Warum der internationale Vergleich von Abgabenquoten häufig in die Irre führt

12. Dezember 2022

Oft wird die niedrige Abgabenquote in der Schweiz als Beleg dafür verwendet, dass ein guter Sozialstaat zu deutlich geringeren Kosten als in Österreich zu haben ist. Das ist irreführend, weil die Abgabenquote im Bereich der Sozialversicherung nur Beiträge an staatliche Träger beinhaltet. (Quasi-)Verpflichtende Sozialbeiträge an private Träger von Pensions- und Krankenversicherungen werden hingegen nicht erfasst. Das verzerrt internationale Vergleiche, insbesondere jene mit der Schweiz.

Die Irrtümer mit der Abgabenquote

Die Abgabenquote zeigt an, wieviel „der Staat“ den Steuer- und Abgabepflichtigen „kostet“. Die Abgabenquote ist dabei als Bruttobelastung zu verstehen, weil der überwiegende Großteil der Ressourcen, die dem Privatsektor zunächst entzogen werden, über Subventionen, Transfers oder öffentliche Aufträge wieder an diesen zurückfließt, also kein endgültiger Ressourcenverzicht vorliegt. Implizit steht die Abgabenquote daher auch für ein gewisses staatliches oder quasistaatliches „Leistungsniveau“, insbesondere in den sozialstaatlichen Kernbereichen Gesundheit und soziale Sicherheit, die üblicherweise das Gros der öffentlichen Ausgaben ausmachen. Eine niedrige Abgabenquote im Mehrländervergleich könnte daher zum Schluss verleiten, dass der betreffende Staat ein schlecht ausgebautes staatliches Leistungsniveau aufweist oder aber ein gut ausgebautes Leistungsniveau besonders günstig bzw. effizient erbringt.

Die Definition der Abgabenquote und ihre Unschärfen

Die Abgabenquote wird durch eine Division der Summe des gesamtwirtschaftlichen Steueraufkommens durch das Bruttoinlandsprodukt ermittelt. Steuern werden als staatliche Zwangsabgaben ohne Gegenleistung verstanden. Sozialversicherungsbeiträge werden Steuern gleichgestellt, wenn sie an staatliche Träger gezahlt werden.

Bei internationalen Vergleichen kann das zu erheblichen Verzerrungen führen, weil nicht alle Sozialsysteme rein staatlich organisiert sind. In vielen Staaten spielen private Krankenversicherungen und Pensionskassen eine große Rolle, wie z.B. in der Schweiz, wo verpflichtende Beiträge an private Träger zu leisten sind, die in der Abgabenquote nicht aufscheinen. Das schränkt die Aussagekraft von offiziellen Abgabenquoten ein (zumindest bei internationalen Vergleichen).

Dabei gibt es viele Parallelen zwischen privaten und staatlichen Versicherungssystemen, insbesondere im Pensionsbereich. Im österreichischen Pensionskonto bspw. nimmt die Pensionshöhe mit den Beitragsgrundlagen zu und es gibt Zu- bzw. Abschläge für Pensionsantritte nach bzw. vor dem Regelpensionsalter, ähnlich wie in privaten Systemen. Auch im Gesundheitsbereich ist es schwer zwischen Staat und privat zu unterscheiden. In Systemen, wo bspw. nur eine Basiskrankenversicherung verpflichtend ist, fallen die Kosten für Selbstbehalte und Zusatzversicherungen entsprechend höher aus und umgekehrt. Die vergleichende Sozialstaatsforschung betrachtet deshalb auch private Elemente der sozialen Sicherung als selbstverständlichen Teil des jeweiligen „Welfare Mix“ (Béland und Gran 2008).

Die Bedeutung privater Versicherungssysteme am Beispiel der Schweiz

Ein gutes Beispiel für die Bedeutung privater Träger von Sozialversicherungssystemen sind die Kranken- und Pensionsversicherungen in der Schweiz.

  • Die Schweiz sieht eine verpflichtende Basisversicherung bei privaten Krankenversicherungsträgern in Form einer Kopfpauschale vor, die nicht in der offiziellen Abgabenquote erfasst wird. Laut OECD Health Care and Financing Statistics wenden die Schweizer:innen dafür jährlich ca. 4,6% des BIP auf. Da die Basisversicherung mit erheblichen Selbstbehalten bei konkreten Behandlungen verbunden ist, ist die große Mehrheit der Schweizer:innen privat zusatzversichert. Die Kosten dafür belaufen sich jährlich auf etwa 0,8% des BIP, jene für Selbstbehalte und privat angeschaffte Medikamente oder Heilbehelfe auf etwa 2,9% des BIP. Der OECD-Vergleichswert für Österreich liegt bei 2,7% des BIP.
  • Die Schweizer Pensionsvorsorge funktioniert (abgesehen von einer staatlichen Basispension) über private Pensionskassen (2. Säule). Bis zu einem Erwerbseinkommen von etwa 90.000 Euro sind (je nach Alter) obligatorische Beiträge zwischen 7 und 18% des „koordinierten Lohns“ zu leisten – je zur Hälfte getragen durch Arbeitnehmer:innen und Arbeitgeber:innen. Für Einkommen darüber kann der Arbeitgeber eine Vorsorge vorsehen (Überobligatorium). Daneben sind auch höhere Beitragssätze sowie Einmaleinlagen möglich. Die Zahlungen der Schweizer:innen zur 2. Säule sind nicht in der Abgabenquote erfasst und belaufen sich laut OECD Global Pension Statistics auf jährlich etwa 8,2% des BIP. In Österreich liegen diese Beiträge (Pensionskassen, prämienbegünstigte Zukunftsvorsorge) laut OECD bei nur 0,3% des BIP.

Auch Dänemark und Schweden haben starke quasistaatliche Pensionskassensysteme, die nur teilweise in der Abgabenquote erfasst sind. Die Pensionskassenbeiträge in diesen Ländern sind nicht gesetzlich, sondern kollektivvertraglich vorgegeben. Praktisch 100% der Beschäftigten sind in entsprechende Pensionskassenverträge integriert. In Österreich hingegen gibt es vergleichbare Beiträge an private Einheiten nur im Rahmen der „Abfertigung Neu“ durch die verpflichtenden Beitragszahlungen an Mitarbeitervorsorgekassen.

Ein besserer Vergleichswert: die Gesamtfinanzierungsquote

Wenn man die offizielle Abgabenquote um (quasi-)verpflichtende Sozialbeiträge an private Träger ergänzt, erhält man eine Gesamtfinanzierungsquote, die für internationale Vergleiche besser geeignet ist. Die notwendigen Daten für diese Ergänzung liefert Eurostat, die im nichtfinanziellen Sektorkonto der privaten Haushalte alle Sozialbeiträge erfasst, also auch jene, die an private Pensionskassen und Krankenversicherungen geleistet werden. Tabelle 1 zeigt die ergänzten Abgabenquoten für Dänemark, Deutschland, Schweden, die Schweiz und Österreich – fünf Staaten mit ähnlichen Sozial- und Lebensstandards – für den Durchschnitt der Jahre 2015-2020.

Es zeigt sich, dass die Berücksichtigung von Beiträgen zur Finanzierung sozialstaatlicher Leistungen außerhalb der offiziellen Abgabenquote in allen betrachteten Staaten die Finanzierungsbeiträge ansteigen lassen. Das gilt insbesondere für Dänemark und die Schweiz, wo die Beiträge zur privaten und betrieblichen Pensionsvorsorge erhebliche Summen erreichen; in der Schweiz kommt noch die private Krankenversicherung hinzu (siehe Grafik). In Österreich sind diese privaten Sozialbeiträge sehr gering; sie umfassen vor allem Beiträge an Pensionskassen und Mitarbeitervorsorgekassen und belaufen sich auf etwa 1% des BIP; freiwillige Beiträge an private Krankenversicherungen sind nicht inkludiert.

Dekoratives Bild © A&W Blog
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In Summe sind die ergänzten Abgabenquoten in Deutschland, der Schweiz und Österreich praktisch gleich hoch, jene von Schweden und Dänemark sind deutlich höher. Zu den schon deutlich höheren offiziellen Abgabenquoten in Dänemark und Schweden kommen noch relativ hohe private Sozialbeiträge hinzu. Im Falle von Deutschland und der Schweiz werden die Differenzen in den offiziellen Abgabenquoten zu Österreich etwa durch die privaten Sozialbeiträge kompensiert.

Diese Berechnungen könnten grundsätzlich noch um unterschiedliche Kostenanteile des privaten Sektors in anderen Staatsbereichen erweitert werden, beispielsweise in den Bereichen Verkehr (unterschiedliche Kosten von Fahrkarten im öffentlichen Verkehr) oder Bildung (unterschiedliche private Ausgaben für Bildung, z.B. in der Kinderbetreuung). Diese Übung liegt aber jenseits der Möglichkeiten dieser Untersuchung.

Fazit

Die offiziellen Abgabenquoten laut OECD und Eurostat beinhalten zwar alle in einer Volkswirtschaft abgeführten Steuern im engeren Sinn, Sozial(versicherungs)beiträge werden aber nur inkludiert, wenn sie an staatliche Einheiten abzuführen sind. Dies erschwert internationale Vergleiche, weil (quasi-)verpflichtende private Sozialversicherungssysteme in einigen Industriestaaten eine große Rolle spielen und es insbesondere in der Pensionsversicherung viele Parallelen zwischen staatlichen und privaten Sozialversicherungssystemen gibt. Eine Ergänzung der offiziellen Abgabenquote von Eurostat um an private Einheiten abgeführte Sozialbeiträge zeigt unter anderem, dass die insgesamt abgeführten Abgaben im Vergleich zum BIP in Österreich nur geringfügig über jenen in der Schweiz liegen.

Ein gut ausgebauter Sozialstaat – den alle in unserer Analyse umfassten Staaten haben – kostet also überall Geld, auch wenn die dafür zu entrichtenden Beitragszahlungen nicht zur Gänze in der offiziellen Abgabenquote erfasst sind.

Der Beitrag basiert auf einem längeren Fachartikel der Autoren veröffentlicht im SWK-Heft 31 (November 2022).