Atypisch Beschäftigte in der Corona-Krise: Die im Dunkeln sieht man nicht …

25. Mai 2021

Die Corona-Krise betrifft atypisch Beschäftigte besonders stark, urteilen ExpertInnen. Schon vor der Krise hatte man potenzielle Nachteile im Blick, jedoch wurden Risiken und Chancen gegeneinander abgewogen (Eurofound 2015). Die Zeit des Abwägens scheint nun vorbei, denn mit der Corona-Krise treten die Beschäftigungsrisiken klar in den Vordergrund.

Auswahl an Chancen und Risiken von neuer atypischer Beschäftigung

ChancenRisiken
ArbeitsplatzschaffungEntgrenztes Arbeiten
Flexibilität und AutonomieSoziale Isolation
Verbesserte Work-Life-BalanceUngeklärter Beschäftigungsstatus
Zusätzliche EinkommensquellenMangelnde Interessenvertretung
Einfacher Zugang zum ArbeitsmarktErschwerter Zugang zu Weiterbildung
 Fehlende/unstrukturierte Karrierewege
 Niedriges und/oder instabiles Einkommen
 Fehlende soziale Absicherung
Basierend auf Eurofound 2020

Atypische Beschäftigung und neue Formen von Arbeit

Anfang 2020 nahmen wir die Arbeit an einer Studie über „Chancen und Risiken neuer atypischer Beschäftigung“ auf (genauere Hintergründe auch im neuen SpiD-Band). Wir fragten, welche neuen Formen von Arbeit in Österreich existieren, welche Bedeutung sie am Arbeitsmarkt haben und wie sie sich über verschiedene Gruppen am Arbeitsmarkt verteilen. Dazu führten wir eine Auswertung der Arbeitskräfteerhebung des Mikrozensus sowie ExpertInneninterviews durch. Da sich unsere Untersuchung durch die erste Lockdown-Phase bis in den Juli 2020 zog, konnten wir die Verschiebung hin zur verschärften Risikowahrnehmung deutlich beobachten.

Die Krise hat aufgezeigt, wie wichtig es ist, das Ausmaß und die Verteilung von neuen Formen der Arbeit und Beschäftigung zu kennen.

Das gilt in doppelter Hinsicht: Erstens betreffend die Zielsicherheit von Maßnahmen – jenen helfen, die Hilfe brauchen. Zweitens, und damit verbunden, ist evidenzbasiertes Entscheiden über die Verteilung von Hilfsgeldern und Unterstützungsleistungen eine Voraussetzung für die Legitimation von Maßnahmen. Jedoch zeigte die Auswertung des Mikrozensus, dass die herkömmlichen Arbeitskräfteerhebungen kaum Rückschlüsse auf die Lage der neuen atypisch Beschäftigten ermöglichen, da relevante Dimensionen nicht im Fragebogen integriert sind bzw. die Fallzahlen oft sehr gering sind.

Was ist (neue) atypische Beschäftigung?

Atypische Beschäftigung ist ein Sammelbegriff für ein vielschichtiges Phänomen. Darunter fallen verschiedene Vertragsverhältnisse: von Teilzeit und geringfügiger Beschäftigung zur Leiharbeit; von freien Dienstverträgen zur Solo-Selbstständigkeit. Gemeinsam ist diesen Ausprägungen, dass sie vom „Normalarbeitsverhältnis“, d. h. einem unbefristeten Vollzeitverhältnis mit einem Arbeitgeber abweichen.

Erwerbskarrieren werden dadurch fragmentierter; zeitlich befristete Projektarbeitsarrangements reihen sich an- und nebeneinander und werden unterbrochen durch Phasen des Suchens nach neuen „Gigs“. Als neue Atypische werden jegliche Abweichungen von typischen Eins-zu-eins-Arbeitsverhältnissen mit einem geregelten Arbeitsort und -ablauf beschrieben (siehe Grafik). Ein zunehmend wichtiges Thema sind auch neue Formen der Organisation und Vermittlung von Wissens- und Dienstleistungsarbeit über Plattformen (Crowd Work, Online Freelancing).

Dekoratives Bild © A&W Blog
© A&W Blog

Flexibilisierung von Beschäftigung und Krise

Die Frage, warum Erwerbstätige atypisch beschäftigt sind, lässt sich einerseits mit Blick auf die betriebliche Rationalisierung, Flexibilisierung und Digitalisierung seit den 1980ern beantworten. Während die herstellende Industrie das Instrument der Leiharbeit nutzte, um Personalkosten einzusparen, kam es im Zuge der Liberalisierung öffentlicher Dienste zu Auslagerungen an externe Dienstleister. Andererseits fand im Zuge der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/09 und der darauffolgenden Austeritätspolitik eine Ausweitung von atypischer Beschäftigung statt. Zwar wuchs das Volumen in den Jahren vor der Corona-Krise nicht weiter an (siehe Gleißner, S. 44f), Betriebe haben aber die Flexibilisierungs- und Externalisierungsmaßnahmen auch nicht mehr zurückgebaut. Damit scheint sich eine These von Sareeta Amrute, Alex Rosenblat und Brian Callaci zu bestätigen: Wenn Betriebe in der Krise Beschäftigung flexibilisieren, dann halten sie daran auch in Zeiten der Konsolidierung fest, um in der nächsten Krise keine bzw. wenige Beschäftigte der Kernbelegschaft entlassen zu müssen.

Neue atypische Beschäftigung in der Krise: Solo-Selbstständige

Hinsichtlich der Verschärfung der Risiken atypischer Beschäftigung im Zuge der Corona-Krise rücken seit geraumer Zeit die Gruppe der Selbstständigen sowie der Aspekt der Geschlechterungleichheit in den Fokus. So titeln Wochenberichte des Deutschen Institut für Wirtschaft (DIW) „Corona-Pandemie wird zur Krise für Selbstständige“ und „Warum vor allem weibliche Selbstständige Verliererinnen der Krise sind“ oder das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) „Warum die Corona-Krise atypisch Beschäftigte besonders stark trifft“. Die besondere Risikolage betrifft laut IAB vor allem Solo-Selbstständige und Minijobs, unter anderem aufgrund der schlechten sozialen Absicherung und des erhöhten Arbeitslosigkeitsrisikos. Auch Eurofound schreibt, dass die Wahrscheinlichkeit, während der Corona-Krise arbeitslos zu werden, für Solo-Selbstständige (13 Prozent) deutlich größer war als für unselbstständig Beschäftigte (8 Prozent) und Selbstständige mit ArbeitnehmerInnen (2,3 Prozent).

Fehlende Absicherung im Fall von Arbeitslosigkeit

Diese alarmierenden Befunde werfen die Frage auf, was wir über die Verteilungszusammenhänge in Österreich wissen, nicht zuletzt, weil eine gute Kenntnis der Situation wichtig ist für eine gelungene, im Sinne von effektiver und nachhaltiger Krisenbewältigung. Die von uns befragten ExpertInnen teilen die Beobachtung, dass die Situation der Solo-Selbstständigen besondere Aufmerksamkeit verdient. Hoch problematisch ist, dass nur ein Bruchteil der Selbstständigen arbeitslosenversichert ist (Der „Standard“ berichtet von insgesamt 813 freiwillig arbeitslosenversicherten Selbstständigen im Jahr 2016). Ein Grund dafür ist die Freiwilligkeit der Versicherungsleistung, ein zweiter Grund liegt in den für Solo-Selbstständige ungünstigen Konditionen. So kann man nur alle acht Jahre bei- bzw. austreten. Für die Dauer der Mitgliedschaft bleiben Änderungen der Beschäftigungssituation unberücksichtigt. Versicherte, die einen ständigen Wechsel von Auftragslagen erleben, haben keinen Spielraum. Für viele Solo-Selbstständige scheint diese Einrichtung daher wenig praktikabel bzw. zu kostspielig zu sein.

Mangelnde Interessenvertretung

Ein zweites Problem ist die ungeklärte Interessenvertretung. Solo-Selbstständige sind aus formalen Gründen Mitglieder der Wirtschaftskammer, sie bilden aber nicht deren Kern-Klientel. Zentrale Services wie Beratungsleistungen werden vielmehr durch die von ÖGB und AK gemeinsam eingerichtete Flexpower-Beratung wahrgenommen. Damit kommt zum Ausdruck, dass nicht der formale Erwerbsstatus zählt, wenn es um Angelegenheiten der Interessenvertretung geht, sondern um Bedürfnisse und Problemlagen. Solo-Selbstständige mit hoher Abhängigkeit von einem oder wenigen Auftraggebern teilen Probleme von unselbstständig Beschäftigten, insofern wenden sie sich an deren Interessenvertretung. Die Vertretungslücke wurde in der Krise deutlich, als im Frühjahr 2020 eine Bottom-up-Initiative entstand, um den Selbstständigen eine Stimme zu geben: die Facebook-Gruppe „EPU Österreich – gemeinsam durch die Corona-Krise“, gegründet von Sonja Lauterbach.

Geringes Einkommen

Ein drittes Problem, das durch die Corona-Krise in den Vordergrund geriet, betrifft nicht nur Solo-Selbstständige, sondern auch geringfügig Beschäftigte und freie DienstnehmerInnen – das Problem (extrem) geringer Verdienste. Zwar sind sie sozial- und krankenversichert, jedoch ist das Einkommen zu gering, sowohl um davon den Lebensunterhalt zu bestreiten als auch um für die Alterspension vorzusorgen. Die durch die aktuelle Krise verursachten sozialen und ökonomischen Missstände motivieren also wieder die Forderung nach Mindestlöhnen einerseits und andererseits die breite Absicherung durch ein institutionelles Netz, auf das sich Erwerbstätige verlassen können.

Welche Lehren kann man aus der Krise ziehen?

Neue atypisch Beschäftigte bleiben in vielfacher Hinsicht im Dunkeln: Sie können in herkömmlichen Erhebungen nur schwer quantitativ erfasst werden, nicht versicherte Solo-Selbstständige entfallen der Arbeitslosenstatistik, und atypisch Beschäftigten fehlt es oft an entsprechender Repräsentation. Die Krise führt allerdings vor Augen, dass die Trennung zwischen jenen, die innerhalb des Systems sozialer Sicherung stehen, und denen außerhalb (auf sich selbst, Haushalt, Rücklagen, Vermögen angewiesen) dramatische Folgen für Einzelne haben kann. Die Frage ist: Welche Lehre zieht man aus der Corona-Krise?

Bisherige finanzielle Hilfeleistungen und Instrumente waren punktuelle Interventionen. Unabhängig von der Wirksamkeit dieser Instrumente besteht die Frage: Wie geht es nach der Krise weiter, wenn diese Zahlungen/Unterstützungen auslaufen? Die Entwicklungen früherer Krisen lassen vermuten, dass atypische Beschäftigung den Arbeitsmarkt nach der Corona-Krise vermutlich mehr als vorher prägen wird. Nordic Co-operation weist beispielsweise darauf hin, dass eine lang anhaltende Krise und hohe Arbeitslosigkeit zu einem Anstieg von plattformbasierten Arbeiten führen könnte. Unabhängig davon, ob diese Prognose eintrifft, müssen nachhaltigere und zukunftsfähigere Lösungen für die Absicherung von neuen atypisch Selbstständigen geschaffen werden. Für einen Teil der Selbstständigen ist nicht nur die Integration in die Arbeitslosenversicherung eine existenzielle Frage, sondern auch die Höhe und Unsicherheit ihrer Einkommen. Es müssen daher jetzt die Rahmenbedingungen geschaffen werden, damit, wie EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen betonte, „neue Beschäftigungsformen nicht zum Synonym für prekäre Lebenssituationen werden“.

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