Vor dem Hintergrund der sogenannten „europäischen Säule sozialer Rechte“ rückt die EU-Kommission die Arbeitsbedingungen atypisch Beschäftigter, insbesondere von ArbeitnehmerInnen mit neuen Beschäftigungsformen, auf die EU-Agenda. Der aktuell verhandelte Vorschlag für eine Richtlinie über transparente und verlässliche Arbeitsbedingungen in der EU soll zu mehr Transparenz und gestärkten Rechten beitragen. Sind die Vorschläge ein Schritt in die richtige Richtung?
Soziale Prinzipien und Ziele – aber welche Maßnahmen zu ihrer Erreichung?
„Ich möchte ein Europa mit einem sozialen ‚Triple-A‘“, formulierte Jean-Claude Juncker im Oktober 2014 als designierter EU-Kommissionspräsident vor dem Europäischen Parlament. Zwar ist die Europäische Union bereits gemäß ihren Verträgen verpflichtet, sich auf soziale Ziele wie sozialen Fortschritt, die Förderung sozialer Gerechtigkeit und sozialen Schutzes (Art. 3 EUV) und die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen (Art. 151 AEUV) auszurichten. Dennoch erscheint die Juncker-Kommission bei verschiedenen Gelegenheiten bestrebt, ihre Bereitschaft zu betonen, der sozialen Dimension der EU stärkeres Gewicht einzuräumen. Als übergeordnete Initiative in diesem Zusammenhang gilt die „europäische Säule sozialer Rechte“. Der von Kommission, Rat und EU-Parlament im November 2017 proklamierte Katalog an Grundsätzen ist allgemein formuliert und rechtlich unverbindlich – und einzelne Bestandteile zielen auf arbeitgeberorientierte Flexibilität anstelle sozialer Rechte ab. Dennoch enthält die „soziale Säule“ mehrere soziale Grundsätze, an denen das Handeln von EU-Institutionen und Mitgliedstaaten politisch gemessen werden kann.
Doch kann es gelingen, die Widersprüche zwischen deklarierten sozialen Zielen und Prinzipien auf der einen Seite und einer großteils einseitig-neoliberalen wirtschaftspolitischen Ausrichtung und der Unterordnung der sozialen Dimension auf der anderen Seite zumindest ansatzweise aufzulösen? Gesamthaft gesehen hängt dies davon ab, ob ein grundlegender Kurswechsel in Richtung eines sozialen Europas gelingt. Im Einzelnen stellt sich ganz unmittelbar die Frage, ob die jeweiligen sozialpolitischen Initiativen auf der EU-Agenda weitreichend genug sind oder zumindest ein Schritt in die richtige Richtung. Der im Dezember 2017 von der EU-Kommission vorgelegte Vorschlag einer Richtlinie für transparente und verlässliche Arbeitsbedingungen in der EU kann dafür ein Testfall sein. Können die darin enthaltenen Bestimmungen dazu beitragen, Arbeitsbedingungen substanziell zu verbessern und prekäre Arbeit zu bekämpfen?
Atypische Beschäftigung auf der EU-Agenda
Das starke Ausmaß atypischer Beschäftigung ist längst zu einem maßgeblichen Merkmal der Arbeitsmärkte der Europäischen Union geworden. Zur Messung atypischer Beschäftigung bestehen unterschiedliche Ansätze. Gemäß Europäischer Kommission auf der Basis von Eurostat-Daten entfielen 2016 lediglich 60 % der Beschäftigungsformen auf sog. Normalarbeitsverhältnisse – also unbefristete Vollzeitarbeitsverhältnisse. Rund 40 % entfielen auf befristete und/oder Teilzeitarbeit sowie „Selbständige“. Zudem sind nach Angaben der EU-Kommission fast 20 % der seit 2014 geschaffenen Arbeitsformen sogenannte „neue Beschäftigungsformen“. Zu letzteren zählen u.a. GelegenheitsarbeitnehmerInnen (wie etwa Personen mit „Arbeit-auf-Abruf“-Verträgen), zu denen bereits 4 bis 6 Millionen Menschen in der EU gezählt werden können. Geringe Arbeitsplatz- und Einkommenssicherheit, unzureichender Sozialschutz, kaum Zugang zu Fortbildung und bisweilen repetitive Arbeit seien bei dieser Beschäftigungsform die Folgen. Dies ist nur ein Beispiel dafür, wie atypische und neue Beschäftigungsformen vielfach mit prekären Arbeitsverhältnissen einhergehen.
Die Arbeitsbedingungen atypisch Beschäftigter sollen nun verstärkt auf die EU-Agenda gerückt werden. So befragte die EU-Kommission die EU-Sozialpartner im vergangenen Jahr in zwei Phasen zur Überarbeitung der Nachweis-Richtlinie, die Mindestanforderungen zu den Informationspflichten der ArbeitgeberInnen über wesentliche Aspekte des Beschäftigungsverhältnisses enthält. Die Blockadehaltung der ArbeitgeberInnenseite zeigte sich bereits zu diesem Zeitpunkt: „Eine Mehrheit [der an der EU-Sozialpartner-Konsultation teilnehmenden ArbeitgeberInnen-Verbände, Anm.] unterstützte weder die Änderung des Informationspakets noch die Verkürzung der Zweimonatsfrist [zur Vorlage der schriftlichen Informationen, Anm.]. Kein Arbeitgeberverband sprach sich für Änderungen an den Rechtsbehelfen und Sanktionen auf EU-Ebene aus. Mit nur sehr wenigen Ausnahmen widersprachen die Arbeitgeberorganisationen der Einbindung neuer Mindestrechte in eine überarbeitete Richtlinie“, resümiert die EU-Kommission.
Nachdem keine Sozialpartnerverhandlungen eingeleitet wurden, wurde die EU-Kommission selbst initiativ und legte am 21. Dezember 2017 im Rahmen des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens einen Vorschlag für eine neue Richtlinie für transparente und verlässliche Arbeitsbedingungen vor. Der Vorschlag ist eine Überarbeitung der bisherigen Nachweisrichtlinie, geht aber inhaltlich darüber hinaus. Die Kommission geht davon aus, dass die bisherige Nachweisrichtlinie nicht mehr den veränderten Arbeitsmarktrealitäten mit neuen Arbeitsformen entspricht und insbesondere für besonders schutzbedürftige ArbeitnehmerInnen gesetzliche Lücken bestehen. Mit dem Richtlinienvorschlag sollen im Vergleich zur bisherigen Nachweis-Richtlinie 2 bis 3 Millionen zusätzliche Beschäftigte in atypischen Arbeitsverhältnissen erfasst werden.
Was beinhaltet der Kommissions-Vorschlag?
In der Begründung des Richtlinien-Vorschlags sind die Ziele enthalten, „sichere und verlässliche Beschäftigung zu fördern“ und „die Lebens- und Arbeitsbedingungen zu verbessern“ – aber auch die auf arbeitgeberorientierte Flexibilität abzielende Ausrichtung, „die Anpassungsfähigkeit des Arbeitsmarktes zu erhalten“. Der Richtlinien-Vorschlag setzt sich aus zwei wesentlichen Bestandteilen zusammen: Zum einen sieht er einen – nun erweiterten – Katalog von Pflichten der ArbeitgeberInnen zur Information über die wesentlichen Aspekte des Beschäftigungsverhältnisses vor, welche spätestens am ersten Tag des Beschäftigungsverhältnisses (bislang bis zu zwei Monate nach Arbeitsbeginn) vorliegen müssen. Zum anderen enthält der Richtlinienentwurf fünf Artikel, die die Einführung neuer Mindestrechte vorsehen. Diese umfassen – vereinfacht dargestellt – eine Höchstdauer der Probezeit auf sechs Monate; ein Verbot für ArbeitgeberInnen, ArbeitnehmerInnen die Aufnahme zusätzlicher Beschäftigung zu untersagen; Regelungen zur Mindestplanbarkeit der Arbeit bei großteils variablen und arbeitgeberbestimmten Arbeitszeitplänen; das Recht auf eine schriftliche Antwort bei dem Ersuchen seitens des Arbeitnehmers/der Arbeitnehmerin um „eine Beschäftigungsform mit verlässlicheren und sichereren Arbeitsbedingungen“ sowie das Recht der ArbeitnehmerInnen auf kostenlose Fortbildung, wenn ArbeitgeberInnen zum Angebot dieser Fortbildung verpflichtet sind. Es sind allerdings mehrere Ausnahmen von den Bestimmungen vorgesehen. Der Richtlinienvorschlag enthält zudem erstmals eine europäische ArbeitnehmerInnen-Definition auf gesetzlicher Ebene.
Zwar bedarf der gegenwärtige Vorschlag noch mehrerer Verbesserungen, dennoch enthält er mehrere Elemente, die zu unterstützen sind. Dadurch besteht die Chance, noch im Rahmen der zu Ende gehenden europäischen Legislaturperiode wesentliche Verbesserungen für ArbeitnehmerInnen zu erreichen. Begrüßenswert sind insbesondere die Ausweitung der Informationspflichten, die weite ArbeitnehmerInnen-Definition, welche auch bisher von der Nachweis-Richtlinie nicht erfasste Beschäftigungsverhältnisse umfasst, weniger Ausnahmen vom Geltungsbereich sowie verbesserte Rechtsdurchsetzungsmechanismen. Diese Schritte sind im Sinne einer verbesserten Transparenz positiv zu bewerten.
Die im Richtlinienentwurf enthaltenen Mindestanforderungen bezüglich der Arbeitsbedingungen enthalten zwar Bestimmungen, die zu begrüßen sind. Dennoch ist das darin vorgesehene Schutzniveau für ArbeitnehmerInnen insgesamt deutlich zu wenig ambitioniert. So ist etwa eine Höchstdauer einer Probezeit von sechs Monaten viel zu hoch angesetzt. Der Mindeststandard zur kostenlosen Weiterbildung ist nur auf den für den/die Arbeitgeber/in obligatorischen Bereich der Weiterbildung bezogen. Und ein Anspruch darauf, auf das Ersuchen um eine andere Beschäftigungsform eine schriftliche Antwort zu erhalten, kann wohl kaum als starkes soziales Recht bezeichnet werden. Zudem würden die Regelungen zur Mindestplanbarkeit der Arbeit in der derzeitigen Form die Zulässigkeit von Arbeit auf Abruf – einschließlich sogenannter Null-Stunden-Verträge – (wie sie in mehreren Ländern wie etwa Schweden, der Niederlande und Italien praktiziert wird) einschränken, aber diese implizit auf europäischer Ebene legitimieren. Notwendig ist vielmehr ein generelles EU-weites Verbot von Arbeit auf Abruf.
Um zu einer substanziellen Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der EU beizutragen, ist eine umfassende Agenda zur Stärkung der Qualität der Arbeit in der EU erforderlich, die insbesondere darauf abzielt, prekäre Beschäftigung zu unterbinden bzw. effektiv zurückzudrängen. Dabei sollte eine breite Bandbreite sozialer Mindeststandards auf hohem Niveau inklusive der verbindlichen Verankerung des Nicht-Rückschritts-Prinzips umgesetzt werden.
Fazit
Es ist zu begrüßen, dass das Ziel der Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen, besonders für ArbeitnehmerInnen in atypischen und prekären Beschäftigungsverhältnissen, erneut auf die EU-Agenda gesetzt wurde. Auf der Basis des vorliegenden Kommissionsvorschlags gilt es nun, jene Bestimmungen zu verteidigen, die die Rechte der ArbeitnehmerInnen verbessern würden. Wie notwendig das ist, zeigen beispielsweise die Kommentare der Regierungsfraktionen im EU-Ausschuss des Bundesrats, die im Zusammenhang mit dem Richtlinien-Vorschlag vor zu viel Bürokratie warnen.
Anstatt insgesamt zu weitgehend zu sein – wie Unternehmenslobbys und neoliberale politische Kräfte argumentieren –, muss die geplante Richtlinie hinsichtlich der Stärkung der Rechte der ArbeitnehmerInnen viel weiter gehen. Insbesondere die vorgeschlagenen Mindeststandards sind hinsichtlich ihres Schutzniveaus deutlich zu wenig ambitioniert. Notwendig ist eine umfassende Agenda zur Stärkung der Qualität der Arbeit in der EU. Um die soziale Dimension der EU substanziell zu stärken, müssen diese Strategien zudem in politischen Druck auf unterschiedlichen Ebenen eingebettet sein, der auf einen grundlegenden Kurswechsel in der EU abzielt.