Auf europäischer Ebene gibt es schon seit einigen Jahren eine öffentliche Debatte über die rechtlichen Rahmenbedingungen von Plattformarbeit. Gerade im Zuge der COVID-19-Pandemie, wo sowohl Restaurants als auch große Teile des stationären Handels geschlossen sind, haben Online-Plattformen an Bedeutung gewonnen. Zugleich hat die Pandemie auch die vielfach prekären Beschäftigungsverhältnisse von Plattformarbeiter*innen sichtbar gemacht. Die Europäische Kommission arbeitet derzeit an einer Initiative zur Anpassung des EU-Wettbewerbsrechts. Die Initiative sieht vor, dass künftig Tarifverhandlungen nicht mehr nur für Arbeitnehmer*innen, sondern auch für schutzbedürftige Selbstständige möglich sein sollen.
EU-Kommission: Recht auf Tarifverhandlungen für Selbstständige
Arbeit, die über Online-Plattformen vermittelt wird, hat sich in den letzten Jahren stark verändert und umfasst die unterschiedlichsten Dienstleistungen. Dabei wird vor allem zwischen Dienstleistungen unterschieden, die online erbracht werden, und Dienstleistungen, die online vermittelt, aber vor Ort und persönlich erbracht werden. Plattformarbeit ist nicht an nationale Grenzen gebunden, weshalb eine Regulierung auf europäischer Ebene mehr als notwendig ist. Die EU-Kommission hat sich bereits bei ihrem Amtsantritt im Sommer 2019 dazu verpflichtet, die Arbeitsbedingungen von Plattformbeschäftigten zu verbessern und einen rechtlichen Rahmen zu schaffen. Ein Legislativvorschlag zur Plattformarbeit ist noch für dieses Jahr vorgesehen. In diesem Kontext hat die Kommission nun eine Initiative über die Anpassung des Anwendungsbereichs der EU-Wettbewerbsregeln für Selbstständige veröffentlicht. Die Initiative sieht vor, dass Selbstständige – darunter fallen auch scheinselbstständige Plattformarbeiter*innen – unter gewissen Bedingungen das Recht auf Tarifverhandlungen haben sollen.
Hintergrund der Initiative ist, dass in der EU Vereinbarungen zwischen Unternehmen, die eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs innerhalb des EU-Binnenmarkts bezwecken oder bewirken, verboten sind. Da Selbstständige formal als Unternehmen gelten, würden Vereinbarungen, die sie schließen, unter die EU-Wettbewerbsvorschriften fallen. Zu solchen Vereinbarungen zählen auch Tarifverhandlungen. Die EU-Kommission möchte nun prüfen, unter welchen Bedingungen Tarifverhandlungen für Selbstständige dennoch möglich sind.
Problem: Scheinselbstständigkeit
Plattformbeschäftigte befinden sich in einer Grauzone zwischen abhängiger und (schein)selbstständiger Beschäftigung. Sie sind zumeist zwar formal selbstständig, weisen jedoch häufig Merkmale einer unselbstständigen Beschäftigung auf – wie etwa fixe Arbeitszeiten oder die Pflicht, Aufträge zu übernehmen. Sie haben außerdem kein Recht auf bezahlten Urlaub oder Entgeltfortzahlung bei Krankheit. Scheinselbstständige fallen aus dem Geltungsbereich von Arbeits- und Sozialrecht und befinden sich in einer wirtschaftlich abhängigen und sozial unsicheren Lage. Plattformbasierte Arbeitsorganisation auf selbstständiger Basis wird jedoch oftmals zum Schein gewählt, um den Sozialschutz, Steuergesetze und vor allem das Arbeitsrecht zu umgehen, was soziale Ungleichheiten und wirtschaftliche Abhängigkeiten noch zusätzlich verstärkt.
Der Ansatz der Europäischen Kommission, eine Ausnahme aus dem EU-Wettbewerbsrecht für Selbstständige, die de facto wirtschaftlich abhängig und daher auch Arbeitnehmer*innen gleichzustellen sind, ist grundsätzlich begrüßenswert. Dennoch geht die Initiative der Kommission am Kern des Problems vorbei. Ziel muss es nämlich vielmehr sein, die formal Selbstständigen – aber de facto Arbeitnehmer*innen – in aufrechte Arbeitsverhältnisse zu bringen, anstatt sie in ihrer Scheinselbstständigkeit zu stärken. Das grundlegende Problem, nämlich die Umgehung von Sozial- und Arbeitsrecht sowie Steuergesetzen, bleibt mit der Initiative ungelöst.
Plattformarbeit: Gerechte Lösungen und faire Regulierung
Um die Arbeitsbedingungen von Plattformarbeitnehmer*innen, die wirtschaftlich abhängig und schutzbedürftig sind, generell zu verbessern, braucht es gerechte Lösungen und eine faire Regulierung. Konkrete Vorschläge zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen von Plattformbeschäftigten gibt es schon lange. Ein Ansatz ist etwa die Neudefinition des Arbeitnehmer*innenbegriffs, der auch auf wirtschaftliche Elemente abstellt, oder eine Ausweitung jener Normen, die auf arbeitnehmer*innenähnliche Personen anzuwenden sind.
Für scheinselbstständige Plattformbeschäftigte sollen die gleichen rechtlichen Bestimmungen wie für Arbeitnehmer*innen des traditionellen Wirtschaftssektors gelten. Der Arbeitsrechtsexperte Martin Gruber-Risak schlägt daher – ähnlich der Leiharbeitsrichtlinie – eine Plattformarbeitsrichtlinie vor. Diese Richtlinie sieht etwa die Einführung einer rechtlichen Vermutungsregel vor, die feststellt, dass die vertragliche Beziehung zwischen Plattform und Arbeitnehmer*in einen Arbeitsvertrag darstellt. Plattformen sollen weiters dazu verpflichtet werden, den Beschäftigten schriftliche Informationen über das Arbeitsverhältnis zu übermitteln, und unfaire Vertragsklauseln (z. B. Konkurrenz- und Exklusivitätsklauseln) verboten werden. Es soll zudem das Arbeitsrecht jenes Ortes gelten, an dem die Arbeit physisch stattfindet. Zur Vermeidung von Lohndumping muss außerdem sichergestellt werden, dass Plattformarbeiter*innen gleich behandelt werden wie Beschäftigte des Unternehmens – dies gilt insbesondere für die Bezahlung. Auch die Zeit, in der Arbeitnehmer*innen nach Arbeitsaufgaben im Rahmen der Plattform suchen oder für diese auf Abruf stehen, soll als Arbeitszeit bewertet werden, wenn eine App ein sofortiges Annehmen verlangt (Such- und Stand-by-Zeiten als Arbeitszeit).
Die Kommission spricht mit ihrer Initiative nur einen wettbewerbs- bzw. kollektivvertraglichen Teilaspekt an. Das grundlegende Problem der mangelnden arbeits- und sozialrechtlichen Regulierung von Plattformarbeit bleibt ungelöst. Eine EU-weite Initiative zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen von scheinselbstständigen Plattformbeschäftigten sollte die Schaffung von sozial- und arbeitsrechtlichen Rahmenbedingungen prioritär behandeln.