Anfang Oktober stellte der sozialdemokratische Kommissar für Soziales und Beschäftigung László Andor seine lange erwarteten Vorschläge für eine soziale Dimension der Wirtschafts- und Währungsunion vor. Angesichts der grassierenden Massenarbeitslosigkeit in Europa wurden von vielen BeobachterInnen erhofft, dass es wichtige Schritte in Richtung einer Sozialunion geben würde. Doch stattdessen schlägt die Kommission Indikatoren zur Messung der sozialen Situation vor, die längst weithin bekannt ist und möchte sie durch noch mehr neoliberale Strukturreformen verbessern.
Die Soziale Krise
Für die meisten Menschen in Europa drückt sich die Krise nicht in fallenden Aktienkursen, hohen Schuldenständen des Staates oder der Leistungsbilanz aus, sondern als eine soziale Krise in ihrem alltäglichen Leben. Zuletzt wurden in der Eurozone über 19 Millionen Arbeitslose (12%) gezählt, von denen 3,4 Millionen Jugendliche waren. Die Verteilung der Arbeitslosigkeit zeigt dabei einen tiefgespaltenen Kontinent. Während in Österreich „nur“ 4,9% arbeitslos sind, ist in Griechenland inzwischen mehr als ein Viertel der Bevölkerung ohne Arbeit. Die hohe Arbeitslosigkeit ist nicht der einzige Aspekt der sozialen Krise, auch die Armut steigt in Europa. Erst kürzlich machte ein Report des internationalen Roten Kreuzes auf die verheerenden Folgen der Krise aufmerksam; 43 Millionen Menschen in der EU – einer der reichsten Regionen der Welt – können sich nicht mehr ausreichend ernähren. Auch für jene die noch Arbeit haben , ist die Situation alles andere als positiv, denn immer öfter sind die einzig verfügbaren Arbeitsplätze prekär und gleichzeitig sinken die Haushaltseinkommen. Die soziale Krise ist dabei nicht nur Ergebnis unsichtbarer Marktprozesse und einer verheerenden Sparpolitik, sondern zum Teil gewolltes Ergebnis der „makroökonomischen Anpassung“ im Euroraum, wie sie nicht zuletzt von der Europäischen Kommission gegenüber den Programm-Ländern vorangetrieben wird. Diese euphemistisch als „interne Abwertung“ bezeichnete Politik hat in den letzten Jahren darauf abgezielt durch Drosselung des Konsums, sinkende Löhne, Aufweichung von Kollektivverträgen und möglichst weitgehende Liberalisierung der Arbeitsmärkte die Wettbewerbsfähigkeit wieder herzustellen.
Seit dem es eine Wirtschafts- und Währungsunion gibt, ist die Antwort auf die Frage ausständig, ob eine Union, ohne den sozialen Aspekt funktionieren kann. Noch nie war diese Frage aber drängender als heute. Daher wurde auch erwartet, dass die Kommission einen Vorschlag für eine soziale Dimension der Wirtschafts- und Währungsunion bei ihrer Pressekonferenz am 2. Oktober vorlegt, die diesen Namen auch verdient. Auch sollte die soziale Dimension jene Verluste an sozialer Gerechtigkeit ausgleichen, die durch ein immer engeres budget- und wirtschaftspolitisches Korsett und der damit verbundenen Sparpolitik zustande gekommen sind. Unter anderem wurde im Vorfeld berichtet, dass László Andor einen Vorschlag für eine europäische Arbeitslosenversicherung machen wolle. Ebenso diskutiert wurde der Vorschlag anhand sozialer Indikatoren automatisch Maßnahmen zu setzen, wenn diese ein bestimmtes Level über- oder unterschreiten. Damit konnte Andor sich offenbar nicht durchsetzen, denn die Vorschläge weisen in eine gänzlich andere Richtung.
Soziale Indikatoren ohne Wirkkraft
Das Herzstück der Mitteilung der Kommission ist der Vorschlag soziale Indikatoren in das europäische Semester zu integrieren. Sprachlich orientiert sich die Kommission dabei an dem Verfahren zu makroökonomischen Ungleichgewichten. Bei diesem Verfahren gibt es ein „Scoreboard“ aus 10 Indikatoren (u.a. Leistungsbilanz, Exportmärkte, private und öffentliche Verschuldung, Arbeitslosenquote), die bei bestimmten Grenzwerten einen Alarmmechanismus auslösen. Die Kommission kann in so einem Fall detaillierte Studien über die makroökonomische Situation der Mitgliedsstaaten verfassen und gegebenenfalls ein Verfahren gegen den betroffenen Staat einleiten, das diesen zu Strukturreformen drängt und bei Nicht-Erfüllung der vereinbarten Auflagen in Sanktionen endet.
Diesem Verfahren möchte die Kommission nun ein aus 5 Indikatoren bestehendes Scoreboard zur Seite stellen, das die soziale Situation in der Eurozone bewertet. Die vorgeschlagenen Indikatoren sind die Arbeitslosenraten, die sogenannte NEET-Rate (Jugendliche die sich weder in Beschäftigung, Bildung oder Ausbildung befinden), Veränderungen des verfügbaren Bruttohaushaltseinkommens, die Armutsgefährdungsrate, sowie die Ungleichheit (selbst ermittelt anhand unterschiedlicher Faktoren). Außer dem Namen „Scoreboard“ wird es wohl keine weiteren Gemeinsamkeiten mit der makroökonomischen Überwachung geben, denn während aus der makroökonomischen Überwachung politische Folgen entstehen, ist derartiges für das soziale Scoreboard nicht vorgesehen. Weder ist derzeit klar, ob es überhaupt Schwellenwerte geben wird, die eine Art von Alarmmechanismus auslösen, noch gibt es verbindliche Folgen für die Politik. Die 5 Indikatoren sollen lediglich im Rahmen des Gemeinsamen Beschäftigungsberichts, der zusammen mit dem jährlichen Wachstumsbericht der Kommission gegen Ende des Jahres erscheint und das europäische Semester einläutet, veröffentlich werden. Anschließend sollen die Ergebnisse von Rat, Parlament und den Sozialpartnern auf europäischer Ebene diskutiert werden. Das Scoreboard läuft im Endeffekt wohl darauf hinaus, dass 5 Indikatoren, die jedeR Interessierte auch selbst rasch recherchieren kann, in aller gebotenen Kürze von den Zuständigen in Rat und Kommission bedauert werden. Eine maßgebliche Änderung der Sozialpolitik auf europäischer Ebene wird daraus kaum folgen.
Mehr Einfluss für Gewerkschaften?
Die Mitteilung der Kommission enthält auch einen Vorschlag zur besseren Einbindung der Sozialpartner. Zukünftig will sich die Kommission sowohl vor als auch nach der Annahme des Jahreswachstumsberichtes mit den Sozialpartnern treffen und mit diesen darüber beraten. Als weitere Maßnahme wird vorgeschlagen, dass die Mitgliedsstaaten die im Zusammenhang mit den länderspezifischen Empfehlungen der Kommission getroffenen Reformen mit den Sozialpartnern diskutieren. Gegen den Vorschlag die Sozialpartner und damit auch die Gewerkschaften künftig häufiger zu treffen, ist natürlich nichts einzuwenden. Vielmehr stellt sich die Frage, ob sich dadurch substanziell etwas an den Kräfteverhältnissen innerhalb der EU ändern wird, was aufgrund des ungebrochen großen Einflusses der Lobbys großer Konzerne und Banken unwahrscheinlich scheint.
Alter Wein in neuen Schläuchen
Neben diesen recht wirkungslosen Mechanismen verweist die Mitteilung der Kommission auf diverse bereits bestehende Fonds, um die soziale Krise abzufedern. Dazu zählen etwa die Mittel die 6 Mrd. Euro, die für die Umsetzung der Jugendgarantie bereitgestellt wurden. Neue Fonds oder Gelder werden aber nicht vorgeschlagen, sondern die Kommission betont bereits bestehende Mittel immer und immer wieder, um damit den Eindruck zu erwecken es würde bereits genügend getan. So wichtig diese 6 Mrd. Euro auch sind, sie multiplizieren sich aber nicht dadurch, dass die Kommission und andere politische EntscheidungsträgerInnen diese Summe in regelmäßigen Abständen erwähnen. Die Schwäche der Kommission und damit auch der EU hinsichtlich konkreter Mittel und Maßnahmen gegen die soziale Krise, wurde auch auf der Pressekonferenz am 2. Oktober, auf der László Andor die Mitteilung der Kommission präsentierte, deutlich. Auf die Frage eines Journalisten was er für konkrete Maßnahmen zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit vorschlage, zählte Andor eine Reihe bereits bestehender Geldmittel auf. Das diese Mittel in den letzten Jahren zur Verfügung gestellt wurden, stellt natürlich einen kleinen Fortschritt dar, es ersetzt aber nicht ein echtes Konzept gegen Armut und Arbeitslosigkeit.
Neben dem Verweis auf bereits bestehende finanzielle Mittel findet sich in der Mitteilung der Kommission sehr wenig, wenn es, um konkrete Maßnahmen geht. Einzig enthält hier die Mitteilung noch einen Abschnitt zu Arbeitskräfte-Mobilität. Die Kommission beklagt darin den Umstand, dass nach wie vor, nur 2,6% der Arbeitskräfte innerhalb der EU aus jeweils anderen EU-Staaten stammen. Nun ist nichts dagegen einzuwenden, wenn Menschen aus freien Stücken entscheiden, in einem anderen EU-Land zu arbeiten. Aber was die Kommission hier kritisiert ist der Umstand, dass die Arbeitskräfte nicht so flexibel sind, wie das Kapital, dass sich innerhalb der EU bewegt. Daher sollen Maßnahmen ergriffen werden, um die Arbeitskräfte in Europa mobiler zu machen. Solange es nur darum geht, wie es die Kommission vorschlägt, die Job-Suche in anderen Ländern einfacher zu machen, oder bürokratische Hürden zu verringern, ist das nicht weiter problematisch. „Flexiblere” ArbeitnehmerInnen, die ihren Lebensmittelpunkt nur nach den Bedürfnissen des Arbeitsmarktes wählen, sind allerdings keine Lösung für eine soziale Krise, die den Menschen die Sicherheit nimmt.
Arbeitslosenversicherung oder Wettbewerbspakte?
Die Frage, die die JournalistInnen auf der Pressekonferenz aber am meisten beschäftigte, war jene nach dem Schicksal der europäischen Arbeitslosenversicherung. Andors Antwort darauf hielt fest, dass dies nicht beabsichtigt sei, da man sich mit dem Vorschlag im Rahmen des sogenannten “Blueprints” bewegen wolle. In besagtem Blueprint (oder genauer dem „Konzept für eine vertiefte und echte Wirtschafts- und Währungsunion“), den die Kommission im November 2012 präsentierte, versucht die Kommission eine langfristige Vision für die Eurozone zu entwerfen. Dass der Blueprint den Horizont für die Vorschläge der Kommission zur sozialen Dimension bilden soll, ist schon deshalb fragwürdig, weil die soziale Dimension in der Mitteilung der Kommission kaum angesprochen wird, geschweige denn ihr ein eigenes Kapitel gewidmet wird.
Wer sich dennoch Hoffnungen auf eine gemeinsame Arbeitslosenversicherung machen möchte, der/die muss sich auf das konzentrieren, was zwischen Klammern steht. In der Mitteilung der Kommission und dem beiliegenden Presse-Memo finden sich dann doch zwei kleine Verweise, auf die Arbeitslosenversicherung. In der Mitteilung selbst wird als langfristiges Ziel vorsichtig ein Eurozonen-Budget abgedacht und tatsächlich findet sich in einer Klammer als mögliches Beispiel die bundesweite US-amerikanische Arbeitslosenversicherung, als mögliches Modell. Das Ganze ist so vage gehalten, dass die wenigsten Medien davon Notiz genommen haben, aber es lässt die Möglichkeit wenigstens für die ferne Zukunft offen. Im Pressememo findet sich dann neben dem Blueprint als „Horizont” noch eine zweite Begründung, warum die Kommission nun kein Konzept für eine solche Arbeitslosenversicherung vorgelegt hat. Hier heißt es, dass die legale Basis dafür nicht gegeben ist und daher weitreichende Vertragsänderungen notwendig wären. Angesichts all der Maßnahmen die am harten Limit der Verträge zur Beruhigung der Finanzmärkte umgesetzt wurden, mutet es eigenartig an, wenn die Kommission die Möglichkeit angesichts einer drängenden sozialen Krise hier nicht einmal eingehender prüft.
Statt der Arbeitslosenversicherung, versucht die Kommission nun aber einen bereits viel kritisierten Vorschlag als Aspekt der sozialen Kommission zu verkaufen, das sogenannte „Instrument für Konvergenz und Wettbewerbsfähigkeit”, das auch unter dem Begriff „Wettbewerbspakte” diskutiert wird. Dabei handelt es sich um die Idee, dass Mitgliedsstaaten sich in Verträgen mit der Kommission zu Strukturreformen im Gegenzug zu finanzieller Unterstützung verpflichten. Der Europäische Rat hat auf seinem Gipfel am 24. und 25. November diese Prioritätensetzung noch einmal bekräftigt. Während sich die Staats- und Regierungschefs zur sozialen Dimension nur Phrasen finden, möchten sie schon im Dezember erste Entscheidungen zu den Wettbewerbspakten treffen. Es grenzt schon an einen Sinn für Ironie, wenn anstelle einer europäischen Arbeitslosenversicherung, nun ein Instrument kommen soll, dass auch auf der nationalen Ebene durch neoliberale Strukturreformen dazu beitragen wird, die soziale Dimension zu untergraben.
Mit mehr Wettbewerbsfähigkeit aus der sozialen Krise?
Für alle die sich von der Europäischen Kommission ein deutliches Zeichen erwartet haben, ist die Mitteilung zur sozialen Dimension eine Enttäuschung. Das gilt wohl auch für László Andor selbst, der auf seiner eigenen Pressekonferenz ganz so schien, als hätte ihm die konservativ-neoliberale Mehrheit innerhalb der Kommission gerade erst frisch eine Niederlage zugefügt. Es darf wohl auch als Zeichen gewertet werden, dass Kommissionspräsident Barroso, obwohl dies von vielen erwartet worden war, es selbst nicht für notwendig erachtete auf der Pressekonferenz zu erscheinen.
Die Folgen der Mitteilung zur sozialen Dimension, sofern die politischen EntscheidungsträgerInnen die darin vorgesehenen Schritte – wie das Scoreboard – umsetzen, werden nicht viel mehr sein als ein jährliches Ritual, an dem hohe Arbeitslosigkeit und steigende Armut beklagt werden. –Jedoch sind die Mittel, die die Kommission zur Bekämpfung der sozialen Krise einsetzen will, die gleichen, die dahin geführt haben, mehr Strukturreformen für mehr Wettbewerbsfähigkeit.
Dieser Beitrag ist eine überarbeitete Version eines Artikels, der im aktuellen infobrief EU & international, Ausgabe 4/2013 erschienen ist.