Hochwertige Statistiken haben in der Regel einen großen Nachteil: Die Erhebung und Aufbereitung der Daten nimmt viel Zeit in Anspruch und Ergebnisse sind oft erst Jahre später verfügbar. Somit erlauben erst jüngst veröffentlichte Daten einen umfangreichen Blick auf die soziale Lage während der COVID-19-Pandemie. Dabei zeigt sich vor allem eine Zunahme der Armutsbetroffenheit bei gleichzeitig sehr hoher Vermögenskonzentration, noch bevor die Teuerungskrise voll Fahrt aufgenommen hat.
Schnellboote und Tanker
Auch bei Statistiken gibt es wendige Schnellboote und schwere Tanker. Zur ersten Gruppe zählte in der COVID-19-Pandemie das von Wissenschafter:innen der Universität Wien aufgesetzte „Austrian Corona Panel Project (ACPP)“. Kaum zwei Wochen nach dem ersten Lockdown wurde diese Panelerhebung ins Leben gerufen und bis Februar 2023 in 34 Wellen durchgeführt. Die Ergebnisse konnten rasche erste Indizien zur Entwicklung der Haushaltseinkommen liefern. Bereits im April 2020 zeigten die ACPP-Daten einen Anstieg der Zahl jener Haushalte, die mit einem sehr niedrigen Haushaltseinkommen von unter 1.100 Euro pro Monat auskommen mussten. Bis September 2020 meldeten vermehrt auch Haushalte in der Mitte und am oberen Ende der Einkommensverteilung Einkommensverluste, besonders Selbstständige waren betroffen.
Im Sommer 2020 startete eine Kooperation rund um das Institut für Höhere Studien (IHS) eine weitere Panelstudie (AKCOVID), die auf die Auswirkungen von Kurzarbeit und Arbeitslosigkeit auf die finanzielle Situation von Haushalten fokussierte. Auch diese Auswertungen zeigen, dass vor Beginn der Krise noch weniger als 10 % der Haushalte schwer mit ihrem Einkommen zurechtkamen, sich dieser Anteil bis Juni 2020 aber verdoppelte und im Verlauf der Pandemie bis Jänner 2021 auf diesem hohen Niveau blieb. Dementsprechend groß war der Anteil der Befragten, die befanden, der Sozialstaat sei mit Beginn der Krise „viel wichtiger“ geworden: Er stieg von rund einem Drittel im Juni 2020 auf 40 % im Jänner 2021.
Ende 2021 ließ auch Statistik Austria ihr Schnellboot vom Stapel: den SILCExpress: „So geht’s uns heute“. Es ist das Beiboot des großen Tankers EU-SILC, der eine jährliche europaweite Stichprobenerhebung ist und die Grundlage für die international vergleichbaren Indikatoren zu Armut und Einkommensungleichheit in Österreich darstellt. Der SILCExpress ist hingegen eine kleinere quartalsweise durchgeführte Befragung mit Fokus auf Einkommensänderungen und finanzielle Schwierigkeiten. Im Frühjahr 2023 publizierte Statistik Austria schließlich die Ergebnisse aus dem EU-SILC 2022. Im Juni 2023 folgte die Oesterreichische Nationalbank mit ihrem Flaggschiff der Vermögensdaten, dem Household Finance and Consumption Survey (HFCS) 2021. Welches Bild über die soziale Lage in der COVID-19-Pandemie zeichnen die neu veröffentlichten Daten?
Armut hat zugenommen
Eine Tücke der EU-SILC-Daten muss gleich vorweggenommen werden: Manche Variablen zur Vermessung der sozialen Lage, etwa zur materiellen Deprivation, werden im Erhebungsjahr festgestellt, andere wichtige Variablen, etwa das Einkommen, gelten allerdings für den Vorjahreszeitraum. Der im April 2023 veröffentlichte SILC-Datensatz misst also die materielle Deprivation im Jahr 2022, aber die Armutsgefährdung anhand der Einkommen von 2021.
Aus der EU-SILC-Befragung werden drei Kennzahlen zur Armut erhoben. Die Armutsgefährdungsquote bezieht sich auf das Einkommen eines Haushaltes im Verhältnis zum Medianeinkommen. Liegt dieses unter der Armutsgefährdungsschwelle – im Jahr 2021 betrug diese 1.392 Euro pro Monat für einen Ein-Personen-Haushalt (12-mal jährlich und bezogen auf das Nettoeinkommen inklusive öffentlicher und privater Transfers) – so gelten der Haushalt und seine Mitglieder als armutsgefährdet. Während es in den Jahren vor der COVID-19-Krise einen sinkenden Trend in der Armutsgefährdungsquote gab, ist diese in der Krise wieder angestiegen. Im Jahr 2021 lebten 14,8 % der Bevölkerung, also 1,3 Millionen Menschen, unter der Armutsgefährdungsschwelle. 2020, im ersten Corona-Krisenjahr, waren es ähnlich viele, nämlich 14,7 %, vor der Pandemie (2019) noch 13,9 %. Da die Armutsgefährdungsquote ein relatives Maß ist und die Veränderungen daher meist gering ausfallen, ist der Anstieg um fast einen Prozentpunkt bemerkenswert groß.