Der Mythos von der „Teilzeitfalle“ im Steuer- und Abgabensystem

15. März 2023

Unternehmensvertreter:innen und ihnen nahestehende Think-Tanks behaupten, dass die hohe Teilzeitquote in Österreich durch eine „Teilzeitfalle“ im Steuer- und Abgabensystem bedingt sei, zuletzt zum Beispiel die Agenda Austria. Ein genauerer Blick zeigt, dass die Analyse an der Realität der Beschäftigten vorbeigeht. Die empfohlenen Maßnahmen stellen nicht nur keine Lösung für den Arbeitskräftebedarf der Wirtschaft dar, sondern bringen die große Gefahr einer weiteren Steigerung der Ungleichheit mit sich. Sinnvoller ist eine Politik, die Vollzeit ermöglicht, wo auch die Arbeitgeber in der Pflicht stehen.

Hohe Steuern auf Arbeit: der feine Unterschied

Das Kernargument von Agenda Austria & Co ist, dass es sich in Österreich nicht lohnen würde, die Arbeitsstunden auszuweiten. Steuern und Abgaben, die mit dem Einkommen steigen (sogenannte Grenzabgabenbelastung oder „Steuerprogression“), würden zu wenig netto übrig lassen. Insbesondere dann, wenn noch Kinderbetreuungskosten dazukommen.

Es ist wichtig, diese Kritik von der arbeitnehmer:innenseitigen Kritik an den hohen Steuern auf Arbeitseinkommen zu unterscheiden. Während Arbeiterkammer und Gewerkschaften die Arbeitseinkommen durch eine Steuerstrukturreform (höhere Steuern auf Vermögen, niedrigere Steuern auf Arbeit) entlang der Steuerprogression entlasten wollen, bezieht sich die Kritik der Agenda Austria auf die Steuerprogression selbst, die sie (erheblich) abschwächen will. Ihre jüngsten Vorschläge laufen auf nichts anderes als eine höhere Abgabenbelastung für kleine Einkommen und eine niedrigere Abgabenbelastung für mittlere und hohe Einkommen hinaus. Dadurch soll es attraktiv(er) werden, von Teilzeit auf Vollzeit zu wechseln.

Eine schwächere Steuerprogression heißt Umverteilung von unten nach oben

Es ist weitgehend auszuschließen, dass eine Schwächung der Steuerprogression die Teilzeitbeschäftigten dazu bringt, in Massen Richtung Vollzeit zu wechseln. Dafür ist der Effekt der Steuern und Abgaben auf das Arbeitsangebot viel zu klein (dazu später noch mehr). Der sichere Effekt wäre aber eine Umverteilung von unten nach oben: einerseits direkt, weil kleine Einkommen mehr zum Steueraufkommen beitragen müssen, während mittlere und hohe Einkommen weniger beitragen; und andererseits indirekt, weil die Vorschläge dem Sozialstaat netto Milliarden an Steuereinnahmen jährlich entziehen würden, was unweigerlich zu Sparpaketen und Leistungskürzungen führen würde. Das trifft wiederum die kleinen und mittleren Einkommen härter. Für diese Erkenntnis braucht es nur einen Blick in die WIFO-Studie „Umverteilung durch den Staat“.

Teilzeitfalle im Abgabensystem – ein Mythos

Im internationalen Vergleich deutet nichts darauf hin, dass die hohe Teilzeitquote in Österreich irgendetwas mit dem Abgabensystem zu tun haben könnte. In einem OECD-Vergleich mit 38 Staaten liegt Österreich bei der für die Stunden-Entscheidung relevanten Grenzabgabenbelastung in den meisten Konstellationen im OECD-Durchschnitt oder darunter, hat also eine durchschnittliche oder geringere Grenzabgabenbelastung als der Durchschnitt der OECD-Staaten (siehe Grafik). Nennenswert höher liegt Österreich nur in der Konstellation „Single mit durchschnittlichem Stundenverdienst“ (zufällig jene Konstellation, die die Agenda Austria für ihre Medienarbeit verwendet).

Dekoratives Bild © A&W Blog
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Die tatsächlichen Gründe für Teilzeit

Die Debatte über die (angebliche) „Teilzeitfalle“ im Abgabensystem ist auch deshalb ärgerlich, weil sie den Blick auf die wahren Gründe für Teilzeit verstellt. Ein gutes Drittel der Teilzeitbeschäftigten arbeitet Teilzeit wegen der Betreuung von Kindern oder pflegebedürftigen Angehörigen. Bei den Frauen liegt der Anteil sogar bei über 40 Prozent. Ein weiteres knappes Drittel arbeitet Teilzeit aufgrund anderer Restriktionen (Ausbildung, keine Vollzeitstelle verfügbar, Krankheit etc.). Nur 28 Prozent wollen keinen Vollzeitjob oder führen „persönliche Gründe“ für Teilzeit an. Wenn man bedenkt, dass verfügbare ganztägige Kinderbetreuungseinrichtungen teilweise bewusst nicht zur Gänze ausgeschöpft werden, um mehr Zeit mit den eigenen Kindern zu haben, kann man vielleicht bei einem Drittel der Teilzeitbeschäftigten von „freiwilliger“ Teilzeit sprechen. Damit geht die Debatte an der Arbeits- und Lebensrealität der Masse der Teilzeitbeschäftigten, vor allem der Frauen, komplett vorbei.

Dekoratives Bild © A&W Blog
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Steuerliche Anreize – begrenzte Rolle, begrenzte Wirkung

Welche Effekte haben Steuern und Abgaben auf das Arbeitsangebot? Wenn Ökonom:innen über diese Frage nachdenken, unterscheiden sie zwei Kanäle:

  1. die Entscheidung, überhaupt zu arbeiten (Partizipationsentscheidung), und
  2. die Entscheidung über das Stundenausmaß (Stunden-Entscheidung).

Für die Partizipationsentscheidung ist die sogenannte Durchschnittsabgabenbelastung relevant, also wie viel Steuern und Abgaben man relativ zum Einkommen bezahlen muss. Für die Stunden-Entscheidung ist die Grenzabgabenbelastung relevant, also um wie viel die Steuern und Abgaben steigen, wenn das Einkommen steigt.

Während sich die Relevanz der Stunden-Entscheidung im Wesentlichen auf den Bereich der freiwilligen Teilzeit konzentriert, weil nur dort überhaupt die Möglichkeit besteht, die Stunden auszuweiten, ist die Partizipationsentscheidung für alle Teilzeitbeschäftigten relevant. Eine höhere Abgabenbelastung für Teilzeitbeschäftigte – z. B. die von der Agenda Austria empfohlene Streichung der Geringverdiener-Ermäßigung bei den Arbeitslosenversicherungsbeiträgen – könnte demnach nicht nur die Anreize zur Ausweitung der Wochenstunden erhöhen, sondern auch jene, überhaupt zu arbeiten, reduzieren. In vielen empirischen Untersuchungen ist der Partizipationseffekt höher als der Stunden-Effekt. Höhere Abgaben für Teilzeitbeschäftigte könnten also auch zu einem (nicht intendierten) Rückgang des Arbeitsangebots führen. Der Netto-Effekt ist a priori schwer bestimmbar. Besonders für den spezifischen österreichischen Fall scheint ein negativer Gesamteffekt nicht unwahrscheinlich, weil sich mögliche positive Effekte über den Stundenkanal auf das „freiwillige“ Drittel der Teilzeitbeschäftigten beschränken, während mögliche negative Effekte über den Partizipationskanal deutlich breiter wirksam werden könnten.

Ist von Steuersenkungen für Mittel- und Besserverdiener:innen – wie sie die Agenda Austria ebenfalls fordert – mehr zu erwarten? Nicht unbedingt. Während viele Teilzeitbeschäftigte mehr arbeiten wollen, wollen viele Vollzeitbeschäftigte Stunden reduzieren. Wenn nun Vollzeit entlastet wird, kann das dazu führen, dass Vollzeitbeschäftigte ihre Überstunden oder sogar Normalstunden reduzieren, weil sie mit weniger Stunden auf das gleiche Netto kommen wie zuvor (sogenannter Einkommenseffekt). Dieser negative Stunden-Effekt bei den Vollzeitbeschäftigten könnte den positiven Stunden-Effekt bei den Teilzeitbeschäftigten – wo viele mehr arbeiten wollen – konterkarieren. Vor allem wenn man bedenkt, dass viele Teilzeitbeschäftigte zwar mehr arbeiten wollen, oft aber nicht können (siehe oben). Eine Ausweitung ganztägiger Kinderbetreuungseinrichtungen von staatlicher Seite würde den Möglichkeitenraum für steuerliche Anreize natürlich erhöhen – bislang ist er aber sehr gering.

Steuersenkungen können den Arbeitskräftebedarf nicht decken

Die Wirkungskanäle zwischen Abgaben und Arbeitsangebot sind komplex und unsicher. Alle empirischen Untersuchungen zeigen aber eindeutig, dass der Effekt von Abgabensenkungen auf das Arbeitsangebot überschaubar ist und diese damit keine ernst zu nehmende Option zur Deckung des Arbeitskräftebedarfs darstellen. Für die Steuerreform 2016 (5 Mrd. Euro bzw. 1,4 Prozent des BIP) fanden die österreichischen Ökonom:innen Sandra Mühlbacher und Wolfgang Nagl z. B. einen Arbeitsangebotseffekt von 12.675 Vollzeitäquivalenten. Das WIFO war in seiner Analyse noch wesentlich pessimistischer. Angesichts von etwa 200.000 offenen Stellen sollte offensichtlich sein, dass mit Abgabensenkungen – egal wie sie ausgestaltet sind – das Arbeitskräfteproblem nicht zu lösen ist.

Notwendig ist eine Politik, die Vollzeit ermöglicht

Es steht außer Frage, dass die hohe Teilzeitquote in Österreich Probleme mit sich bringt, vor allem für die Frauen. Eine Reduktion stellt auch ein wichtiges Potenzial zur Deckung des volkswirtschaftlichen Arbeitskräftebedarfs dar. Die Lösung des Problems ist aber nicht eine Abschwächung der Steuerprogression, wie sie Agenda Austria fordert, sondern eine Politik, die Vollzeit überhaupt erst ermöglicht. Wenn man bedenkt, dass ein großer Teil der Teilzeitbeschäftigten eigentlich mehr arbeiten will, aber nicht kann, ist es doch geradezu grotesk, jene Minderheit der Teilzeitbeschäftigten, die nicht mehr arbeiten will und „freiwillig“ in Teilzeit ist, mit irgendwelchen steuerlichen Anreizen zur Mehrarbeit bewegen zu wollen. Die bessere Herangehensweise ist ganz klar, sich auf jene zu konzentrieren, bei denen die persönlichen und die gesamtwirtschaftlichen Bedürfnisse zusammenpassen.

Eine nachhaltige Strategie zur Deckung des Arbeitskräftebedarfs muss sich an den Bedürfnissen der (Teilzeit-)Beschäftigten orientieren und den Fokus auf die notwendigen Voraussetzungen legen, die es braucht, damit Teilzeitbeschäftigte Stunden aufstocken oder in Vollzeit wechseln können. Dabei geht es nicht nur um den Ausbau der ganztägigen Kinderbetreuungsangebote, sondern um viele andere Faktoren. Insbesondere auch um eine gesellschaftliche Diskussion über Geschlechterrollen und eine faire Aufteilung der Hausarbeit in den Familien. Auch die Arbeitgeber tragen Verantwortung. Viel zu oft werden nur Teilzeitjobs ausgeschrieben und dann schlecht bezahlt. Hier braucht es ein Umdenken. Anstatt eine „Teilzeitfalle“ im Abgabensystem zu konstruieren, um über (wenig zielgerichtete) Steuersenkungen das Problem an die Allgemeinheit auszulagern, sollte endlich begonnen werden, die eigenen Hausaufgaben zu machen.

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