Die COVID-19-Krise mit ihren Ausgangsbeschränkungen und behördlichen Geschäfts- und Restaurantschließungen machte die gesellschaftliche Bedeutung der Plattformökonomie für die Versorgung mit Gütern des täglichen Bedarfs sichtbar. Deutlich sichtbar wurden auch die Nachteile dieser hyperflexiblen Vermittlungsform mit oft prekärer Beschäftigung. Die Europäische Kommission steht vor einigen Herausforderungen angesichts disruptiver technologischer Entwicklungen und der zunehmenden Stellung von Plattformen als versorgungskritische Infrastrukturen. All das macht die Dringlichkeit sachgerechter und fairer Regulierung der Arbeitsbedingungen von Plattformbeschäftigten jedoch nur noch deutlicher.
Plattformarbeit – was ist das überhaupt?
Arbeit, die über Plattformen vermittelt wird, hat sich in den letzten Jahren stark verändert und umfasst nun sehr unterschiedliche Dienstleistungen. Unterschieden werden kann vor allem zwischen Arbeiten, die online (Crowdsourcing, Clickwork) erbracht werden, und solchen, die – online vermittelt – vor Ort und persönlich erbracht werden. Die Wirtschaftsform, die auf kurzfristigen, plattformbasierten Aufträgen basiert und in der Personen oft durch eine Vielzahl kleinteiliger Vertragsverhältnisse ihren Lebensunterhalt bestreiten, wird auch als Gig Economy bezeichnet. Plattformarbeit funktioniert als digitales Modell der Arbeitsorganisation und Leistungserbringung unabhängig von stationären Arbeits-, Güter- und Dienstleistungsmärkten. Eine Besonderheit dabei ist, dass überwiegend (vermeintlich) Selbstständige einzelne Leistungen für wechselnde Vertragspartner*innen auf Abruf (on demand) und im Rahmen eines dezentral und bedarfssynchron gesteuerten (Just-in-time-)Systems erbringen.
Die Entwicklung der Gig-Economy-Geschäftsmodelle wurde lange Zeit als Inbegriff digitaler Innovation wahrgenommen. Über Plattformen werden mittlerweile tatsächlich auch viele Aspekte des Alltags organisiert. Die Arbeit dahinter kann, so das dominante Narrativ, flexibel gestaltet und von der Lage und dem Volumen her an die Bedürfnisse der Plattformbeschäftigten angepasst werden. Jene, die via Plattformen tätig sind, zum Beispiel Datenbanken bereinigen und ordnen, Übersetzungsleistungen oder kreative Dienste erbringen, Reinigungsaufträge zugeteilt bekommen oder Pakete, Grundnahrungsmittel oder frisch Gekochtes zustellen sowie Personen durch die Stadt fahren, leisten ihre Arbeit unter rechtlich unklaren und sozial unsicheren Umständen. Der Handlungsbedarf ist klar gegeben, bestehende Gesetze auf neue Sachverhalte anzuwenden oder gänzlich neue Gesetze zu erlassen.
Rechtliche Unsicherheit und dringender Regulierungsbedarf
Gerade die Plattformwirtschaft reizt die Grauzonen zwischen rechtlich abhängiger und selbstständiger Beschäftigung aus. Damit fällt eine wachsende Gruppe von wirtschaftlich abhängigen Erwerbstätigen aus dem Geltungsbereich des Arbeitsrechts. Gewerkschaften äußern schon seit Jahren massive Bedenken hinsichtlich der Umgehung des Sozialschutzes, der Steuergesetze und vor allem des Arbeits- und Sozialrechts. Plattformen gehen undifferenziert davon aus, dass es sich bei den von ihnen „Beauftragten“ um Selbstständige handle. So kommen keine Mindestentgeltbestimmungen und Kollektiv- bzw. Tarifverträge zur Anwendung, die Entgelte sind niedrig, und es liegen massive Diskriminierungspotenziale durch den Einsatz algorithmischer (Rating-)Systeme vor. Zudem ist die Rechtsdurchsetzung aufgrund der grenzüberschreitenden Geschäftskonstruktionen sehr schwierig: Plattformen operieren zumeist in vielen Ländern gleichzeitig, die Zuständigkeit für Rechtsstreitigkeiten liegt jedoch beim Herkunftsland. Das Grundgefühl von Plattformbeschäftigten wird daher auch immer wieder als fremdbestimmt und ausgeliefert beschrieben.
Mittlerweile gibt es immer mehr zivilgesellschaftliche und politische Initiativen sowie auch zahlreiche Gerichtsentscheidungen. Dies hat jedoch zu einer fragmentarischen Rechtslage zwischen und innerhalb der europäischen Mitgliedstaaten geführt. Zuletzt hat das deutsche Bundesarbeitsgericht entschieden, dass die Durchführung von Kleinstaufträgen („Mikrojobs“), um die sich via Plattform auf Grundlage einer vom Plattformbetreiber getroffenen Rahmenvereinbarung beworben wird, rechtlich nicht als Soloselbstständigkeit, sondern als Arbeitsverhältnis zu qualifizieren ist. Diese Entscheidung gilt dann, wenn die Plattform eine betriebsähnliche Organisationsstruktur aufweist, in der Fremdbestimmung in Bezug auf Ort, Zeit und Inhalt der zu erbringenden Arbeit herrscht. In diese Richtung weisende, rechtspolitische Vorschläge zur Verbesserung von Rechtssicherheit und Arbeitsbedingungen liegen seit Längerem auf dem Tisch – ein aktueller Überblick findet sich im Grundlagenpapier Plattformarbeit der AK Wien.
Wohin geht der Weg in Europa?
Innerhalb der EU-Institutionen gibt es in jüngerer Zeit ein wachsendes Bewusstsein für Probleme, die mit der Plattformarbeit verbunden sind und auch einer rechtlichen Lösung zugeführt werden müssen. Es wurden Studien in Auftrag gegeben, die einerseits das Volumen dieses Wirtschaftsbereiches und andererseits auch die Arbeitsbedingungen erforschten und darstellen. Die zuletzt beschlossene arbeitsrechtliche Richtlinie über transparente und vorhersehbare Arbeitsbedingungen enthält in den Erwägungsgründen zumindest den Hinweis, dass Plattformbeschäftigte bei Erfüllung relevanter Kriterien als Arbeitnehmer*innen anzusehen sind. Direkt auf die Plattformwirtschaft bezogen ist die sogenannte Plattform-to-Business-(P2B-)Verordnung zur Förderung von Fairness und Transparenz für gewerbliche Nutzer*innen von Online-Vermittlungsdiensten. Sie erfasst jedoch nicht Arbeitnehmer*innen, sondern nur Selbstständige. Als zusätzliche Einschränkung ihres Wirkungsbereichs findet sie nur Anwendung, wenn sie Leistungen direkt an Konsument*innen erbringen. Damit ist das grundsätzliche Problem schlechter Arbeitsbedingungen in der Plattformbranche auf europarechtlicher Ebene weiterhin ungelöst.
Eine Änderung ist durchaus auf der politischen Agenda, das Thema findet sich auch in den Politischen Leitlinien für die Europäische Kommission 2019–2024 von deren Präsidentin von der Leyen:
„Der digitale Wandel bringt rasche Veränderungen mit sich, die sich auf unsere Arbeitsmärkte auswirken. Ich werde prüfen, wie die Arbeitsbedingungen von auf Online-Plattformen Beschäftigten verbessert werden können, insbesondere im Hinblick auf Kompetenzen und Bildung.“
Und auch der Mandatsbrief für den Kommissar für Beschäftigung und soziale Rechte, Nicolas Schmit, enthält einen solchen Passus. Dabei werden die Arbeitsbedingungen stärker in den Fokus gerückt:
„Würdige, transparente und verlässliche Arbeitsbedingungen sind für unser Wirtschaftsmodell von entscheidender Bedeutung. Ich möchte, dass Sie das bestehende EU-Recht in diesem Bereich aufmerksam verfolgen und durchsetzen und prüfen, wie sich die Arbeitsbedingungen von auf Online-Plattformen Beschäftigten verbessern lassen.“
Damit erscheint in den nächsten Jahren die Europäische Union als der Raum, in dem gesetzliche Initiativen zu erwarten sind. Es braucht auf diesem Weg aber immer noch entsprechende Überzeugungsarbeit. Mit ihrem Fahrplan „Improving working conditions of platform workers“ verspricht die EU-Kommission, im Jahr 2021 eine dahingehende legislative Initiative zu setzen. Diese weist aktuell noch in die Richtung, dass für die Gruppe der Plattform-Selbstständigen Ausnahmen aus dem EU-Wettbewerbsrecht geschaffen werden können, sodass diese ihre Arbeitsbedingungen kollektiv verhandeln können. Das wäre jedoch eine ausschließlich der Interessenlage der tatsächlich Selbstständigen angemessene Lösung, die wirtschaftlich unabhängig agieren und kontrahieren können.
Empfehlungen zur sachgerechten und fairen Regulierung von Plattformarbeit
Fest steht, dass für die wachsende Gruppe an schutzbedürftigen wirtschaftlich Abhängigen, die in der Plattformbranche tätig sind, eine andere, generelle Lösung gefunden werden muss. Diese kann entweder in einer Neudefinition des Arbeitnehmer*innen-Begriffes, der auch auf wirtschaftliche Elemente abstellt, gefunden werden oder durch eine Ausweitung jener Normen, die auf arbeitnehmer*innenähnliche Personen anzuwenden sind. Eine ausführliche Analyse des Status quo und der Regulierungspotenziale findet sich in einer Studie, die im Auftrag von AK Wien, ÖGB, ETUI und ETUC erarbeitet wurde.
Die bekannten plattformspezifischen Probleme rechtfertigen zudem eine besondere Regulierung auf EU-Ebene. Ähnliche Regelungen gibt es bereits, etwa zu unterschiedlichen Formen atypischer Arbeit in Form einer Plattformarbeits-Richtlinie (zuletzt die Leiharbeitsrichtlinie). Dabei sollte die (widerlegliche) Vermutung eines Arbeitsverhältnisses zur Plattform eine Kernbestimmung sein. Letztlich hat nämlich nur die Plattform als die Vertragspartnerin, bei der alle Fäden zusammenlaufen, die faktischen Möglichkeiten, Vertragsinhalte bzw. die gelebte Vertragspraxis nachzuweisen. In diesem Zusammenhang würde vieles auch für die Schaffung eines Indizienkataloges sprechen, der klare Kriterien festlegt, unter denen in der Plattformwirtschaft jedenfalls Arbeitsverhältnisse vorliegen. Diese gesetzlichen Maßnahmen würden auch – zumindest vorerst – eine Anknüpfung an das Arbeitsrecht und den Gerichtsstand des gewöhnlichen Arbeitsortes ermöglichen. In einer solchen spezifischen Plattformarbeits-Richtlinie wären dann auch einige weitere Aspekte zu regeln:
- Informationspflichten der Plattformen gegenüber ihren Beschäftigten, den Steuerbehörden und Sozialversicherungsträgern
- Equal-Pay- und Gleichbehandlungspflichten
- Definition von Such- und Stand-by-Zeiten als Arbeitszeit
- Fragen im Zusammenhang mit der Offenlegung, Richtigstellung und Übertragbarkeit von Ratings
- Klarstellung, dass die Plattform Fürsorgepflichten und Verantwortlichkeiten für Arbeitnehmer*innen-Schutz trifft