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Machen wir es konkret
Im Jahr 2018 weitete die schwarz-blaue Bundesregierung die Höchstarbeitszeiten aus – Stichwort: 12-Stunden-Tag bzw. 60-Stunden-Woche. Mit einem Blick auf die sieben Kriterien des sozialpolitischen Kompasses wäre diese Idee eigentlich sofort zu verwerfen gewesen. Die Folgen waren doch unmittelbar absehbar, Expert:innen oder auch Betriebsräte haben auf die logischen Konsequenzen dieser Maßnahmen hingewiesen. Niemand kann daher ernsthaft überrascht sein, wenn wir heute feststellen, dass die Arbeitsbelastungen gestiegen sind, die Arbeitszufriedenheit ist jedoch massiv gesunken (vgl. Arbeitsklima Index der Arbeiterkammer Oberösterreich). Zusätzlich hat sich die Schieflage bei der Verteilung von bezahlter und unbezahlter Arbeit zwischen den Geschlechtern wohl eher verschärft – das zeigen uns die täglichen Beratungserfahrungen in der AK.
Auch im Bereich der „Teilhabe in der Gesellschaft“ musste das Zeugnis von vornherein negativ ausfallen: In der kurzen Frist schließt eine Ausweitung der Höchstarbeitszeiten arbeitsuchende Gruppen und bisher ungenutzte Potenziale tendenziell aus, in der langen Frist führt die gesundheitliche Überbeanspruchung zu erheblichen Ausgrenzungsrisiken für die dauerhaft Überstundenleistenden. Cui bono also? Ja, die Arbeitgeber hatten eine Freude – die von ihnen gewünschte „Flexibilität“ ist eingetreten, für die Vielen ist aber die Planbarkeit im Leben verloren gegangen und in den Familien ist die gute Vereinbarkeit von Beruf und Familie in noch weitere Ferne gerückt!
Es gibt wohl viele Beispiele in der sozialpolitischen Gestaltung der vergangenen Jahre, die den sieben Kriterien des sozialpolitischen Kompasses nicht gerecht werden. Einige umgesetzte „unsoziale“ Ideen sind im Buch „ABC des Unsozialen – Was sie sagen, was sie meinen“ beschrieben, andere Projekte sind zum Glück von engagierten Sozialpolitiker:innen innerhalb und außerhalb der Bundesregierung vereitelt worden.
Falsches Eigenlob verhindert Verbesserungen
Das neuerdings öfter formulierte Eigenlob der Bundesregierung – „die Regierung ist die sozialste Regierung seit Langem, seit Jahrzehnten, wenn man sich die Zahlen ansieht“ (vgl. „Pressestunde“ mit BM Kocher am 1.10.2023) – darf jedenfalls zu Recht in Frage gestellt werden. Wenn dann noch unterstützend – aber faktisch falsch! – ins Treffen geführt wird, jetzt (!) hätten wir in Österreich die höchste Sozialquote aller Zeiten, dann verwundert es nicht, dass Selbstzufriedenheit jeden Eifer für Verbesserungen des Status quo wohl im Keim erstickt.
Der Blick in die amtliche Statistik lohnt sich: Nach einem pandemiebedingten historischen Höchststand von 34 Prozent (2020) sinkt die Sozialquote wieder Richtung 30 Prozent (2022: 30,5 Prozent) und ist jedenfalls kein ausreichender Indikator für das „soziale“ oder „unsoziale“ Antlitz einer Regierung. Um Missverständnissen vorzubeugen, es wäre auch nicht zwingend sozial, stets „mehr“ zu fordern – im Sinne von „more of the same“ –, dagegen sprechen die bestehenden Mängel, Unzulänglichkeiten und föderalistischen „Blüten“ in Österreich.
Im Gegenteil: Sowohl hinsichtlich der Haltung und Rhetorik gegenüber den Menschen, die es in unserer Gesellschaft schwer haben, als auch bei der Neugewichtung von Budgets wird mehr Empathie und sozialpolitische Kompetenz vonnöten sein! Durch die aktive Einbindung aller relevanten Stakeholder – von Armutskonferenz bis Sozialpartner – würden die Ergebnisse sicher besser ausfallen als bisher.
Herausforderung: Wieder auf sozialen Kurs kommen
Wie optimistisch können wir nun in die Zukunft schauen? Es gibt glücklicherweise einige Argumente, die dafür sprechen, dass ein Kurswechsel zu einer progressiven Vision unserer Gesellschaft und unseres Zusammenlebens in Österreich und vielleicht auch in Europa gelingen kann. Die Hürden sind groß, aber dazu später.
Solide Fundamente
Eine gute Voraussetzung für eine progressive Sozialpolitik ist jedenfalls, dass der Sozialstaat in Österreich im Wesentlichen breit ausgebaut ist. Seine umfassenden Leistungen tragen enorm viel zur Umverteilung der Markteinkommen, zur Standortqualität, zum Abbau von Unsicherheit über den Lebenszyklus und zur Armutsvermeidung bei. Mehrere Kriseninstrumente – vor allem die Corona-Kurzarbeit und andere sozialpartnerschaftliche Lösungen – haben sich erneut bewährt, da auf Erfahrung und funktionierende Strukturen aufgebaut werden konnte. Mit diesem Fundament haben wir sehr solide und wesentliche Mechanismen im Sozialstaat, die (noch) funktionieren – das belegt auch die aktuelle Umverteilungsstudie des WIFO.
Lehren aus Krisen gezogen
Österreich und viele andere Länder scheinen aus den schlechten Erfahrungen der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 gelernt zu haben und deshalb setzten sie in der Pandemiebewältigung aus guten Gründen unmittelbar auf einen expansiven Ausgabenkurs.
Denn die ökonomischen und sozialen Narben einer verfehlten neoliberalen Spar- und Konsolidierungspolitik blieben lange Jahre stark sichtbar und schmerzlich in Erinnerung, dass dieses Mal im Krisenlösungsmodus synchronem Sparen und damit einer noch stärkeren ökonomischen Vollbremsung eine klare Absage erteilt wurde. Darauf lässt sich auch in Zukunft aufbauen – selbst wenn die Fiskalregeln, die bis Jahresende 2023 folgerichtig außer Kraft gesetzt wurden, in Debatten und in der wirtschaftspolitischen Steuerung wieder relevanter werden.
Wieder Vorbild werden
Österreich kennt in vielen Bereichen seine Stärken und Schwächen seit Jahren ziemlich gut – ja, selbst wenn Standardberichte wie der „Sozialbericht“ oder die Zeitverwendungsstudie längst überfällig sind. Glücklicherweise gibt es zwischenzeitlich auch gute „Brückenformate“ von AK und Sozialministerium.
Der Blick über den Tellerrand und die Orientierung an anderen Ländern kann uns sicher helfen, mit Herausforderungen künftig noch besser umzugehen. Die gute Nachricht dabei: Die Zukunft ist gestaltbar und das sollte uns anspornen, besser zu werden und auf internationale Referenzmodelle zu schauen bzw. selbst wieder zum sozialen Leuchtturm und Vorbild zu werden.
Aus heutiger Sicht weist vieles darauf hin, dass sich die Vorzeigeländer eher im europäischen Norden finden. Aber selbst dort ist nicht alles Gold, was glänzt. Der kritische Blick auf die Details schadet bekanntlich nie – auch dort hat sich der Staat zum Teil aus seiner Verantwortung zurückgezogen und soziale Risiken „privatisiert“.
Menschen wollen Besseres
Wir kennen die Präferenzen der Menschen ziemlich genau: Sie wollen eine bessere soziale Absicherung, sie wollen mehr Planbarkeit im Leben und verlässliche Haltegriffe für die schwierigen Situationen im Leben. Somit ist die Hinwendung zu Vorbildern nicht nur visionär, sie würde auch den Bedürfnissen und Bedarfen der Vielen gerecht werden.
Das waren jetzt bereits einige Argumente, warum und wie wir vielleicht den Status quo in der Gesellschaft und das soziale Gefüge resilienter machen können. Aber ob es wirklich gelingen wird und kann, hängt davon ab, ob wir die Hindernisse für sozialen Fortschritt als solche rasch anerkennen und überwinden kennen.
Hürden für Fortschritt abbauen
Keineswegs darüber hinwegsehen können wir, dass der soziale Zusammenhalt nunmehr deutlich schlechter ausgeprägt ist als in der Vergangenheit und die Solidaritätsbänder in der Gesellschaft durch die breit gepflogene Spaltungsrhetorik sicher dünner als dicker geworden sind. Auch Budgetverschiebungen bzw. Mittelkürzungen haben die soziale Sicherheit in Österreich ausgehöhlt.
Ja, das soziale Netz hat bereits auch substanzielle Lücken, die nicht zu beschönigen und zum Teil hartnäckig hoch sind: Diese reichen von der zu geringen Absicherung durch ein im europäischen Vergleich niedriges Arbeitslosengeld, über strukturelle Armutsrisiken, die hohe Belastung von Alleinerzieherinnen, Versorgungslücken bei der medizinischen und beruflichen Rehabilitation bis hin zu mangelnder Unterstützung für Solo-Selbstständige.
Sozialschutz: zu erwerbszentriert
Insgesamt liegt bei der sozialen Absicherung hierzulande der Fokus nach wie vor zu stark auf Geldleistungen, und diese werden oft vom aktiven Erwerbseinkommen abgeleitet. Ausbaupotenziale gibt es unter anderem im Bereich der sozialen Infrastruktur (von der Elementarbildung bis zur Pflege). Mit der derzeitigen Ausgestaltung werden die Schieflagen in der Arbeitswelt reproduziert und wir finden dort wieder beides nebeneinander – gute Absicherung und bedarfsgerechte Versorgung auf der einen, Risiken für ein Abrutschen in Existenz- und Zukunftsängste auf der anderen Seite.
Der Großteil der Finanzierung der sozialen Sicherheit hängt an der Lohnsumme. Somit steht jedenfalls fest, dass die Mittelaufbringung für eine bessere soziale Absicherung in Österreich mehr Fairness und Gerechtigkeit braucht. Höhere Sozial- und Bildungsbudgets, die auch verstärkt aus vermögensbezogenen Abgaben finanziert werden sollten, würden viel Druck aus dem System nehmen.
Rollenbilder rückschrittlich
Es wird sicher auch nicht leicht werden, sich glaubwürdig von neokonservativen Rückschritten vergangener Jahre entschieden zu emanzipieren. Oft kommen zu kritischen Befunden zum Thema Gleichstellung reflexartige Gegenfragen: „Gibt es gar keinen Fortschritt? Haben wir nicht genug an Frauenförderung unternommen? Oder: Reicht es nicht, wenn wir geschlechtssensibler als früher reden und schreiben?“ Der Blick auf den Gender-Pay-Gap gibt die glasklare Antwort: Nein. In fast allen EU-Ländern ist dieser Einkommensunterschied geringer – in Luxemburg sind die Stundenverdienste der Frauen sogar höher als jene der Männer.
Analysiert man die Regierungsprogramme der vergangenen Jahr(zehnt)e, so bestätigt sich der Eindruck: Da gibt es keinen großen Wunsch der „mächtigen“ Männer nach Veränderung. Da wird der „Familienbonus“ – konstruiert als steuerlicher Absetzbetrag, der eher Männern durch ihr höheres Einkommen als deren Familien zugutekommt – oder „Pflege-daheim-Bonus“ als vermeintlicher Fortschritt beschworen. Tatsächlich steckt hinter dem vermeintlichen Wohlfühlbegriff „Bonus“ der frauenpolitische Rückschritt und die sprachliche Verschleierung einer „Frauen-zurück-an-den-Herd“-Politik. Auch der Zynismus gegenüber teilzeitbeschäftigten Frauen und unnötige Anreizdiskurse sind entbehrlich und tragen nichts zu frauenpolitischen Aufholschritten bei.
Strukturpolitik und Innovation: zu spät und zu unambitioniert
Erschreckend ist auch der Befund, dass es in Österreich seitens der Bundesregierung im Grunde keinen glaubwürdigen „Masterplan“ für die „Twin Transition“ gibt – also den sozial-ökologischen Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft und die fortschreitende Digitalisierung breiter Lebensbereiche. Auch hier könnte auf Leitlinien der AK und Konzepte des ÖGB zurückgegriffen werden – vorerst muss man sich eher mit einem „Klein-Klein“ als Beobachter der standortpolitischen Bühne begnügen.
Für jene Branchen, die von Strukturwandel und Dekarbonisierung besonders stark betroffen sind, braucht es konkrete Veränderungsperspektiven und nachhaltige Visionen über eine Neuaufstellung ganzer Sektoren. Dafür brauchen wir mehr konkrete, anwendungsorientierte (Begleit-)Forschung, um diesen Übergang zu gestalten, im Sinne eines Just-Transition-Prozesses. Das geht von der Neuausrichtung zu nachhaltigeren Wertschöpfungsketten bis hin zu „Berufswanderkarten“, die den Beschäftigten in diesen Branchen Orientierung bieten und eine kohärente Abstimmung der institutionellen Akteur:innen (v. a. Arbeitsmarktpolitik) und auch Bildungseinrichtungen ermöglichen.
Gestaltungsoptimismus sollte trotzdem Trumpf bleiben!
Mit analytischem Blick auf das aktuelle Bundesbudget bleibt noch vieles „verpeilt“! Die Schieflagen und Ungerechtigkeiten bleiben in Österreich mannigfaltig. Diese reichen von einer immensen Vermögenskonzentration, einer großen Schere in der Einkommensverteilung, hoher Bildungsvererbung bis hin zu Blockaden beim Abbau der Ungleichheiten oder dem Nicht-Handeln im Bereich des sozial-ökologischen Umbaus von Wirtschaft und Gesellschaft.
Allgemein ist sicher, dass sich u. a. entlang des einleitend beschriebenen „Kompasses für gesellschaftlichen Fortschritt“ sämtliche Maßnahmen und Vorschläge dahingehend leicht bewerten lassen, ob sie dem sozialen Zusammenhalt und dem Fortschritt der Gesellschaft dienen – oder auch nicht! Die sieben verbindlichen Wegweiser helfen jedenfalls, rasch zu entscheiden und die Neuausrichtung für eine sozialere Politikgestaltung in Österreich glaubhaft und kohärent neu anzugehen. Alles schwierig, aber möglich!
Auf einigen Erfahrungen der multiplen Krisen können wir vielleicht sogar gut aufbauen und die Resilienz der Gesellschaft und der Gesamtwirtschaft wieder erhöhen. Es gibt glücklicherweise auch neue analytische „Anker“ – von Studien der AK, der EU-Kommission, von OECD bis zum WIFO. Viele sind sich – zumindest in den Zielbestimmungen – darin einig: Die soziale Frage braucht soziale Antworten! Einige dieser Antworten liegen klar auf der Hand: Mit dem Projekt „So muss Sozialstaat“ haben wir kurz- und mittelfristig machbare Optionen für einen besseren Sozialstaat zusammengetragen und bleiben gestaltungsoptimistisch. Möge die Politik in Europa und Österreich endlich eine klare soziale Peilung finden!
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