Gesundheit ist keine Ware! Für eine öffentliche, solidarische und europäische Gesundheitsstrategie

04. Juni 2020

Wer die Gesundheitspolitik bisher als neutrales Terrain betrachtet hat, auf dem sich die Medizin und andere Wissenschaften mit Expertisen überbieten und ideologische Differenzen keine Rolle spielen, wurde in den letzten Monaten Lügen gestraft. Die Corona-Krise zeigt: Unsere Gesundheit ist eine politische Angelegenheit. Betrachten wir Krankenhäuser als Unternehmen und Ärzt*innen als Dienstleister? Überlassen wir die Regulierung der Gesundheitssysteme der „unsichtbaren Hand des Marktes“? Diese Fragen gilt es nach der Pandemie mit all ihrer Dringlichkeit zu stellen. Und europäisch zu beantworten.

Ein krankes System

Überlastete Krankenhäuser, fehlende Beatmungsgeräte, Lieferengpässe bei Schutzmasken und zu wenige Test-Kits – in der Corona-Krise bricht ein System zusammen, das in vielen europäischen Ländern schon im Normalbetrieb vor dem Kollaps stand. Bereits Monate vor der Pandemie kam es in Frankreich zu landesweiten Streiks der Gesundheitsarbeiter*innen und Schließungen von Notaufnahmen, weil die Arbeitsbedingungen und Löhne seit Jahren unter massiver Unterfinanzierung leiden. 97 Prozent der französischen Krankenhäuser gaben Ende 2019 an, Schwierigkeiten bei der Besetzung freier Stellen zu haben. In Griechenland wurden im Zuge der Troika-Sparpolitik die öffentlichen Gesundheitsausgaben zwischen 2009 und 2016 halbiert. Ergebnis: 13.000 Ärzt*innen und 26.000 weitere Gesundheitsarbeiter*innen wurden aus dem Dienst entlassen, fast die Hälfte der Krankenhäuser musste schließen. Die Privatisierung der Krankenhäuser in Deutschland hat dazu geführt, dass nur noch rund 20 Prozent der Kliniken eine gesicherte Investitionsfinanzierung durch öffentliche Mittel vorweisen. Der Investitionsstau wird in Deutschland mit 50 Milliarden Euro beziffert.

Diese drastischen Einschnitte in einem der sensibelsten Bereiche der öffentlichen Daseinsvorsorge rächen sich in der Corona-Krise auf das Bitterste: Zwischen 2004 und 2014 ist die Zahl der Intensiv- und Notfallbetten in der EU um 11 Prozent gesunken. In Frankreich kommen auf 100.000 Einwohner*innen nur mehr 11,6 Intensivbetten, in Griechenland sogar nur sechs. Bedenkt man, wie sehr selbst das mit 12,5 Betten je 100.000 Einwohner*innen noch etwas besser ausgestattete Italien mit der Lage überfordert ist, wird die Dimension des versorgungstechnischen Notstands in Europa deutlich. 

Gesundheit vom Markt holen

Dass die öffentlichen Gesundheitssysteme in weiten Teilen der EU in einem desolaten Zustand sind, kommt nicht von ungefähr. Die politisch forcierte Privatisierung der öffentlichen Daseinsvorsorge in Europa hat auch vor der Gesundheitsversorgung nicht Halt gemacht, insbesondere in den von der Troika zu Liberalisierung und Sparpolitik gezwungenen Ländern. Aber auch in den übrigen Mitgliedstaaten zog sich der Staat seit den 2000er-Jahren immer mehr aus der Finanzierung der Gemeinschaftsaufgabe Gesundheit zurück. So entstand vielerorts ein unsolidarisches System, in dem private Ausgaben einen immer größeren Teil der Gesundheitskosten abdecken müssen. 2017 machten private Selbstzahlungen in Bulgarien 46,5 Prozent der nationalen Gesundheitsausgaben aus, in Zypern 44,6 Prozent. Und auch in Italien und Spanien ist der Anteil der privaten Selbstzahlungen mit jeweils 23,5 Prozent sehr hoch. In Deutschland rechnet die Bundesärztekammer damit, dass der Anteil der Privatfinanzierung an den Gesundheitsleistungen im Laufe der 2020er-Jahre von 12 Prozent auf bis zu 30 Prozent steigen wird.

Was in diesen liberalisierten Systemen gilt, ist das Gesetz des Marktes – in seiner schlimmsten Form: Gesundheit wird zur Ware, die für jene reserviert ist, die sie sich leisten können. Bei einer globalen Pandemie wie der Corona-Krise ist der fehlende Zugang zu Gesundheitsleistungen jedoch kein persönliches Problem der unmittelbar Betroffenen mehr, sondern ein zivilisatorisches Risiko für die gesamte Gesellschaft. Und selbst wenn eine universelle Notversorgung für alle Bürger*innen politisch versprochen wird, ist das Problem nicht gelöst: Wie soll eine flächendeckende und ausreichende Versorgung im Krisenfall finanziert werden, wenn über Jahre hinweg dringend notwendige Investitionen in öffentliche Strukturen zurückgestellt wurden, während die Gewinne in die Taschen privater Gesundheitsunternehmer*innen gewandert sind?

Gesundheits- und Wirtschaftskrisen werden so zu kommunizierenden Gefäßen: Der medizinische Notstand führt Volkswirtschaften in eine Rezession, die Kaufkraft der privaten Haushalte sinkt, und da die Gesundheitsversorgung in manchen Ländern fast zur Hälfte auf Privatzahlungen beruht, reduziert sich damit ihre Liquidität. Kollabiert das Gesundheitssystem, dann nimmt die Rezession weiter Fahrt auf – ein Teufelskreis.

Um solche Krisen zu vermeiden, muss unser Gesundheitssystem grundsätzlich drei Kriterien erfüllen: Es muss öffentlich zugänglich, für alle leistbar sowie solidarisch und solide finanziert sein. Wenn die Corona-Krise ein Gutes haben könnte, dann wäre es, dass diese Erkenntnis auch die politischen Entscheidungsträger*innen in den Mitgliedstaaten erreicht – und die Zeit nach der Krise dazu genutzt wird, die Lehren aus dieser Erkenntnis zu ziehen.

Europäische Antworten für europäische Probleme

Es muss also entschlossen gehandelt werden, um die fehlgeleitete Privatisierung zu beenden. Angesichts der internationalen Verflochtenheit von Wirtschaft und Gesellschaft, die der Corona-Pandemie eine globale Dimension gibt und auch die politische Krise der Europäischen Union wieder deutlich vor Augen führt – z. B. durch Grenzschließungen und fehlende Solidarität –, muss die Antwort eine europäische sein.

Bis dato hat sich die EU-Gesundheitspolitik auf die Definition von schädlichen Gefahrenstoffen, die Zulassung von Arzneimitteln und den Gesundheitsschutz – v. a. am Arbeitsplatz – beschränkt. Diese Bereiche können ein Ausgangspunkt für neue Koordinierungsverfahren werden, die neben regulativen Standards auch die Stabilität und Versorgungssicherheit der Gesundheitssysteme in den Blick nehmen.

Als erstes konkretes Projekt dieser gemeinschaftlichen Gesundheitspolitik könnten vorhandene Strukturen besser genutzt werden: Die Europäische Arzneimittelagentur sollte in Kooperation mit dem Europäischen Zentrum für die Prävention und Kontrolle von Krankheiten mit der Aufgabe betraut werden, in medizinischen Krisen Versorgungsengpässe zu verhindern. Mithilfe einer neuen Beschaffungskompetenz könnte die EU medizinische Ausrüstung erwerben und diese an Kompetenzzentren in den Mitgliedstaaten – z. B. Apotheken und Krankenhäuser – weiterverteilen. Der globale Überbietungswettbewerb und Hamsterkäufe durch einzelne Mitgliedstaaten, die zu Versorgungsengpässen bei anderen führen, würden somit verhindert. 

Eine Gesundheitsstrategie für Europa

Das blinde Vertrauen auf die „unsichtbare Hand des Marktes“, der bisher die alleinige Verteilungskompetenz zugeschrieben wurde, hat aber noch eine andere Fehlentwicklung hervorgebracht: Eine strategische medizinische Grundausstattung fehlt in der EU. Die europäische Pharmaindustrie hat sich durch Outsourcing in eine ungesunde Abhängigkeit von Arzneimittelgrundstoffen und Gesundheitsausrüstung aus Drittstaaten gebracht. Um dieser Entwicklung entgegenzuwirken, sollte auf europäischer Ebene die Kapitalverkehrsfreiheit bei feindlichen Übernahmen eingeschränkt werden: So kann verhindert werden, dass Konzerne und staatliche Akteure aus Drittstaaten strategisch wichtige Unternehmen in der EU aufkaufen. Bei Firmen wie beispielsweise CureVac, das auf gutem Wege ist, ein Gegenmittel bzw. einen Impfstoff gegen COVID-19 zu entwickeln, sollte rasch eine entsprechende europäische Strategie entwickelt werden, die Investitionen in Forschung und Entwicklung innerhalb der EU fördert und hält. Damit würde die Basis für ein solidarisches Krisenmanagement bereitet.

Spinnt man den Faden weiter, so geraten auch andere Handlungsfelder in den Blick: Eine krisenfeste Gesundheitsunion braucht europäische Mindeststandards für die finanzielle Ausstattung der öffentlichen Gesundheitswesen. Dies beinhaltet die gemeinschaftliche Festlegung verschiedener Indikatoren, u. a. hinsichtlich der Kapazitäten von Notaufnahmen und der Anzahl von Intensivbetten, sowie von Obergrenzen für den Anteil privater Zahlungen an den nationalen Gesundheitsausgaben. Auch strategische öffentliche Investitionen und staatliche Beteiligungen müssen gemeinsam vereinbart werden, um eine für alle in Europa lebenden Menschen zugängliche und leistbare Gesundheitsversorgung sicherzustellen.

Seit Inkrafttreten des Lissabon-Vertrags verfügt die EU mit dem Titel XIV des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (insbesondere Art. 168 AEUV) über eindeutige Kompetenzen in Bezug auf Koordinierung und ergänzende Maßnahmen im Gesundheitsbereich, auf deren Basis die vorgeschlagene Politik umgesetzt werden kann. Dass in Sachen strategische Gesundheitsinfrastruktur und krisenfestere Gesundheitswesen auch auf europäischer Ebene ein Umdenken einsetzt, hat zuletzt der deutsch-französische Vorstoß von Bundeskanzlerin Merkel und Präsident Macron bewiesen, der sich stark für mehr europäische Zusammenarbeit in diesem Feld ausspricht. Auch die Europäische Kommission hat Vorschläge zur europäischen Gesundheitsunion in ihr Recovery-Paket aufgenommen.

Das mikroskopisch kleine Sars-CoV-2-Virus zeigt klar auf: Die Europäische Union kann sich einen Ausverkauf der nationalen Gesundheitswesen nicht leisten. Wo die Gesundheit und Sicherheit aller Europäer*innen betroffen ist, müssen die Mitgliedstaaten gemeinsam handeln – denn eine Krise, die Europa als Ganzes betrifft, kann kein Land im Alleingang lösen. Die Corona-Pandemie mahnt zu schnellem und entschlossenem Vorgehen, damit sich Bilder wie die der Särge von Bergamo oder jene der völlig erschöpften und verzweifelten Beschäftigten in Spitälern niemals wiederholen.

Dieser Beitrag ist auch auf Social Europe (auf Englisch) und in Liaisons Sociales Europe (auf Französisch) erschienen.

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