von 0,5 % des BIP aufzulösen ist. Im iAGS wird diese Lücke geschlossen, indem basierend auf den Vorarbeiten von Achim Truger, die insbesondere die goldene Investitionsregel umfassen, Wege aufgezeigt werden, wie an den Budgetregeln (weitgehend) festgehalten werden kann und trotzdem die Investitionen gefördert werden können.
… und expansivere Lohnpolitik im Zentrum des iAGS 2017
Zweiter wichtiger Punkt für die Förderung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage ist die Schließung der größer werdenden Lücke zwischen der Soll-Lohnentwicklung gemäß produktivitätsorientierter Lohnpolitik (bzw. goldener Lohnregel) und dem tatsächlichen Verlauf. Zwar wurde die leichte Unterausschöpfung vor der Krise (2000-2007) in den Jahren 2008 und 2009 zwischenzeitlich mehr als ausgeglichen. Seitdem sind die Löhne aber deutlich schwächer gewachsen als EZB-Inflationsziel und Produktivitätsanstieg. Ende dieses Jahres werden die nominellen Lohnstückkosten nur um insgesamt 4,9 % höher sein als 2009, obwohl der Spielraum eine Steigerung um 14,9 % erlaubt hätte.
Entwicklung der Lohnstückkosten in der Eurozone im Vergleich zur goldenen Lohnregel