Europäische Sozialstaaten in der COVID-19-Krise

23. Februar 2022

Die COVID-19-Krise hat bestehende soziale Ungleichheiten vertieft und neue geschaffen. Sie führt allerdings auch dazu, dass der Sozialstaat wieder verstärkt als Garant sozialer Sicherheit wahrgenommen wird. Nicht ohne Grund: Quer durch Europa ergriffen Regierungen Maßnahmen, die ein Abrutschen breiter Bevölkerungsschichten in die Armut verhindern und besonders marginalisierte Gruppen und Personen schützen sollen. Während sich in gewissen Bereichen allgemeine Trends und Entwicklungen beobachten lassen, machen einzelne Staaten mit besonders innovativen Maßnahmen auf sich aufmerksam oder setzen gar auf einen sozialpolitischen Kurswechsel.

Asymmetrische Belastung

Schnell hat sich gezeigt, dass die COVID-19-Krise zwar alle Bevölkerungsteile und -schichten trifft, die Last allerdings – auch in Österreichasymmetrisch verteilt ist. Gruppen und Einzelpersonen, die bereits vor der Krise marginalisiert waren, sind besonders stark von den Auswirkungen betroffen und überproportional oft mit Armut bzw. Armutsgefährdung und gesellschaftlicher Exklusion konfrontiert. Das gilt unter anderem für Menschen mit Behinderungen, Obdach- bzw. Wohnungslose sowie Menschen mit Migrationshintergrund oder prekärem Aufenthaltsstatus.

Aber auch Faktoren wie Geschlecht und Alter spielen eine erhebliche Rolle. So arbeiten Frauen oft in Bereichen, in denen sie einem besonders hohen Infektionsrisiko ausgesetzt sind, sind besonders stark von der Arbeitsmarktkrise betroffen und müssen den Großteil der zusätzlich anfallenden Sorgearbeit schultern. Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene leiden speziell unter der Schließung von Schulen und anderen Bildungseinrichtungen, den verheerenden Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt und – ebenso wie die Bewohner*innen von Pflegeheimen – unter sozialer Isolation. Ältere Arbeitnehmer*innen (ab 55) sind besonders heftig von einem Rekordanstieg der Langzeitarbeitslosigkeit betroffen.

Auftritt Sozialstaat

Auch um auf diese asymmetrische Belastung zu reagieren, wurden in vielen europäischen Ländern (mehr oder weniger) umfassende sozialpolitische Maßnahmen ergriffen. Diese Maßnahmen sollten einerseits die verheerenden Auswirkungen der Pandemie abfedern und verhindern, dass große Teile der Bevölkerung in Armut und Prekarität abrutschen, andererseits aber auch gezielt Gruppen und Personen in besonders vulnerablen Situationen schützen. Diese Bemühungen schlagen sich auch in konkreten Zahlen nieder. So zeigt sich in jenen EU-Ländern, für die entsprechende Schätzungen bereits verfügbar sind, dass die Ausgaben für Sozialleistungen im Jahr 2020 ohne Ausnahme und teils sehr deutlich gestiegen sind.

Dekoratives Bild © A&W Blog
© A&W Blog
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Dadurch rückt die Pandemie mit dem Sozialstaat jenen Akteur ins Zentrum der Aufmerksamkeit, der für die soziale Absicherung verantwortlich, in der Vergangenheit politisch aber oft unter Druck geraten ist. Druck, der teils fatale Folgen hat. Die vergangenen zwei Jahre zeigten beispielsweise in dramatischer Art und Weise, wohin Privatisierungen und Einsparungen im öffentlichen Gesundheitssystem in vielen Ländern geführt haben.

Arbeitslosengeld und Sozialhilfe

Ein zentraler Fokus der sozialpolitischen Reaktion auf die Krise lag von Beginn an auf dem Arbeitsmarkt. Auf die vor allem zu Beginn der Pandemie rasant steigenden Arbeitslosenzahlen reagierten viele Regierungen (temporär) etwa mit einer ausgedehnten Bezugsdauer von Arbeitslosenzahlungen und/oder einem erleichterten Zugang zur Sozialhilfe. So zum Beispiel Deutschland, wo der Bezug von Arbeitslosengeld um drei Monate ausgedehnt und die Vermögensprüfung beim Bezug von Hartz IV ausgesetzt wurde. In Belgien wurde mit dem Argument, dass Menschen dadurch ansonsten direkt in die Armut gedrängt würden, die allmähliche Reduzierung (Degressivität) des Arbeitslosengeldes eingefroren und in Finnland die Anforderung für den Bezug von Arbeitslosengeld von 26 auf 13 Wochen erwerbstätiger Arbeit herabgesetzt. Maßnahmen, von denen nicht zuletzt Langzeitarbeitslose und junge Erwachsene am Beginn ihrer Erwerbskarriere profitieren. In vielen Ländern wurden auch gezielt Maßnahmen ergriffen, um atypisch Beschäftigte und (Solo-)Selbstständige – häufig Frauen, junge Menschen und Angehörige marginalisierter Gruppen – abzusichern, die von den Kurzarbeitsinstrumenten oft ebenso wenig erfasst werden wie von den etablierten Systemen der Arbeitslosen- und Sozialversicherung, von der Krise aber besonders stark betroffen sind. Im Gegensatz dazu gibt es jedoch auch Staaten, in denen kaum finanzpolitische Schutzmaßnahmen für Arbeitslose bzw. marginalisierte Gruppen ergriffen wurden, zum Beispiel Ungarn. Noch schlimmer: Dort wurde den Arbeitgeber*innen erlaubt, im Rahmen der ergriffenen Maßnahmen von arbeitsrechtlichen Bestimmungen abzuweichen, und eine Notstandsverordnung dazu genutzt, eine autoritäre politische Agenda durchzusetzen.

In so gut wie allen Staaten wurden in Reaktion auf die Krise außerdem Kurzarbeits-, Kurzzeitarbeitslosigkeits- oder Lohnsubstitutionsinstrumente eingeführt bzw. bestehende Instrumente ausgebaut. Allerdings weisen diese in vielen europäischen Ländern blinde Flecken hinsichtlich der Lebens- und Arbeitsrealitäten von marginalisierten Gruppen auf, etwa weil Karenzzeiten nicht angerechnet oder Geringverdienende benachteiligt werden. Das in Österreich von Regierung und Sozialpartnern ausverhandelte Modell gilt hingegen nicht zuletzt deshalb auch international vielen als Vorbild, weil es das Kurzarbeitsgeld nach Einkommenshöhe staffelt und dadurch Geringverdienende besser absichert als andere europäische Modelle.

Von Kurswechseln …

Im Gegensatz zu den Entwicklungen der letzten Jahrzehnte und der durch eine rigide Sparpolitik geprägten Reaktion der EU auf die Finanzkrise („Austerität“) setzen viele europäische Staaten im Zuge der COVID-19-Krise auf eine zumindest temporäre Stärkung des Sozialstaates. Einzelne Länder ergriffen besonders umfassende bzw. innovative Maßnahmen oder versuchen die Pandemie gar für einen langfristigen sozialpolitischen Kurswechsel zu nutzen. So etwa Litauen, das von den Folgen der Finanzkrise ab 2008 hart getroffen wurde. Das Land im Baltikum, dessen Sozialausgaben im internationalen Vergleich in der Vergangenheit äußerst gering ausfielen, entschied sich für eine Reaktion auf die Krise, die deutliche Anzeichen für einen vom Gedanken der Solidarität geprägten Ansatz erkennen lässt. Sozialpolitische Maßnahmen, wie etwa eine Erhöhung der Heizkostenzuschüsse für geringverdienende Familien und ein erleichterter Zugang zur (ebenfalls erhöhten) Sozialhilfe, sollen auch über die Dauer der Pandemie hinaus in Kraft bleiben. Außerdem wurde eine Förderung ins Leben gerufen, die unter anderem die Schaffung neuer bzw. die Adaptierung bestehender Arbeitsplätze für Menschen mit Behinderungen subventioniert, und langfristige Maßnahmen in der Wohnpolitik gesetzt. So wurde beispielsweise die maximale Wartezeit für eine Sozialwohnung von fünf auf drei Jahre verkürzt. Kann die Gemeinde innerhalb dieses Zeitraums keine entsprechende Unterkunft zur Verfügung stellen, muss sie für die Miete einer auf dem Wohnungsmarkt angemieteten Wohnung aufkommen.

… und Innovationen

In manchen Ländern werden im Zuge der Krise auch neuartige oder besonders innovative Wege beschritten. In Spanien wurde beispielsweise die Durchführung eines landesweiten Modellprojekts zur Einführung der 4-Tage-Woche beschlossen. In dessen Rahmen soll die wöchentliche Arbeitszeit für rund 3.000 bis 6.000 Beschäftigte auf 32 Stunden reduziert werden – bei vollem Lohnausgleich. Außerdem wurde für das Jahr 2022 ein Budget verabschiedet, das eine Rekordsumme von fast 250 Milliarden Euro für Sozialausgaben vorsieht. Finanziert werden soll dieses unter anderem durch eine Steuererhöhung für Spitzenverdiener*innen und auf Vermögen, eine Anhebung der Mehrwertsteuer für zuckerhaltige Getränke sowie Umweltsteuern.

Als innovativ bezeichnet werden kann auch die in Irland eingerichtete „Firewall“, die Arbeitsmigrant*innen mit undokumentiertem Aufenthaltsstatus den Zugang zu bestimmten Gesundheits- und Sozialleistungen ermöglicht, ohne dass deren Daten an die Einwanderungsbehörden weitergeleitet werden. Andere Länder verlängerten auslaufende Aufenthaltstitel oder verliehen – wie Portugal – „temporäre Staatsbürgerschaften“ an Personen, die sich in laufenden Aufenthalts- bzw. Asylverfahren befanden, um ihnen Zugang zum Gesundheits- und Sozialsystem zu ermöglichen. Auch im Bereich der Wohnpolitik ergriffen viele Regierungen Maßnahmen, um die Folgen der COVID-19-Krise einzudämmen. So wurden in Portugal Mieten und Hypotheken auf Hauptwohnsitze von Familien in vulnerablen Situationen ausgesetzt und ein spezielles Kreditsystem für Bedürftige eingeführt. Gemeinden konnten Mieter*innen entlasten oder ganz von der Miete befreien. In zahlreichen Ländern wurden außerdem Zwangsräumungen temporär ausgesetzt, etwa in Irland oder Großbritannien, aber auch in Österreich, und das Einstellen der Wasser-, Energie- und Gasversorgung verboten.

Wo steht Österreich?

Insgesamt hat der österreichische Sozialstaat mit seinem gut ausgebauten Gesundheitssystem sowie akuten sozial- und arbeitsmarktpolitischen Krisenmaßnahmen wie der Weiterentwicklung des Kurzarbeitsinstruments ohne Zweifel dazu beigetragen, die verheerenden Konsequenzen der Pandemie abzufedern. Dass sich die Situation in vielen Bereichen – zumindest unmittelbar – nicht so dramatisch entwickelt hat, wie zu Beginn der Pandemie befürchtet, ist dabei in erster Linie auf umfangreiche staatliche Ausgaben zurückzuführen. So stieg der Anteil der Sozialausgaben am Bruttoinlandsprodukt (Sozialquote) im Jahr 2020 auf einen historischen Höchststand von 34,1 Prozent.

Dekoratives Bild © A&W Blog
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All das wird auch von vielen Menschen anerkannt: Im Rahmen einer Befragung gaben im Jahr 2021 rund zwei Drittel an, dass der Sozialstaat durch die Pandemie aus ihrer Sicht an Wichtigkeit gewonnen hat. Dennoch führt die COVID-19-Krise auch in Österreich zu einer Verschärfung sozialer Ungleichheiten und legt schonungslos Mängel und Lücken in der sozialen Absicherung offen, etwa die zu geringe Höhe des Arbeitslosengeldes, das Fehlen einer Strategie zur Bekämpfung von Wohnungslosigkeit oder die problematische Situation von Solo-Selbstständigen, die oft nicht arbeitslosenversichert sind. Diese Mängel und Lücken betreffen vor allem bereits vor der Krise marginalisierte Personengruppen und müssen dringend behoben bzw. geschlossen werden.

Das Forschungsprojekt, auf dessen Basis dieser Artikel entstand, wurde durch das Netzwerk Wissenschaft der AK Wien finanziert.

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